Efeu - Die Kulturrundschau

Brutal gewordene Realität

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24.11.2016. Laut Zeit steht die Ausstellung der Sammlung Farah Dibas in Berlin in Frage - diplomatische Schwierigkeiten mit dem Iran. Die FR staunt über englische Pop-Art in Wolfsburg: England damals ganz vorn. Die Welt ist heute von der Künstlerin Isa Genzken gestaltet, samt Totenkopf-Ring. In der NZZ beschreibt der Dichter und Theologe Christian Lehnert das religiöse Untergrundgeräusch der Poesie. Die FAZ berichtet vom Musikfestival Wien Modern. Die Filmkritiker streiten über den sozialkämpferische Furor in Ken Loachs "Ich, Daniel Blake".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.11.2016 finden Sie hier

Kunst


Pauline Boty: Cuba Si, 1963

Bis er in der Ausstellung zur englischen Pop-Art im Kunstmuseum Wolfsburg landet, muss FR-Kritiker Peter Iden erstmal durch das vom VW-Abgas-Skandal gebeutelte Wolfsburg. Im Museum dann Aufbruchsstimmung: "Von Anfang an ist die englische Variante reicher an Facetten, vielstimmiger als die amerikanische. Auch intellektuell differenzierter. Die Amerikaner zitierten die Motive ihrer Kunst aus der Realität ihrer Epoche - die Engländer wollten politisch und ästhetisch eine andere Wirklichkeit. Vor allem Richard Hamilton (1922-2011) sah als Theoretiker wie mit seiner Malerei und seinen Installationen in der Pop-Art die Chance, verkrustete Gegebenheiten, die Architektur nicht ausgenommen, kritisch zu unterlaufen. ... England damals ganz vorn."

Die heutige Ausgabe der Welt hat die Künstlerin Isa Genzken gestaltet. Dazu schreiben Swantje Karich und Hans-Joachim Müller: "Die Bilder, die heute fehlen, leisten ihren Beitrag: Kein Trump-Gesicht ist in dieser Ausgabe zu finden. Stattdessen zoomt Isa Genzken ihren Totenkopf-Ring am Mittelfinger heran. Zeigt eine ihrer Röntgen-Arbeiten aus den neunziger Jahren, auf denen sie sich selbst durchleuchtet, trinkend, rauchend, ist Teil einer Assemblage, führt einen Totentanz vor. Sind wir alle am Ende? Man könnte den Anschein bekommen. Die Frage beantwortet sie nicht. Doch die Entscheidung zur Selbstbeschau heute in der Zeitung sagt viel, sagt alles."

Eigentlich sollte am 4. Dezember in Berlin eine große Ausstellung der Kunstsammlung Farah Dibas eröffnet werden. Eingefädelt hat das Frank Walter Steinmeier - als Kulturaustausch, der die Beziehung zum Iran verbessern sollte. Die Sache droht jedoch zur Blamage zu werden: Die Mullahs haben bis jetzt noch keine Ausfuhrgenehmigung erteilt, berichtet Werner Bloch im Aufmacher des Zeit-Feuilletons. Und auch die Teheraner Kunstszene ist mit der Planung nicht einverstanden: "Die deutsche Kulturdiplomatie, so der Vorwurf, missbrauche die Kunst. Die iranische Seite wolle mit Leihgaben vor allem Geld verdienen. Den Deutschen hingegen gehe es um das symbolische Kapital. 'Deutschland versucht hier nicht, eine kulturelle Öffnung zu bewirken, sondern hinter den Kulissen einen Deal mit der Islamischen Republik einzufädeln, der über unsere Köpfe hinweg geht', sagt die Künstlerin Forouhar, deren Eltern von Schergen des Systems ermordet wurden. Jene Kräfte im Iran, die tatsächlich einen Wandel bewirken könnten, die Intellektuellen und Künstler, seien von Anfang an nicht offiziell einbezogen worden."

Besprochen werden eine Ausstellung zum Werk des Bildhauers Fritz Schwegler als Zeichner, Performer und Dichter in der Kunsthalle Mannheim (taz), eine Ausstellung zum Golem im Jüdischen Museum Berlin (Standard), die Ausstellung "Uncertain States" In der Berliner Akademie der Künste (art), Ausstellung "Laokoon. Auf der Suche nach einem Meisterwerk" in der Humboldt-Universität (FAZ), eine Ausstellung des israelischen Künsters Eran Shakine im Jüdischen Museum Berlin (Tagesspiegel), die Ausstellung "Gewebte Träume - Der Bildteppich in Mitteldeutschland. Reflexionen auf Jean Lurçat" im Kunstmuseum Moritzburg in Halle (FAZ) und die Ausstellung "Geschlechterkampf" im Frankfurter Städel (FR, SZ).
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Literatur

Im Gespräch mit der NZZ erklärt der Theologe und Dichter Christian Lehnert, was Poesie und Religion verbindet: "Gedichte haben in meinen Augen Anteil an einer fortwährenden Sprechhandlung, die auch ein Schöpfungshandeln darstellt, an einer 'Rede der Kreatur an die Kreatur'. So sagte es Johann Georg Hamann. Auch dort, wo Gedichte gar nicht religiös sind, haben sie doch Anteil am 'schöpferischen Vermögen des sprechenden Seins' (Gaston Bachelard). Das ist noch keine Theologie - aber ein religiöses Untergrundgeräusch, ein Hintergrundrauschen. Poetisches Sprechen bewegt sich an den Rändern der menschenbewohnten Räume - so hat es zwei bevorzugte Blickrichtungen: auf die Natur und in die Transzendenz."

