Efeu - Die Kulturrundschau

Ich bin nämlich der Heinz

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31.10.2016. NZZ und FAZ jubeln über das Wunder an Klang und Offenheit, das die Bochumer mit ihrem Musikforum möglich gemacht haben. Die NZZ verliert sich auch im Fotomuseum Winterthur in den poetischen Weiten von Jungjin Lee. Die Nachtkritik bewundert Jörg Pohl am Hamburger Thalia als bösen Affen Mensch. In der SZ verrät Werner Herzog, wie die Hofer Filmtage ihre besten Beiträge akquirierten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.10.2016 finden Sie hier

Musik


Stolz der Bürger: Buchums neues Musikforum.

"Wunder geschehen oft dort, wo man sie am wenigsten erwartet", jubelt Malte Hemmerich in der NZZ über das neu eröffnete Bochumer Musikforum, mit dem sich die finanziell so knapp ausgestattete Stadt ein beispielhaftes Konzerthaus gegeben hat - auch dank vieler Spenden aus der Bürgerschaft. Besonders lobt Hemmerich das offene Konzept des Hauses: "Das Bochumer Musikforum ist kein reines Konzerthaus, sondern ein echtes Forum. Oder regional bodenständig ausgedrückt: eine 'Musik-WG', wie es Bochums Oberbürgermeister in seiner Eröffnungsrede nennt."

Auch Eleonore Büning muss in der FAZ skeptische Erwartungen enttäuschen: Zwar habe sie "nicht auf jedem der 960 Plätze gesessen", doch ist sie sich nach dem Besuch des neuen Musikforums dennoch ziemlich sicher, dass "es keine akustischen Löcher [gibt], die Nachhallzeit stimmt. ... Musik und Ohren sind einander nahe. Die Decke hängt tief, ist freilich durchlässig, so wird nichts unvorhersehbar reflektiert, auch keine Frequenz verschluckt. Keine Akustiksegel nötig, der Klang geht den direkten Weg. Und es klingt wunderbar."

Wer in München spielt Schostakowitschs Zehnte besser? Die Münchner Philharmoniker unter David Afkham oder Andris Nelsons BR-Symphonieorchester? Michael Stallknecht wagt in der SZ den Vergleich: Die Philharmoniker spielen einen "warmen, erdigen Sound", bei den Symphonikern bleibt es "heller und leichter": "Das Stalin-Porträt im zweiten Satz suggeriert bei Nelsons eine hastige Flucht vor dem Schatten des Diktators, während es bei Afkham als archaische Macht über den Hörer hereinbricht. Wo Nelsons die Details beleuchtet und die Vielfalt des Werks aufzeigt, wirkt Schostakowitschs Symphonie bei Afkham homogener, formen sich die vier Sätze zu einer Überwältigungserfahrung des Grauens." Fazit des Kritikers: Beide Konzerte großartig, doch mangle es München auch weiterhin an den akustischen Rahmenbedingungen für Orchester dieser Güte.

Das Logbuch Suhrkamp präsentiert die 37. Folge aus Thomas Meineckes "Clip//Schule ohne Worte". Hier die Playlist:



Weiteres: In der Welt ist sich Michael Pilz nicht sicher, ob sich die Schwedische Akademie wirklich freuen soll, dass Bob Dylan, der "Großmeister der Übersprungshandlung", zur Preisverleihung kommen will. Für die Jungle World spricht Annette Walter mit Max Rieger über dessen Soloprojekt All diese Gewalt. Wolfgang Sandner berichtet in der FAZ vom Jazzfest in Frankfurt. SZler Andrian Kreye trifft sich mit dem Musiker und Schriftsteller Willy Vlautin. Und im ZeitMagazin träumt James Blake.

Besprochen werden Carrie Brownsteins Buch über ihre Band Sleater-Kinney (Zeit), das neue Album von Leonard Cohen (FR) und das Debüt der Friends of Gas (Tagesspiegel).
Archiv: Musik

Film

Der Betrieb trägt schwarz: Die Hofer Filmtage mussten in diesem Jahr erstmals ohne dessen im vergangenen März gestorbenen Gründer Heinz Badewitz stattfinden. Entsprechend kursierten Erinnerungen auf dem von Trauer gezeichneten Festival. Die schönste Anekdote gab Werner Herzog zum Besten, Rainer Gansera hat sie für die SZ mitgeschrieben: "Irgendwann in den Siebzigerjahren war Heinz in Cannes, ich auch, wir gingen die Croisette entlang, viele Leute waren unterwegs und er sagte: 'Da vorn, das ist doch der Luis Buñuel!?' Ich: 'Ja, ich glaube, das ist er.' Also kommt Heinz von hinten, schlägt Buñuel auf die Schulter und sagt: 'Hey Luis, ich bin nämlich der Heinz.' Und fragt ihn, ob er einen seiner Filme in Hof zeigen könne. Und Buñuel sagt Ja!" So war der Mann, so akquirierte er Filme."

