Efeu - Die Kulturrundschau

Interessante Sachen mit dem Stab

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.12.2016. Der Komponist Edu Haubensak gleitet mit der Musik seines Kollegen Gérard Grisey in den Hades, dorthin wo selbst das Echo erstirbt. Die taz staunt über die Reportagen von Jace Clayton alias DJ/rupture, der als musikalischer Humboldt-Reisender den Globus bereist. In der Berliner Zeitung plädiert Ulrich Khuon, Intendant am Deutschen Theater,  für einen Paradigmenwechsel an der Volksbühne - auch wenn Chris Dercon vielleicht nicht der Richtige dafür sei. Domus besucht eine Mailänder Ausstellung über die Entwicklung der abstrakten Moderne in Osteuropa. Das Art Magazin stellt den Fotografen Oliver Hartung vor.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.12.2016 finden Sie hier

Kunst


Oliver Hartung, aus der Serie: "Iran - A Picture Book". Foto: © Oliver Hartung

Erst Amerika, dann der Nahe Osten: Jahrelang war der Fotograf Oliver Hartung unterwegs, um in den jeweiligen Ländern den öffentlichen Raum zu dokumentieren, wie man derzeit in einer Ausstellung im Kunstverein Tiergarten sehen kann. Im Interview mit dem art Magazin erklärt er sein Konzept: "Meine ersten Reisen im Mittleren Osten 2007 erfolgten im Anschluss an ein Projekt über die USA unter Bush, 2004. Sie brachten unter anderem die Erkenntnis, dass es in beiden Regionen Orte und Bilder gibt, die sich sehr ähnlich sind, aber durch den Kontext gegensätzlich interpretiert werden. Schwäche und Stärke der beiden Regionen ergeben sich zum Teil auch durch die unterschiedliche mediale Präsenz und die Kontrolle über die Bilder. Unsere Wahrnehmung der Welt wird über Bilder gesteuert. Mein erster Ansatz bestand darin, die Bildsprache amerikanischer Vorbilder, wie etwa Shore, Sternfeld, Eggleston und Friedlander auf arabische Länder zu übertragen."

Perlentaucher Thierry Chervel bespricht in seinem "Fotolot" das Buch "Intermission II" des früh verstorbenen Fotografen Sascha Weidner: "Weidner nannte sich selbst einen Romantiker und hatte genug romantische Ironie parat, um bis zur Sentimentalität gehen zu können. Am schönsten, wenn auch ein bisschen kryptisch, sagte er es in einem Interview mit Fridey Mickel vom Exberliner: "Kann sein, dass ich es war, der dieses Bild aufnahm, aber das heißt nicht, dass es mir gehört. Ich war nur der, der fähig war, es zu sehen. Ich muss die Blumen nicht pflücken, die Fotografie lässt sie dort stehen.

Gibt es wirklich Kunst auf Instagram? Oder nur Schnappschüsse von Möchtegern-Fotografen? Selbstverständlich beides, meint die Kunsthistorikerin Anika Meier in ihrem Blog bei Monopol und stellt die interessantesten Fotografen auf Instagram vor. Zum Beispiel Piero Percoco: "Er lebt und fotografiert im Süden von Italien, wie Fotografen, die er aus Magazinen und Fotobüchern kennt. Andreas Gursky, Martin Parr und die New Color Photography der siebziger Jahre lassen grüßen. Auch hier: Wenige und klar komponierte Bildelemente, damit den Betrachter vor dem kleinen Bildschirm Details nicht ablenken und eine schnelle Rezeption möglich ist."

Weitere Artikel: Homa Khaleeli unterhält sich für den Guardian mit Celine Marchbank über deren Fotoband "Tulip", ein Fotojournal über die letzten Monate ihrer krebskranken Mutter. In der SZ rollt Kai Strittmatter den Krach um die Anselm-Kiefer-Ausstellung in China auf (mehr hier). Und dann noch Lebenskunst: Dieter Meier denkt beim Rasieren darüber nach, was er heute anzieht (NZZ). 

