Efeu - Die Kulturrundschau

Vor der besten Biene

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.12.2016. Schönheit und Oberfläche: Die Filmkritiker streiten über Tom Fords Thriller "Nocturnal Animals". Kunst und Nähe: Der Guardian sieht neue Bilder aus Anders Petersens Fotozyklus "Cafe Lehmitz". Genauigkeit und Seele: Die Welt erinnert an den Dichteringenieur Heimito von Doderer. Temperament und Risiko: Die Zeit blickt auf hundert Jahre Bauhaus.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.12.2016 finden Sie hier

Film



Der zweite Spielfilm "Nocturnal Animals" des Modedesigners Tom Ford ist ein Mysterythriller um die Leiterin eines Kunstmuseums, die ein Manuskript ihres Ex-Ehemanns erhält, das bei fortschreitender Lektüre mehr und mehr mit ihrer Vergangenheit zu tun zu haben scheint. In den Hauptrollen zu sehen sind Amy Adams und Jake Gyllenhaal. Patrick Holzapfel vom Perlentaucher fand das zwar "exquisit" anzusehen, doch davon abgesehen geht dem Film ziemlich die Puste aus: "Bis zur Farbe des Nagellacks ist alles eine Frage der Emotion und tatsächlich kann man Ford, der dem Film eine sinnlich-oberflächliche Grundhaltung überstülpt, nicht vorwerfen, dass er seine Douglas-Sirk-Lektion nicht gelernt hätte. Wenn man aber selbst in der Wüste das Gefühl hat, dass der Staub mit der Pinzette auf die Designerklamotten getupft wurde, stellt sich schnell ein merkwürdiges Gefühl ein."

Merkwürdige Gefühle hat bei diesem Film auch Dominik Kamalzadeh vom Standard: Ihn beschleicht nämlich zunächst einmal der Eindruck, "als hätte sich David Lynch mit Ulrich Seidl und John Waters zum Tête-à-Tête getroffen." Kurz: Hier regiert der Stil über die Substanz. "Das Los eines Ästheten, der sich in Posen gefällt? Mag sein. Doch ein Neo-Noir, der mit unheilvollen Atmosphären und Anmutungen operiert und mit luxuriösen Oberflächen Irritationen erzeugt, ist auch nicht zu verachten." Ganz ähnlich sieht das auch Daniel Kothenschulte in der FR. Michael Kienzl von critic.de filetiert unterdessen die verschiedenen Erzählebenen des Films, den man seiner Ansicht nach zwar durchaus als "Feier auf die Kraft der Kunst" einschätzen kann, "aber der gesamte Roman-im-Film wirkt dadurch wie ein Lehrbuch, das selbst unlautere Methoden in Kauf nimmt, um sein pädagogisches Ziel durchzuprügeln." Weitere Besprechungen in Tagesspiegel, taz, Artechock und FAZ.

Weiteres: Zum Tod von Michele Morgan schreiben Axel Veiel (FR) und Andreas Kilb (FAZ). Die SZ-Kritikerinnen und -Kritiker blicken aufs Kinojahr 2016 zurück. Und ZeitOnline kürt die besten Serien des Jahres, darunter "Stranger Things" und "Westworld".

Besprochen werden außerdem Jim Jarmuschs "Paterson" (NZZ), Robert Zemeckis' "Allied" (Welt, Tagesspiegel, taz, Artechock, mehr im gestrigen Efeu) und Gareth Edwards' neuer "Star Wars"-Film "Rogue One" (critic.de, unsere Kritik hier), der neue Disney-Film "Vaiana" (Standard) und die über Weihnachten auf Sky gezeigte Serie "Victoria" über die britische Königin gleichen Namens ("anstrengungslos konsumierbarer Historienkitsch", meint Ursula Scheer in der FAZ).
Archiv: Film

