Efeu - Die Kulturrundschau

Schauen statt handeln

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.12.2016. Die FAZ erklimmt ein riesiges Treppenhaus und blickt von oben auf ein infantilisierte New York und seine entmündigten Bürger. Die SZ lauscht in der Frankfurter Oper den dumpfen Trommelschlägen unseres Sprechens. Die NZZ erlebt in Bern, wie der Magier-Maler Paul Klee blinde Surrealisten sehen machte. Standard und taz bewundern in Wien die Naturmalerin Georgia O'Keeffe.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.12.2016 finden Sie hier

Architektur

David Childs baut in New York ein Hochhaus mit Luxusappartments, das über Tausende von Sensoren jede Bewegung der Bewohner registriert. Thomas Heatherwick plant dafür ein riesiges Treppenhaus, in dem sich die Leute bewegen sollen, weil sie sonst nur noch Autofahren. Für Niklas Maak in der FAZ ist diese Skulptur nicht nur ein gigantischer Papierkorb, sondern auch ein Symbol für Infantilisierung und Entmündigung der Bürger: "Das Stadtmobiliar, das als Verbesserung der Lebensqualität angepriesen wird, die Tausende von Zäunchen und Bänklein und Brunnen und Spielgeräte und Sandkisten und Kioske und Treppenhäuser sind auch als Stadtverhübschung getarnte Barrikaden. Schauen statt handeln, trainieren statt marschieren, sich verlaufen in einem bronzefarbenen Piranesi: Dass die Treppe von Manhattan als Bühne für Proteste genutzt werden könnte, das verhindert schon das Wildnislabyrinth zu ihren Füßen. Man verläuft sich in schönen Aussichten, statt sich zusammenzurotten." Mehr Bilder gibt es bei Dezeen.
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Film

Im Filmdienst schreibt Kirsten Taylor über das Kino der Brüder Dardenne, deren neuer Film "Das unbekannte Mädchen" seit einigen Tagen in den hiesigen Kinos läuft. Ebenfalls im Filmdienst führt Esther Buss durch die "Comedies of Manners" von Whit Stillmann. Zum Tod von Zsa Zsa Gabor schreiben unter anderem Jan Feddersen (taz), Marli Feldvoß (NZZ), Gerhard Midding (epdFilm) und Rainer Gansera (SZ). Der Standard bringt die besten Zitate der Diva. Besprochen wird ein Biopic über die Künstlerin Paula Modersohn-Becker (Standard).
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Bühne


Steve Reichs "The Cave" mit dem Ensemble Modern an der Frankfurter Oper. Foto: Barbara Aumüller

Sehr beeindruckt ist Helmut Mauró von Steve Reichs Minimal-Werk "The Cave", das die Frankfurter Oper mit dem Ensemble Modern aufführte. Für das Stück hat Reich mit seiner Frau Beryl Korot aus der Genesis und Koran ein Libretto collagiert, das provokant einfache Fragen umkreist: "Am Anfang mag das Wort gewesen sein, am Ende bleibt die musikalische Dimension der Sprache als ihr neuer Inhalt. Dies gelingt beinahe unmerklich und schließlich so perfekt, dass die Menschen, die eben noch sprachen, auf einmal zu singen scheinen. Es ist das gleiche Material, das in neuem Klang- und Rhythmuskontext in eine andere Materialität mutiert. ... Dumpfe Trommelschläge und swingende Marimbaphone wühlen in den Tiefenschichten des Sprechens, während gleichförmig gehackte Tastaturgeräusche die Bibelgeschichten metrisch zurichten."

Weiteres: Nach etlichen Absagen hat nun auch Alvis Hermanis' angekündigt, 2018 in Bayreuth nicht den "Lohengrin" zu inszenieren. Im Tagesspiegel fragt Frederik Hanssen: "Was hat Katharina Wagner, was andere nicht aushalten können?". Eher bedauernd beobachtet Manul Brug in der Welt wie sich Primadonna Renée Fleming vom Opernolymp verabschiedet und zum Ende ihrer Karriere in die niederen Sparten des Fachs hinabsteigt.

Besprochen werden Verdis "Luisa Miller" in Kassel mit einer "wunderbare Nicole Chevalier" in der Titelpartie (FR), Händels "Hercules" im Nationaltheater Mannheim (FR), Bastian Krafts Visconti-Adaption "Ludwig II." in Wien (Welt) und Thomas Ostermeiers Inszenierung von Arthur Schnitzlers "Doktor Bernhardi" an der Berliner Schaubühnen (FAZ).
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Literatur

Im Tagesspiegel bietet Gerrit Bartels einen Ausblick auf die Martin-Walser-Festspiele, die sich im kommenden Jahr dank eines neuen Romans des Schriftstellers und dessen 90. Geburtstag bieten werden. Außrdem meldet Bartels, dass Hoffmann & Campe mit seinem neuen Imprint Tempo an die Glanzzeiten der gleichnamigen, in den 80ern populären Zeitschrift anknüpfen will. Vor 25 Jahren erschien Katsuhiro Otomos SF-Manga "Akira" und legte den Grundstein für die hiesige, bis heute anhaltende Mangawelle, erinnert Lars von Törne im Tagesspiegel. Und viel Lesestoff für Science-Fiction-Freunde: Wired hat für eine "Fiction Issue" zahlreiche Genre-Autorinnen und -Autorinnen verpflichten können, eine Geschichte über jeweils eine "plausible Innovation" zu schreiben, schreibt Scott Dadich im Editorial.