Besprochen werden die Retrospektive "Pichler - Radikal: Architektur & Prototypen" im Salzburger Museum der Moderne (Standard), die Ausstellung "Renaissance and Reformation: German Art in the Age of Dürer and Cranach" läuft im Los Angeles County Museum of Art (Welt) und die große Cy-Twombly-Werkschau im Centre Pompidou (DRadio Kultur, Guardian).
Archiv: Kunst

Film


Verzweiflung und Ohnmacht: Mit Ulrich Seidl auf "Safari".

Ulrich Seidls Dokumentarfilm "Safari" über Jagdtourismus liegt Jenni Zylka von der taz schwer im Magen: Der kontroverse Stoff des Films, vom Regisseur wie zu erwarten ohne Distanz umarmt, sorgt zwar "in seiner Ambivalenz für gesunde Diskussionen", doch bleibt ihr "ein Nachgeschmack des Sensationalistischen". Bereits im September hatte Patrick Holzapfel den am 8. Dezember startenden Film im Perlentaucher besprochen. Sein Fazit: Der Film offenbart "am Ende, dass es nicht bloß um Themenkino geht, sondern um eine Verzweiflung, eine Ohnmacht, in der die Dokumentation eine Fiktion geworden ist und die grausame Fiktion schon lange dokumentiert werden kann."
     
So aufregend wie einst ist das schwule und queere Kino auch schon länger nicht mehr, vielmehr hat sich ein gewisser ästhetischer Biedersinn in der Nische breitgemacht. So zumindest die auf critic.de formulierte These von Michael Kienzl, der sich im schwulen Kino - aber auch im Diskurs darum - schon länger nicht mehr recht wiederfindet: "Queer sollte nicht nur ein schickes Synonym für schwul, lesbisch oder trans sein, sondern wörtlicher genommen werden, alles vereinen, was von einer tradierten Vorstellung von Heterosexualität abweicht und sich dabei vor allem auf das Eigenartige, Sonderbare und Verrückte konzentrieren... Es ist schon ein wenig paradox, dass ausgerechnet ein Wort, das für eine größtmögliche Unbestimmtheit und Offenheit steht, im Bereich des Kinos zu einem Label geworden ist, das derart normierte Filme bezeichnet."

Weiteres: In der SZ porträtieren David Steinitz und Tobias Kniebe die Hollywoodproduzetin Kathleen Kennedy, die mit ihrer Chefposition bei Lucasfilm zu den mächstigsten Personen des US-Kinos zählt. Als Krimi taugt der Tatort an diesem Sonntag zwar mal wieder gar nicht, doch dass darin mit Eva Matthes, Irm Hermann, Margit Carstensen und Hanna Schygulla die großen Fassbinder-Schauspielerinnen endlich wieder einmal gemeinsam vor der Kamera stehen, findet Barbara Möller in der Welt schon "großartig". In einer "Langen Nacht" befasst sich Deutschlandradio Kultur mit der Darstellung von Geschichte im Film. Filmhistoriker Klaus Kreimeier berichtet in der Filmgazette von einem "magischen Moment" in Charles Laughtons "Die Nacht des Jägers". Diese in der Tat fantastische Szene kann man auch auf Youtube sehen:



Besprochen werden Florian Eichingers Film "Die Hände meiner Mutter" über einen von seiner Mutter sexuell missbrauchten Mann (Welt) und die mit erheblichen Jahren Verspätung nun endlich auch in Deutschland gezeigte BritComedy-Serie "Black Books" über einen grandios schlecht gelaunten Buchhändler (FAZ).
Archiv: Film

Literatur

Der Schriftsteller Juan Pablo Villalobos erklärt im Interview mit der taz, welche Rolle Theodor W. Adornos "Ästhetische Theorie" für seinen Roman "Ich verkauf dir einen Hund" spielte: Bei der Lektüre dieses Buchs kamen ihm "alle Ideen zu dem Roman: Ein alter Mann, der sein Exemplar der 'Ästhetischen Theorie' wie eine Waffe mit sich herumschleppt und damit Kakerlaken erschlägt. Die Respektlosigkeit dieser Figur, in der Adornos Forderung anklingt, die Kunst nicht als etwas Erhabenes, sondern in Beziehung zum Leben zu begreifen. Teo ist ein Schriftsteller, der keinen Roman ­schreiben will, aber der schreibt - gegen die Literatur, aber aus Liebe zur Literatur. Ein Paradox."