Kunst


Kleinchen and Rose with Mona, Café Lehmitz, 1970. Fotograf: Anders Petersen

Anders Petersens Fotobuch "Cafe Lehmitz" fing in den späten Sechzigern Jahren perfekt die Atmosphäre der Hamburger Reeperbahn ein und machte den schwedischen Fotografen berühmt. In Paris zeigt er jetzt bisher unveröffentlichte Bilder aus diesem Zyklus. Gleichzeitig ist ihm derzeit eine Retrospektive im MARTa Herford gewidmet. Im Guardian erklärt er Simon Bowcock, dass er für die Pariser Ausstellung "Café Lehmitz Revisited" Fotos von den Stammgästen ausgewählt hat, die am Rande der Gesellschaft lebten und an deren Geschichten er sich erinnert: "Cuxhaven teenager Mona and her striptease dancer friend Roxy; Ramona, who was once Karl-Heinz; a diseased man in his underwear, showing off his muscles. 'In another there is a woman - I don't remember her name - together with a man in a big hat. He was being very hard and rude to her. It was a horrible and upsetting situation. I was asking myself, should I really publish this? But I also have to show this side of life at the cafe. Not only the romantic things.'"


Bild links: "Untitled" von Tan Ping, 2016. Bild rechts: "Chinesisches Selbstporträt" von Luciano Castelli, 1986


Ziemlich verdutzt steht NZZ-Kritiker Philipp Meier im Helmhaus Zürich: Chinesische und Schweizer Bilder werden hier ausgestellt. Aber was ist was? "Im unteren Stockwerk, wo mit Luciano Castelli eine historisch gewichtige Nummer der schweizerischen figurativen Malerei mit Tan Ping auf den Vorreiter der Abstraktion in China trifft, ist die Sache noch einigermaßen überschaubar. Die Annahme geht davon aus, dass die chinesische Malerei traditionell gegenständlich sei. ... Aber auch der sozialistische Realismus war dem Figurativen verpflichtet. Umgekehrt gilt die Abstraktion als eine Errungenschaft der abendländischen Kunstgeschichte. Diese Vorstellungen werden durch die Zusammenführung der beiden Künstler durchkreuzt: Mit Castelli - und seinen Berliner Künstlerkollegen Rainer Fetting und Salomé - kehrte die westliche Kunst während der Jahre der Neuen Wilden zur gegenständlichen Malerei zurück. Und mit Tan Ping, der unter anderem im Westen studiert hat, wurde umgekehrt die Abstraktion in die chinesische Malerei eingeführt."

In der Berliner Zeitung annonciert Arno Widmann die Ausstellung "+ultra Gestaltung schafft Wissen" als "die interessanteste Ausstellung, die es seit langem gab in Berlin", im Martin Gropius Bau, um genau zu sein. Man muss aber mitarbeiten, warnt er. "Die hübsche Einteilung in Kultur und Natur wird hier zu Grabe getragen. Damit auch Marx' berühmte Bemerkung aus dem ersten Band des Kapitals: 'Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.' Das ist definitiv falsch."

Besprochen werden eine Ausstellung des Malers Niklaus Manuel im Bernischen Historischen Museum (NZZ) und die Ausstellung "Was übrig bleibt" 1001 Fotos von Sascha Weidner im Fotografie Forum Frankfurt (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

In der Welt erinnert Tilman Krause an den österreichischen Schriftsteller Heimito von Doderer, der morgen vor fünfzig Jahren gestorben ist. Im Kern dessen literarischen Schaffens verortet Krause "Genauigkeit und Seele: Das ist bei Heimito von Doderer der Standpunkt des Ingenieurs. Ein Typus, den Doderer zum geheimen Zentrum seines Werks macht. Er selbst war Nachkomme von Ingenieuren, und bei allem Widerstand gegen derlei Ableitungen - er sei kein Herkünftler, sondern ein Hinkünftler, pflegte er zu sagen - inszenierte er sich doch selbst als Ingenieur der Feder, als Dichteringenieur." Im Bayerischen Rundfunk liest der Schauspieler Peter Simonischek aus Doderers "Die Strudlhofstiege". Außerdem ist gerade ein neues Buch über Doderer erschienen - hier unsere Rezensionsnotizen. Im Perlentaucher hat Arno Widmann Eva Menasses Doderer-Biografie besprochen.

