Efeu - Die Kulturrundschau

Stammtisch bürgerlicher Selbstvergewisserung

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.11.2016. Von wegen Pluralismus! Politisches Theater wird nur noch für Gleichgesinnte gemacht, donnert die nachtkritik. Die SZ wandelt begeistert durch das frisch renovierte Herzog-Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig. Der Tagesspiegel fragt sich, ob Berlins neuer Kultursenator Klaus Lederer von der Linken jetzt in Donald-Trump-Manier Chris Dercon kündigen wird. Ganz zeitgemäß findet der Merkur eine Scheune als Museum des 20. Jahrhunderts in Berlin. Die Berliner Zeitung schläft ein mit Metallica.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.11.2016 finden Sie hier

Kunst


Das Herzog-Anton-Ulrich-Museum, vom Park aus gesehen. Bild: Museumswebseite

Die langjährige Sanierung, in deren Zuge viel Raum geschafft wurde, hat dem Herzog-Anton-Ulrich-Museum in Braunschweig richtig gut getan, schwärmt Gottfried Knapp von der SZ nach seiner Visite: Endlich offenbart die Sammlung all ihren Reichtum, von dem zuvor weite Teile weggesperrt waren: "Wer an einem Tag alle Abteilungen des mächtig erweiterten und aufregend neu gestalteten Herzog-Anton-Ulrich-Museums in Braunschweig auf sich einwirken lässt, der wird beglückt feststellen, dass er nicht ein einzelnes Museum von europäischem Rang kennengelernt hat, sondern gleich mehrere."


Szene aus "Egon Schiele - Tod und Mädchen"

Viel zu harmlos findet Alexandra Wach im Art Magazin Dieter Berners Film über Egon Schiele. Die Schauspieler in Ehren, aber die betulich gefilmten Sexszenen werden Schiele so wenig gerecht, wie der Umgang mit seiner Kunst, bedauert die Kritikerin: "Wo sind die unschönen, versehrten, deformierten, behaarten, auch alten Körper geblieben? Die anatomisch sezierten Beinahe-Skelette von Männern, die schutzlos den Blicken ausgesetzt sind, in einer Epoche, in der die Frauen den zweifelhaften Vorzug genossen, die Vorlage für den idealen akademischen Körper abzugeben. ... Der junge wilde extreme Schiele sieht in diesem Light-Porträt leider erschreckend alt aus."

Weiteres: Nicola Kuhn berichtet für den Tagesspiegel von der Socle-du-Monde-Biennale in Dänemark.

Besprochen werden Sascha Weidners Fotoband "Intermission II" (Freitag) und die Ausstellung "Das Erbe der Alten Könige" im Museum für islamische Kunst in Berlin (Tagesspiegel).
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Architektur


Entwurf von Herzog & de Meuron für das Museum des 20. Jahrhunderts in Berlin. Bild: © Herzog & de Meuron Basel Ltd., Basel, Schweiz mit Vogt Landschaftsarchitekten AG, Zürich/Berlin

Der Entwurf von Herzog & de Meuron für das Museum des 20. Jahrhunderts in Berlin wurde von den Kommentatore rasch als "Scheune" gekennzeichnet. Ein Anlass für Christoph Engemann, im Blog des Merkur einmal genauer über die Scheune als solche - und deren Implikationen und Irritationen zwischen Ländlichkeit und Urbanität, Vergangenheit und Zukunft oder Behausung und Zweckgebäude nachzudenken. Kenntlich wird die Scheune dabei als Ort der Uneindeutigkeit, an dem sich manch Zwielichtiges zuträgt. "Zwischen Scharouns Weinberg und Mies van der Rohes Tempel der Transparenz wird mit der Scheune ein Ort gestellt, der die ganze Zwielichtigkeit der Aufklärung aufruft. Schaustätte der Akkumulation von Kultur und zugleich beunruhigende Zeitmaschine, von der man nicht wissen kann, welche Scheunenfunde damit einhergehen könnten."