Im literarischen Wochenendessay dokumentiert die FAZ die von der Schriftstellerin Annette Pehnt gehaltene Laudatio auf Ror Wolf, der mit dem Schiller-Gedächtnispreis ausgezeichnet wurde. In dessen Werk erblickt sie die "erschriebene Geografie unserer Gegenwart. Das Gelände wird immer wieder neu vermessen, aber es hat nicht an Schrecken verloren und auch nicht an Schönheit."

Weiteres: Im Freitext-Blog setzt sich Feridun Zaimoglu in Ost und West der nationalen Randale aus: "Und also sitz auch ich bald in der Eckkneipe, ich wühl mich wohl unter müffelnden dicken Mackern in Steppwesten, die mich anglotzen, als würde mir eine fette Forelle aus dem Mund hängen, und als sie aber sehen, dass ich das Essen wie ein Schwein grunzend reinschaufele, sind sie beruhigt."  In der NZZ schreibt Werner von Koppenfels über Thomas Mores Buch "Utopia", das vor 500 Jahren erschienen ist. In der tell-Reihe mit anlasslosen Empfehlungen jenseits der Tagesaktualität legt uns Paul Hohn Warlam Schalamows mehrbändige Reihe "Erzählungen aus Kolyma" ans Herz.

Besprochen werden Haruki Murakamis "Von Beruf Schriftsteller" (SZ), Max Bronskis Krimi "Der Pygmäe von Obergiesing" (Welt), Corinna Belz' Dokumentarfilm "Peter Handke - Bin im Wald. Kann sein, dass ich mich verspäte" (Filmgazette) und Siegfried Lenz' "Es waren Habichte in der Luft", mit dem Hoffmann und Campe die kommentierte Werkausgabe des Autors beginnt (FAZ). Außerdem gibt es eine neue Ausgabe des LitMag - hier alle Rezensionen im Überblick.

Mehr aus dem literarischen Leben auf: 


Archiv: Literatur

Musik

In einem großen NZZ-Essay umkreist der Komponist Edu Haubensak das Werk seines Kollegen Gérard Grisey, der mit seinen Erkundungen der Obertöne der "Musique Spectrale" zugerechnet wird. Im Mittelpunkt von Griseys Musik steht "die Komprimierung und Dehnung von Zeit", stellt Haubensak dabei fest und illustriert dies insbesondere an der Komposition "Quatre chants pour franchir le seuil", die aus antiken und archaischen Quellen schöpft: "Wie auf einem Zeitfloß gleitet man dahin - metaphorisch gesprochen steigt man ab in den Hades, an diesen ultimativen Ort, wo selbst das Echo erstirbt. Die langanhaltenden Töne mit dem fallenden Dreiviertelton-Intervall im dritten Satz sind von unglaublich starker Wirkung - das klassische 'Seufzermotiv' in der zeitlichen Augmentation! ... Die zahlreichen Intermezzi in seinen Werken, die Klangpassagen mit perkussiv körnigen oder gewischten Tremoli sind eine Annäherung Griseys an das Thema der ewigen Zeit." Mit dieser Aufnahme wagen wir den Schritt aufs nächste ablegende Zeitfloß:



SZler
Egbert Tholl staunt über die fantastische Karriere der Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die mit ihren dreißig Jahren das renommierte City of Birmingham Symphony Orchestra bestens im Griff hat (hier ein Konzert in voller Länge). In ihr sieht er auch eine Vorreiterin und Anzeichen dafür, das sich im notorisch männlichen Dirigentenklüngel endlich auch die Frauen ihre Position erobern. Und sowieso "ist [es] eine reine Freude, Mirga Gražinytė-Tyla beim Dirigieren zu beobachten. Feuert sie den stürmischen Chor an, dann erinnern ihre reine Energie verströmenden Bewegungen an die ihres Kollegen Kirill Petrenko. Nur ist sie noch viel zierlicher als der. Sehr aufrecht steht sie am Pult und macht immer wieder interessante Sachen mit dem Stab, streckt den rechten Arm waagerecht nach vorne und malt kleine Kringel."

