Efeu - Die Kulturrundschau

Jahrhundertfehler, Jahrhundertgeschenk

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01.12.2016. Reflektierter Blockbuster oder Weihnachtsmärchen für weiße alte Männer - die Filmkritiker streiten über Clint Eastwoods Hommage an den Piloten "Sully". Die NZZ bewundert Herrn Juhls Sinn für Farben. Die Zeit rammt das von Herzog & de Meuron geplante Museum des 20. Jahrhunderts in den Boden: risikoscheu, bräsig und den öffentlichen Raum vernichtend. Die Presse legt ein Ei in einer kleinen Ausstellung des Urheberrechtsanwalts und Konzeptkünstlers Guido Kucsko.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.12.2016 finden Sie hier

Film








Mit "Sully" hat Clint Eastwood eine Hommage an den Piloten Charles Sullenberger gedreht, der 2009 ein über New York abzustürzen drohendes Flugzeug sicher und ohne Tote auf dem Hudson River notgewassert hat. Das obligatorische behördliche Ermittlungsverfahren im Anschluss zur Klärung der Sachlage nutzt Eastwood als Meditation über den Helden im post-heorischen Zeitalter - was die Filmkritik sehr ansprechend findet. Maurice Lahde von critic.de etwa gefällt es sehr gut, "inmitten der großen Gereiztheit dieser Tage (...) noch einmal Zeuge eines intakten und kooperativen Amerika zu werden" Eastwood "nimmt eine Figur, die im grellsten Scheinwerferlicht steht, und dreht langsam das Licht über ihr aus", schreibt ein ebenfalls sehr begeisterter Philipp Stadelmaier in seiner gestern in der SZ erschienenen Kritik.

Peter Körte lobt in der FAS nicht zuletzt das Timing der Katastrophen-Montage, bei der Eastwood ein angenehm ruhiges Händchen an den Tag legt: Im Vordergrund steht "keine hyperaktive Blockbuster-Montage, sondern eine souveräne, sehr physische Darstellung. ... Man stellt wieder einmal fest, dass Clint Eastwoods ästhetische Haltungen ungleich reflektierter sind als seine politischen Meinungen." Felix Zwinscher rammt diesen "passiv-aggressiven" Film in der Welt unterdessen ziemlich in den Boden: "Ein Weihnachtsmärchen für weiße alte Männer, die sich von der heutigen Welt missverstanden fühlen." Weitere Besprechungen in Berliner Zeitung und NZZ.

Weiteres: Fabian Tietke empfiehlt in der taz die Reihe "Elektrizität und Enthusiasmus" im Berliner Zeughauskino, die sich mit dem sowjetischen Kino nach der Oktoberrevolution befasst.

Besprochen werden Frantisek Vlácils "Marketa Lazarová" (critic.de, taz, mehr dazu im gestrigen Efeu), Anna Foersters "Underworld: Blood Wars" (taz), Florian Hoffmeisters Verfilmung von Katharina Hackers Roman "Die Habenichtse" (taz), Roberto Andòs Politthriller "Le confessioni" (NZZ), Mike Cahills auf Heimmedien veröffentlichter SF-Film "I Origins" (taz) und das Biopic "Marie Curie" von Marie Noëlle, das SZ und FAZ gleichermaßen enttäuscht.
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Architektur


Der Entwurf von Herzog & de Meuron. Foto: Modellfoto © Herzog & de Meuron, Winfried Mateyka. Mehr zum geplanten Museum auf der Webseite der Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Monströs groß, dämpfend und risikoscheu, den öffentlichen Raum um das Berliner Kulturforum vernichtend - Hanno Rauterberg hält in der Zeit nicht hinterm Berg mit Kritik an dem geplanten neuen Museum des 20. Jahrhunderts von Herzog & de Meuron: "Mehr als doppelt so groß wie die Nationalgalerie, belagert der Neu­bau auf bräsige Weise das Zentrum des Ensem­bles und drängt alles andere an den Rand. Die Offenheit des Kulturforums, der fließende Raum, der in den Nachkriegsjahren als Verhei­ßung auf eine befreite Gesellschaft begriffen wurde, wird endgültig zubetoniert." Rauterberg plädiert dafür, endlich die Piazetta vor dem Kulturforum neu zu gestalten und die Potsdamer Straße zu untertunneln, die das Forum von Staatsbibliothek und Potsdamer Platz trennt. "Noch sind die Gelder vom Bundestag nicht freigegeben, noch hätte ein neuer Stadtbaudirektor die Chance, den Jahrhundertfehler zu verhindern - um etwas möglich zu machen, das alle Welt als Jahr­hundertgeschenk bewundern könnte."
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Design

Mit großem Gewinn liest Karin Leydecker (NZZ) Anne-Louise Sommers Monografie über die Aquarelle des dänischen Designers Finn Juhl: In einer Zeit, da das Design in Nordeuropa zum asketischen Funktionalismus tendierte, liebte Juhl aufgehende Formen und Farben, erfahren wir. Zu entdecken gibt es in diesem Buch einen "Kosmos gestalterischer Leidenschaft und das schöpferische Talent eines genialen Koloristen, der mit wolkiger Wasserfarbe seinen organischen Möbelentwürfen einen unverwechselbaren Charakter schenkte. ... Jedes Rendering von heute verblasst vor der nuancierten Farbbrillanz dieser Aquarelle."
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Literatur

Besprochen werden Michael Krügers "Das Irrenhaus" (NZZ), Roger Willemsens posthumes Bändchen "Wer wir waren" (Tagesspiegel), Igorts Comic "Berichte aus Japan - Eine Reise ins Land der Zeichen" (taz), David Wagners "Ein Zimmer im Hotel" (ZeitOnline), Gerald Kershs "Die Toten schauen zu" (FR), Max Bronskis Krimi "Der Pygmäe von Obergiesing" (Welt), Anneke Brassingas Gedichtband "Fata Morgana, dürste nach uns!" (SZ) und Haruki Murakamis Essaysammlung "Von Beruf Schriftsteller" (FAZ).