Weiteres: Christian Thomas von der FR besucht die der Bjarke Ingels Group gewidmete Schau im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt.
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Bühne

Klaus Lederer von der Linken wird Berlins erster Kultursenator nachdem das Amt zehn Jahre lang vom Regierenden Bürgermeister mitabgedeckt wurde. Die Dercon-Volksbühne könnte das jetzt in Bedrängnis bringen, mutmaßt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel, dem dabei gleich noch eine überraschende Personalie der letzten Tage aus dem Süden der Republik ins Gedächtnis kommt. Den Vertrag mit dem umstrittenen designierten Intendanten aufzukündigen, stellt zwar eine rechtliche Herausforderung dar und wäre überdies finanziell nicht günstig zu haben, doch "möglich ist es - wenn der Ruf Berlins als weltoffene Kulturhauptstadt mit fairen und seriösen Umgangsformen egal ist. Würde Lederer in Donald-Trump-Manier den Vertrag mit Dercon, der seine erste Spielzeit an der Volksbühne bereits weitgehend durchgeplant hat, rückgängig machen, dann stünde auch schon ein Nachfolgekandidat bereit: Armin Petras. Der Intendant des Stuttgarter Staatsschauspiels hat Anfang dieser Woche überraschend erklärt, er werde 2018 aufhören."

Das politische Theater hat die Öffentlichkeit aufgegeben, ätzt Nachtkritik-Redakteur Michael Wolf in einer ziemlich gepfefferten Polemik. Pluralismus beschwöre man nur in der gängigen Antrags-Prosa, doch in Wahrheit habe es "kein Interesse daran, die Bandbreite der Haltungen einer Gesellschaft vorkommen zu lassen, die - wie eklig! - eben nicht nur aus den Guten besteht." Und wenn die Unguten - wie jüngst im Berliner Gorki-Theater geschehen - die Veranstaltung stören, reagiere man unbeholfen mit Platzverweis-Warnungen vor dem Eingang des Hauses: "Jahrhunderte lang predigten Intellektuelle Kultur als Heilsversprechen für die Massen. Ins Theater soll inzwischen nur noch dürfen, wer seinen Persilschein am Einlass abreißen lässt. Wir machen Theater mit allen und für alle, die im Parkett sitzen und die das Parkett erfreut (....), nur mit den Schmuddelkindern wollen wir nicht spielen. Man bleibt gern unter sich an diesem Stammtisch bürgerlicher Selbstvergewisserung."
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Literatur

Frédéric Valin spricht im Freitag mit dem Autor Anselm Neft über dessen Roman "Vom Licht", der von einem jungen, von radikalen Gnostikern erzogenen Mann handelt. Entsprechend geht es in dem Gespräch auch darum, wie der Autor es mit der Religion hält. Dass Wissen um die Gefahr von Sekten und Aussteiger-Religionen setzt Neft zwar voraus, "die Ablehnung gegenüber Religion insgesamt, wie sie zum Beispiel die New Atheists praktizieren, geht mir allerdings zu weit, und zwar nicht zuletzt aus ganz pragmatischen Gründen. Wenn man Religion generell lächerlich macht, kann man - beispielsweise in der islamischen Welt - sehr schwer vermitteln. Zu sagen, die Gemäßigten machen ja erst mal nichts so Schlimmes, aber im Kern sind die genauso bekloppt wie die Terroristen - das ist kein konstruktiver Ansatz. Wenn alle Religionen immer scheiße sind, dann fallen die Differenzen weg und damit das humane Element."

Weiteres: Benjamin Quaderer berichtet im Logbuch Suhrkamp vom Berliner Open-Mike-Wettbewerb.

Besprochen werden Anne Tylers "Die störrische Braut" (FR), Uwe Sonnenbergs Studie "Von Marx zum Maulwurf - Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren" (taz) und Gedichte von Volker Braun (NZZ).