Besprochen werden unter anderem Fouad Larouis "Das Leiden des letzten Sijilmassi" (taz), Amanda Lee Koes Kurzgeschichtenband "Ministerium für öffentliche Erregung" (NZZ), Nathan Hills "Geister" (Zeit), Volker Kutschers "Lunapark" (Welt), Jörg Späters Biografie über den Feuilletonisten und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer (online nachgereicht von der Zeit), Jutta Voigts "Stierblutjahre" (Tagesspiegel), Arnold Stadlers "Rauschzeit" (FAZ) und Jarett Kobeks "Ich hasse dieses Internet" (SZ).
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Musik

Sehr zufrieden berichten Marco Frei (NZZ) und Max Nyffeler (FAZ) von der Musica Viva in München. Die Zeit hat Christoph Dallachs Gespräch mit Michael Stipe und Mike Mills über deren vor fünf Jahren aufgelöste Band R.E.M. online nachgereicht. Außerdem spricht Dallach mit Kate Bush und an dieser Stelle mit Mick Jagger.

Besprochen werden eine Neuauflage von John Cales "Fragments of a Rainy Season" (Standard) und ein Konzert von Isolation Berlin (Tagesspiegel). Und hier die Lieblingsalben des Jahres der Spex-Kritiker.
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Kunst


Georgia O'Keeffe, Black Mesa Landscape, New Mexico / Out Back of Marie's II, 1930, Georgia O'Keeffe Museum/ Kunstforum Wien

Das Kunstforum Wien übernimmt die große Schau zum Werk von Georgia O'Keeffe, die zuvor bereits in Londons Tate Modern zu sehen war. Zur Freude von taz-Kritikern Annegret Erhard: "Von jeher war ihr Anliegen die Überführung der amerikanischen Landschaft, des Naturerlebens in die Abstraktion. Diese genuin amerikanischen Solitäre sollten den Fokus von der Dominanz europäischer Ismen auf das Potenzial der im besten Wortsinn nationalen Schaffenskraft samt dazugehörigen motivischen Eigenheiten lenken. Gleichzeitig lotete sie die Grenzen der minimalistischen Hard-Edge-Malerei aus, suchte nach einem malerischen Weg das Bild hinter dem Bild, den Raum hinter der Tür aufscheinen zu lassen."

Im Standard verweist Roman Gerold auch auf die zweischneidige Rolle, die Alfred Stieglitz für O'Keeffes Rezeption spielte, indem er immer wieder auf die 'psychoanalytische Dimension' und die 'weiblichen Formen' hinwies. "Die Künstlerin reagierte mit realistischen Blumenbildern, für die sie sich bahnbrechenderweise die Bildsprache der zeitgenössischen Fotografie aneignete. Sie malte Nahaufnahmen, schuf Gemälde, in denen sich Monumentalität und Intimität verbinden, dem Unscheinbaren große Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die sexuell aufgeladene Interpretation ihres Schaffens konnte sie so aber nicht abschütteln."


Paul Klee, Vogel = Inseln, 1921, Zentrum Paul Klee, Bern

Ausgesprochen schön findet Philipp Meier in der NZZ die Schau im Zentrum Paul Klee, die den Maler in seinem Verhältnis zu den Surrealisten zeigt: "Traum, Kosmos, Vision - Lieblingsbegriffe der Surrealisten - lassen sich bei Klee leicht festmachen. In ihm sahen neben den Künstlern auch die surrealistischen Schriftsteller die Initialzündung, die sie dringend benötigten, um sich neu zu erfinden. 'Dank ihm sind wir Blinde, die sehen', schrieb der Dichter Philippe Soupault, Roger Vitrac sprach vom 'Magier-Maler' Klee, und Robert Desnos meinte gar: 'Klee führt uns in das entfernteste Land, das je ein Maler sich ausgedacht hat.' Die Begeisterung für Klee war natürlich eine Vereinnahmung. Was Klee in seiner Entrücktheit am Bauhaus im fernen Weimar und Dessau, später wieder in Bern, aber nicht sonderlich störte. Paris verschlang ihn, Klee konnte das nichts anhaben."

Besprochen werden die Hans-Hoffmann-Ausstelling "Creation in Form and Color" in der Kunsthalle Bielefeld (FAZ) und eine Schau des Bildhauermeisters Tilman Riemenschneider im Bayerischen Nationalmuseum in München (SZ).
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