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Kunst

Wie Protest in Rituale umschlägt, das lernt Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) in einer Berliner Ausstellung des Fotojournalisten Julian Röder, der jahrelang Protestbewegungen bei politischen Gipfeltreffen begleitete:  "Der junge Fotograf, den offensichtlich nichts so sehr interessiert wie das  - serielle, ergo zusammenhängende - Sichtbar-Machen eigentlich eher unsichtbarer Machtstrukturen in kapitalistischen Gesellschaften und von parallelen Welten, kann  in Bild und auch mit eigenen Worten berichten, wie im Laufe der Jahre die Protestaktionen zunehmend ins Leere liefen. ... Was jetzt im Haus am Waldsee, in Röders großer Ausstellung 'Recht und Raum' meist großformatig an den Wänden hängt, zeigt  von alledem aber vornehmlich erstarrte Verhaltensregeln."

Almuth Spiegler steigt für die Presse hinauf ins City-Loft-Atelier des Urheberrechtsanwalts und Konzeptkünstlers Guido Kucsko, der dort eine kleine Schau zeigt, die von Wittgenstein inspiriert ist: "eine leere schwarze Tafel und daneben, in einer Vitrine, ein Zettel, auf dem steht: 'Auf dieser Tafel habe ich (...) die weiße Umrisslinie eines Eies (...) gezogen, ohne mit der Kreide die Tafel zu berühren.' Ha! Sehen Sie das Ei? Sehen Sie dem eigenen Gehirn dabei zu, wie es dieses Ei konstruiert? Ist es da? Oder nicht? Hat er tatsächlich? Oder nicht?" Und ist es urheberrechtsgeschützt?

Besprochen werden außerdem die Cornelia-Schleime-Retrospektive in der Berlinischen Galerie (Tagesspiegel), die Ausstellung "Dancing with Myself. Selbstporträt und Selbsterfindung aus der Sammlung Pinault" im Essener Folkwang Museum (FAZ, SWR 2), die Ausstellung "Fortsetzung folgt. 150 Jahre Verein der Berliner Künstlerinnen" in der Camaro Stiftung in Berlin (taz) und die Fritz-Schwegler-Schau in der Kunsthalle Mannheim (SZ).
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Bühne

Intendant Arnim Petras will seinen Vertrag mit dem Stuttgarter Schauspielhaus nicht verlängern. Aus persönlichen Gründen, erklärt er im Interview mit der nachtkritik. Mit der Kritik an seiner Arbeit hat es also nichts zu tun, auch wenn er die Zeitungen für die rückgängigen Zuschauerzahlen mitverantwortlich macht: "Absolut. Wie damals bei 'Tod eines Handlungsreisenden', eine Produktion, die das Publikum liebt, und jetzt wieder bei 'Lolita'. Da gab es neben euphorischen Besprechungen einen sehr harten Verriss, und da bleibt das Publikum weg. Ich kenne das aus meiner Zeit in Kassel. Eine schlechte Kritik in der Lokalzeitung bedeutete ein leeres Haus."

Weiteres: Manuel Brug berichtet in der Welt selig vom Opernfestival im irischen Wexford. Besprochen werden Schostakowitschs "Lady Macbeth von Mzensk" in München (FR) und Verdis "Don Carlo" am Opernhaus Zürich (NZZ).
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Musik

Im Tagesspiegel ist Rüdiger Schaper immer noch enttäuscht, das Bob Dylan nicht nach Stockholm reist. Konzerte können es jedenfalls nicht sein, die Dylan davon abhalten, hat Schaper herausgefunden, der die Absage des Künstlers für eine verpasste Chance hält: Was hätte Dylan der Weltöffentlichkeit bei dieser Gelegenheit nicht ins Gewissen reden können! "Das alte Lied: Dylan schweigt, da kann die Welt untergehen. ... Wenn er sich für Gott hält, dann ist es gut; von der Seite kommt auch wenig zur Lage in der Welt. Dylan, die Sphinx, der Abgewandte, das kennt man. Doch diesmal schmerzt die Enttäuschung."

Weiteres: In der NZZ erzählt Ueli Bernays, wie sich Motown und Marvin Gaye einst entzweiten. In der Spex plaudert Nina Prader mit Prince Rama, die eine akzelerierte Kunst-Philosophie mit Pop, Leistungssport und Kapitalismuskritik verbinden. Und Kristina Kaufmann annonciert das Berliner Festival "Heroines of Sound", das sich mit Frauen in der avantgardistischen und elektronischen Musik befasst.

Besprochen wird ein Konzert von Cecilia Bartoli und Les Musiciens du Prince in Wien (Standard).
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