Mehr aus dem literarischen Leben auf: 


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Film


Szene aus "Les Sateurs"

Toby Ashraf unterhält sich in der taz mit Moritz Siebert über dessen (auf critic.de besprochenen) Dokumentarfilm "Les Sateurs - Those Who Jump", für den er Abou Bakar Sidibé eine Kamera in die Hand gedrückt hat, damit dieser (allerdings unter so großzügiger, wie gewinnbringener Ignorierung der Drehvorschläge) die eigene Flucht nach Europa filmen konnte: "Abou hat das gefilmt, was er als wichtig empfand, und das war ein Glücksfall. Er hatte große Freude daran, sich am Filmen auszuprobieren, und hat sehr viel Material gedreht. Alle vier Wochen haben Estephan oder ich Abou auf dem Gurug ú besucht und haben über das Filmen gesprochen, aber es war auch ein fortlaufender Prozess, sich kennenzulernen und Vertrauen zwischen uns aufzubauen. Langsam wurde klar, dass Abou vom Filmenden zum Pro­tagonisten unseres Films werden würde. Als wir uns später an den Schnitt machten, merkten wir, dass Abou auch als Koregisseur genannt werden musste."

Weitere Artikel: Martin Schwickert plaudert im Tagesspiegel mit Jim Jarmusch über dessen neuen (in der SZ von Fritz Göttler besprochenen) Busfahrergedichte-Film "Paterson" (mehr dazu hier). Heide Oestreich von der taz hat sich zu Sophie Marceaus 50. Geburtstag nochmal deren Durchbruchsfilm "La Boum" angesehen. Hollywood wird künftig weniger Komödien drehen, hat David Steinitz von der SZ in Erfahrung gebracht und liefert dazu auch gleich die Gründe: US-Komödien ziehen im Ausland immer schlechter, aber der ausländische Markt wird für Hollywood immer wichtiger.

Besprochen werden Jim Jarmuschs "Paterson" (Welt), David Yates' Harry-Potter-Prequel "Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind" (Berliner Zeitung, taz, ZeitOnline, Welt), Brian DeCubellis' auf DVD veröffentlichter "Manhattan Nocturne - Tödliches Spiel" (taz), Ewan McGregors Regiedebüt "Amerikanisches Idyll" nach Philip Roths gleichnamigem Roman (Tagesspiegel), Dario Argentos auf DVD veröffentlichter Horrorklassiker "Terror in der Oper" von 1987 (Filmgazette) und Daniel Abmas Dokumentarfilm "Transit Havanna" über die Geschlechtsumwandlung von Fidel Castros Nichte Mariela Castro (Freitag).
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Musik

Nur noch schlecht findet Christian Schlüter von der Berliner Zeitung das neue Album von Metallica: Nachzuvollziehen sei darauf "eine selbstmitleidverliebte Reise ins unerschöpfliche, aber auch reichlich belanglose Männer-Ich. Das langweilt in seiner Indifferenz gewaltig."

Weiteres: Tobias Richtsteig spricht im Tagesspiegel Empfehlungen zum Jazzkorea-Festival in Berlin aus. Franziska Buhre schreibt in der taz zum Tod des Jazzpianisten Mose Allison. In der NZZ stellt Alois Feusi die Volksmusik spielende bayerische Großfamilie Well vor. Bei einer von der Industrie ausgelobten Berliner Konferenz haben sich Musiker über die Ästhetik des Loops unterhalten, berichtet Thomas Lindemann in der FAZ.

Besprochen werden das Berliner Gastspieler des Orchestre Philharmonique de Radio France (Tagesspiegel), Brian Wilsons Basler Konzert (Freitag), Schostakowitschs 1. Violinkonzert mit Valery Gergiev und dem Mariinsky-Orchester in Zürich (Christian Wildhagen ist in der NZZ wenig begeistert: "farblos und über weite Strecken uninspiriert") und ein Konzert von Al Jarreau und der NDR-Bigband (Tagesspiegel).

Und Bob Dylan? Kommt nun doch nicht nach Stockholm, meldet dpa.



(Quelle. Pressekonferenz 1965)
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