Weiteres: Der israelische Schriftsteller Nir Baram spricht im Interview mit der NZZ über seinen neuen Roman "Weltschatten" und über die poltische Lage der Linken in Israel: "Was ich interessant finde in unserer kapitalistischen Zeit, ist das mangelnde Verständnis dafür, was die Gesellschaft wirklich beeinflusst. Denken Sie an eine souveräne Gesellschaft wie Israel. Ich glaube, es gab noch keine historische Epoche, in der das Verständnis davon, welche Kräfte das eigene Leben beeinflussen, so vage war - denn diese Kräfte sind an vielen, oft weit entfernten Orten verborgen. Das gibt einem das Gefühl, man sei nicht in der Lage, politisch zu handeln. In Israel haben wir nun überall diese NGO-Kultur. Die NGO verfolgen ehrenwerte Ziele - und lähmen das politische Handeln."

Außerdem: In der NZZ erzäht der Schriftsteller Karl-Heinz Ott Weihnachtsgeschichten rund um unter anderem Robert Walser und George Washington.

Besprochen werden Catherine Meurisse' Comic "Leichtigkeit" (FR), Zora del Buonos "Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt" (taz), Tommy Wieringas "Das sind die Namen" (online nachgereicht von der FAZ), Oguz Atays "Die Haltlosen" (FAZ) und Paul McVeighs "Guter Junge" (SZ).

Mehr aus dem literarischen Leben auf:



Archiv: Literatur

Architektur

Die Zeit hat in in all ihrer nur ganz leicht klebrigen, stark mit Pfarrern versetzten Weihnachtsbesinnlichkeit Platz für eine kleine Beilage zu hundert Jahren Bauhaus gefunden. Wehmütig schreibt Hanno Rauterberg da: "Undenkbar, dass Ähnliches heute möglich wäre. Dass eine Vivienne Westwood, ein Martin Mosebach, ein Achille Mbembe, lauter unterschiedliche Temperamente, auch politisch verschieden, irgendwo in der Provinz zusammenkämen, vielleicht im peruanischen Puerto Maldonada oder im armenischen Wagharschapat, um über Jahre etwas zu erringen, von dem sie selbst nicht recht wissen, worauf es am Ende hinausläuft.

In dem Dossier schreibt Wolfgang Ullrich eine feinsinnige "Mythologie" der Wagenfeldleuchte: "Die Lampe hat sich zum Signal einer Gesinnung entwickelt, in der Herkunft und Zukunft gleichermaßen ernstgenommen werden."
Archiv: Architektur

Bühne

Nur "Phrasendrescherei" liest SZ-Kritikerin Christine Dössel in den Interviews, die der designierte Volksbühnenchef Chris Dercon und seine Programmleiterin Marietta Piekenbrock der FAZ und dem Tagesspiegel gab und höhnt über den "schönen neuen 'radical repertory'-Chic", der mit Chris Dercon über die Volksbühne kommen werde.

Besprochen werden Felix Praders Inszenierung von Gogols "Revisor" im Theater Kanton Zürich (NZZ), Thomas Ostermeiers Inszenierung von Arthur Schnitzlers "Professor Bernhardi" an der Berliner Schaubühne (FR) und Yuval Sharons Inszenierung der "Walküre" in Karlsruhe (FR).
Archiv: Bühne

Musik

Besprochen werden das neue Album von Glass Animals (SZ) und ein Auftritt von Sona MacDonald (Tagesspiegel).

NPR verkündet die Ergebnisse seiner jährlichen Jazzkritiker-Umfrage. Auf der Spitzenposition: Henry Threadgil Ensemble Double Up.

Archiv: Musik
Stichwörter: Glass Animals