Julian Weber staunt unterdessen in der taz über die Essays und Reportagen von Jace Clayton alias DJ/rupture, der als musikalischer Humboldt-Reisender den Globus bereist und nun von seinen Fundstücken und Erlebnissen an der globalen Peripherie in einem Buch berichtet: "Während Pop in Marokko durch die Digitalisierung floriert, ist die Musikindustrie im Westen genau deshalb in die Krise geraten", erfährt Weber beispielsweise. Überhaupt "wirft [Clayton] Schlaglichter auf Szenen jenseits des Hipness-Radars." Auf Youtube gibt es einen Vortrag von Clayton über globale Musik und Digitalkultur:



Weiteres:  Für die Spex spricht Kristina Kaufmann mit der Musikerin NAO. Die Salzburg Biennale für Neue Musik wird eingestellt, meldet der Standard. Dieter Meier von Yello berichtet in der NZZ von seinem Morgenritual bei der Einkleidung.

Besprochen werden das Berliner Konzert von Jóhann Jóhannsson (Das Filter, ein Ausschnitt daraus im VIdeo unten), eine Zusammenstellung der Singles von Sun Ra (Pitchfork), ein Konzert von The Pop Group in Berlin (taz), das Album "Optische Täuschung" von Fraktus II (Standard) und eine Kinodokumentation über den Sänger Mohammed Assaf (FR).


Archiv: Musik

Bühne

Im Interview mit der Berliner Zeitung macht sich Ulrich Khuon, Intendant des Deutschen Theaters in Berlin, ausgewogene Gedanken über die Allmacht der Intendanten an Deutschen Theatern, aber auch über den Streit um Matthias Lilienthal in München und Chris Dercon in Berlin. Zum Streit um letztere meint er: "Lederer ist von der Personalie Dercon nicht begeistert. Nur, was dann? Die alte merkwürdige tolle Volksbühne kann man nicht wiederbeleben. Man müsste sie neu erfinden, aber wie? Im Grunde ist ein Paradigmenwechsel, wie er mit Dercon versucht wird, gar nicht schlecht, aber in der Volksbühne sind 250 Mitarbeiter beschäftigt. Welche Vision hat man für sie? Wie geht man mit so einem Haus um? Ich glaube, davon hat Dercon keine klare Vorstellung."

Weitere Artikel: In der NZZ schreibt der Politologe und Wagner-Forscher Udo Bermbach über den Freiheitsbegriff in der Oper. Nachrufe auf die Schauspielerin und Sängerin Gisela May finden sich in der Welt, in der Berliner Zeitung, im Tagesspiegel und in der FAZ.

Besprochen werden die deutsche Erstaufführung von "Nkenguégi", einem Stück des kongolesischen Autors, Regisseurs und Schauspielers Dieudonné Niangouna im Frankfurter Mousonturm (nachtkritik, FAZ), Thomas Bo Nilssons Horror-Installation "JINXXX" am Schauspielhaus Wien (nachtkritik) und Michael Schottenbergs Inszenierung von Nestroys "Mädl aus der Vorstadt" (Presse, Standard) im Theater in der Josefstadt.
Archiv: Bühne

Architektur

Eine Ausstellung in Mailand - "Non-Aligned Modernity" im FM Centro per l'arte contemporanea - zeigt gerade, wie die abstrakte Moderne sich in Osteuropa zwischen den 1950ern und den 1980ern zu offiziellen Kunstsprache mauserte. Giusy Checola stellt die Ausstellung auf domus: "The former Yugoslavia may have been the first Soviet bloc area to elevate abstract Modernism to almost official status in a cultural climate dominated by Socialist Realism but the Eastern Europe redesigned by the "Non-Aligned Modernity" exhibition ... is an extensive cultural geography with blurred boundaries. This rhizomatic network expanded east and west of the Iron Curtain with artists often working via mobile posters and mail-art, activating networks and relational spaces that are today prevalent in our everyday lives such as Andrzej Kostołowski and Jarosław Kozłowski's NET (1971)."

Außerdem: Die Zeit hat Hanno Rauterbergs Kritik am geplanten Museum des 20. Jahrhunderts online gestellt.
Archiv: Architektur