Besprochen werden der Comic "Ein diabolischer Sommer" von Thierry Smolderen und Alexandre Clérisse (NZZ), Ulrich Drüners Wagner-Biografie (NZZ), ein Band von Frank Wache und Gunnar Schmidt über "Fotografie als Sendung" (FAZ), Kai Hensels Thriller "Bist du glücklich?" (Freitag) und Gudrun Lerchbaums Politikrimi "Lügenland" (Freitag).

Außerdem hat die Zeit heute noch einmal eine 12-seitige Literaturbeilage.
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Bühne

Theaterkrisen hin oder her, denkt ans Publikum!, ruft Manuel Brug in der Welt und schreibt ihm eine kleine Hommage, diesem immer hungrigen Ding, "nach Prosa und Vers und hohem C. Es schnappt nach Lachsschnittchen, Eis mit heißen Himbeeren, Käsepumpernickel, Mettbrötchen und Wiener Würsten. Programmhefte verschmäht es schon seit Längerem, aber es will sich gern vorher verbal einführen lassen. Anschließend möchte es mitgerissen, ent- und verführt, enthoben, entfesselt, eingelullt werden. Es versteht zu leiden, auf harten, engen Sitzen mit dünnen Armlehnen, in schlecht klimatisierten Räumen. Manchmal schläft es. Nur langweilen will es sich nicht."

Im Streit um den Castorf-Nachfolger Chris Dercon wirken die Volksbühnenfans - vom designierten neuen Kultursenator Klaus Lederer bis zum Fußvolk - auf Zeit-Kritiker Peter Kümmel mit ihrem Heiligenkult, der sich um Verträge nicht schert, schon leicht übergeschnappt: "Allmählich muss die große Theaterstadt Berlin ein wenig achtgeben, dass sie sich nicht komplett lächerlich macht."

Besprochen wird Tschaikowskys "Eugen Onegin" an der Oper Frankfurt (FAZ).
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Film

Filmförderung findet in der Türkei derzeit nicht statt, doch von Repressalien ist die  türkische Filmszene bislang verschont geblieben, erfahren wir aus Amin Farzanefars Bericht vom Antalya Filmfest in der NZZ. Erstaunlich, denn das türkische Kino war in den letzten Jahren bemerkenswert kritisch. Doch "wie lange es diese gesellschaftskritischen Werke geben wird, ist fraglich. Auch die Filmszene droht sich zu spalten - in Opportunisten, die ihren Profit sichern wollen, und engagierte unabhängige Filmschaffende: Der Jurypräsident von Antalya, Semih Kaplanoglu, mit dem naturmystischen Filmpoem 'Bal' ("Honig") Gewinner des Goldenen Bären 2009, pflegt seine Nähe zur AKP und zu Erdogan. Gleiches gilt für den einstmals kritischen, international gefeierten Künstler und Filmemacher Kutlug Ataman, der sich seit der Niederschlagung der Gezi-Proteste offen auf die Seite der Regierung gestellt hat. Die anderen warten auf die nächsten, schon seit längerem aufgeschobenen Förderentscheide."


Szene aus Ken Loachs "I, Daniel Blake"

In Cannes hat Ken Loachs "Ich, Daniel Blake" die Goldene Palme gewonnen (unser Festivaresümee). Jetzt kommt der Film - "eine bittere Anklage gegen den britischen Sozialstaat", wie Martina Knoben in der SZ schreibt - in die deutschen Kinos. In Großbritannien hat der sozialkämpferische Furor dieses Spätwerks heftige Debatten entzündet, erfahren wir von Knoben weiter: Die Geschichte des Films - ein Arbeitsloser wird von den Bürokratien eines empathiebefreite Sozialstaats zerrieben - habe einen Nerv getroffen: "Der Irrsinn wird im Rhythmus und mit den Pointen einer Komödie dargelegt, einer Gattung, die ja grundsätzlich etwas Mechanisches hat. Nur dass die Mechanik dieses Systems sehr real ist."

Schön und gut und politisch sehr richtig, meint dazu Ekkehard Knörer in der taz, den allerdings einmal mehr Loachs Klassenkampf-Indienstnahme des Kinos stört: Loach verstehe Kino als "Transportunternehmen", es ist "ein Kino des allzu fasslichen Spiels in allzu fasslichen Formen, in allzu fassliche Konstellationen verpackt. Funktional in Bild und Montage. Es ist ein Kino ohne Reibungsverlust, das die Welt vor marxistischem Theoriehintergrund übersichtlich erklärt. Die Jury in Cannes gab 'Ich, Daniel Blake' die Goldene Palme. Ja, man kann vom Kino so wenig wollen." Was sollte man von Loach allerdings auch anderes erwarten, entgegnet darauf Andreas Kilb in der FAZ: "Das ist so, als würde man dem Himmel über Newcastle vorhalten, dass er grau ist." Im Interview mit der Welt setzt Loach sein ganzes Vertrauen auf Jeremy Corbyn.

Weitere Artikel: In der SZ spricht Alexander Menden mit Meryl Streep über ihre Rolle als Sängerin Florence Foster Jenkins in Stephen Frears' gleichnamigem, im Tagesspiegel besprochenen Biopic . Im Perlentaucher stellt Michael Kienzl einen Film von Clemens Klopfenstein aus dem Jahr 1979 vor, der im Rahmen einer Retrospektive im im Berliner Kino Arsenal zu sehen ist. Diese Reihe empfiehlt auch Carolin Weidner in der taz. Außerdem verweist Carolin Weidner auf die Filmtour "Femmes Totales", die Filme von Frauen durchs Land schickt. Frédéric Jaeger berichtet auf critic.de unterdessen vom Torino Film Festival, wo Filme von Gabe Klinger, Antonio Campos und Fernando Guzzoni liefen.

Besprochen werden Khavns "ALIPATO: The Very Brief Life of an Ember" (Perlentaucher), Denis Villeneuves Science-Fiction-Film "Arrival" (taz, unsere Kritik hier), die Science-Fiction-Serie "Black Mirror" auf Netflix (ZeitOnline), Rúnar Rúnarssons "Sparrows" (taz), Tobias Nölles "Aloys" (taz), der Actionfilm "Deepwater Horizon" mit Mark Wahlberg (ZeitOnline) und die Ausstellung "Friedrich Wilhelm Murnau - Eine Hommage" im Lenbachhaus in München (FAZ), der wir dieses fantastische Bild des Regisseurs mit seinem Schauspieler Emil Jannings verdanken:




Emil Jannings und Friedrich Wilhelm Murnau bei den Dreharbeiten zu "Faust". Foto: Hans Natge, 1926 (Deutsche Kinemathek, Berlin)
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Architektur

In der Berliner Zeitung unterhält sich Nikolaus Bernau mit dem Historiker Peter Schwirkmann über dessen Ausstellung Schloss.Stadt.Berlin im Stadtmuseum. In der FAZ referiert Berlins Ex-Senatsbaudirektor Hans Stimmann die Geschichte der Neugestaltung des Potsdamer Platzes nach der Wiedervereinigung.
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Musik

Beeindruckt kommt Reinhard Kager vom ersten Jahrgang des "Wien Modern"-Festivals unter dem neuen Intendanten Bernhard Günther nach Hause. Besonders die Uraufführungen haben es ihm angetan, erzählt er im Deutschlandfunk (hier) und in der FAZ, etwa das vom "österreichischen ensemble für neue musik" interpretierte neue Werk von Klaus Lang, "der sich für die Uraufführung von 'weiße farben' den rund dreißig Meter hohen Raum des einst als Kulissenlager dienenden Semper-Depots zunutze machte: Auf den Emporen plaziert, wölbten die Musikerinnen und Musiker des 'oenm' eine imaginäre Klangkuppel über das Publikum. Am selben Ort erzeugte Pierluigi Billone einen nachgerade gegenteiligen Effekt: Die hart angeschlagenen Akkorde seines erstmals vollständig präsentierten 'Sgorgo', eines von Yaron Deutsch bravourös gespielten Solos für E-Gitarre, schraubten sich im Nachhall förmlich zur Decke des Semper-Depots empor." (Sein Konzept für Wien Modern erklärt Bernhard Günther im Gespräch mit Dradio Kultur)

Hier kann man sich in Billones "Sgorgo" reinhören, aufgenommen in Darmstadt, mit Yaron Deutsch an der Gitarre:



Weitere Artikel: In Electronic Beats unterhalten sich die Musiker Emika und Yair Elazar Glotman über Austauschprozesse zwischen klassischer und elektronischer Musik und die Möglichkeiten und Schwierigkeiten, die daraus entstehen. Im VAN-Magazin rufen die Violinistin Jennifer Gersten und die Cellistin Sarah Swong ihre Kollegen aus der klassischen Musik dazu auf zu überlegen, wie man auf Trump reagieren soll. Außerdem sammelt VAN aktuelle Regungen der Klassikszene in den sozialen Netzwerken.

Besprochen werden das Comeback vom A Tribe Called Quest (Tagesspiegel), Nicolas Jaars "Sirens" ("ein echtes Meisterwerk", staunt Tanner Smith auf Popmatters), Gaye Su Akyols "Hologram Imparatorlugu" (Spex), ein Konzert des Tenors Julian Prégardien (SZ), der Berliner Auftritt von Xavier Naidoo (Berliner Zeitung) und ein Konzert von Midge Ure (FR).
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