Für den Tagesspiegel war Christiane Peitz vor Ort - sie erblickte "in dieser kleinen, grauen, dramatisch schrumpfenden Stadt", während Herzog, Wenders und Hauff gemeinsam Bratwürste verzehrten, "die Utopie einer Weltkinofamilie". Filme wurden allerdings auch noch gezeigt - einige davon hat Sonja M. Schultz von critic.de gesehen, darunter Herzogs neuen Spielfilm "Salt & Fire", der sich für ihren Geschmack ein bisschen arg steif gemacht hat: "Schau, der Sternenhimmel! Schau, die Salzwüste! Und der Kran fährt hoch und höher. Schau, wie er steht. Ich mag doch lieber die Vorhautfilme."

Weiteres: Anlässlich des Todes von Manfred Krug (mehr) hat Deutschlandradio Kultur ein Radioporträt des Schauspieler sowie eine Lesung wieder online gestellt.

Besprochen wird Eren Önsöz' Dokumentarfilm "Haymatloz" über deutsche Exilanten in der Türkei während der Nazizeit (taz).
Archiv: Film

Literatur

Der WDR bringt ein Radiofeature über Mathias Enards mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman "Kompass". Beim SWR diskutieren unterdessen Helmuth Mojem, Annette Pehnt und Hans-Michael Speier über "das Tagebuch zwischen Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsentwurf".

Besprochen werden Alan Moores "Jerusalem" (The Quietus), Liao Yiwus "Die Wiedergeburt der Ameisen" (Tagesspiegel), Daniel Kehlmanns Novelle "Du hättest gehen sollen" (Berliner Zeitung), Björn Kuhligks "Die Sprache von Gibraltar" (SZ) und neue Krimis, darunter Nicola Lagioias "Eiskalter Süden" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Susanne Stephan über Ilse Aichingers "Heu":

"Heu,
Heu in den Kinderscheuern,
wo zu verbrennen
..."
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Architektur

Hans Kollhoff vom Verein der Internationalen Bauakademie Berlin plädiert im Tagesspiegel für einen raschen Wiederaufbau von Schinkels Bauakademie als Architekturmuseum, von dem er sich eine Wiederbelebung der "Gesprächskultur zu städtebaulichen und architektonischen Fragen" wünscht. Ihm schwebt eine Programmatik vor, "die den Schwerpunkt von einer musealen Ausrichtung verschiebt hin zu einer des Diskurses innerhalb des Metiers einerseits und im intensiven Austausch mit der Stadtgesellschaft zum anderen."

Weiteres: Bis auf weiteres bleibt sich Berlin aber erstmal treu: Auch die umfangreichen Sanierungen und Umbauten am Pergamonmuseum werden wohl weder fristgemäß noch in den Grenzen des Budgets fertiggestellt, sondern dauern selbstverständlich wesentlich länger und werden wesentlich teurer als angenommen, ärgert sich Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung. "Mit Fingerspitzengefühl und Raffinement" hat das Architektenbüro Atelier ST das neue Lutherarchiv in Eisleben umgesetzt, lobt Arnold Bartetzky in der FAZ.
Archiv: Architektur

Bühne


Jörg Pohl als Richard III. am Hamburger Thalia: Foto: Krafft Angerer.

Dreimal Shakespeare auf deutschen Bühnen:Einen "Richard III." gab es am Thalia in Hamburg in der Inszenierung von Antú Romero Nunes, den Stefan Schmidt in der Nachtkritik als gespenstischen Theaterzauber" genoss. Besoders anziehend fand er natürlich Richard: "Jörg Pohl sabbert und stiert, humpelt, lauert und kauert, hechelt wie ein Hund, turnt herum wie ein Affe (ein böses Tier, wie Shakespeare seinen Richard vom restlichen Personal beschreiben lässt) und bringt nebenbei mit leichter Hand zentrale Teile seiner Sippschaft um die Ecke, intrigiert und lässt meucheln, um selbst König zu werden." In der taz bemerkt Klaus Irler, dass Regisseur Antú ­Romero Nunes alle Möglichkeiten, aktuellen Bezüge herzustellen, konsequent ignoriert: "Auf eine karge, schwarze Bühne schickt er einen Hofstaat, der weder der Shakespeare-Zeit noch dem Heute entstammt, sondern einen eigenen Kosmos bildet: Die Kleider und Frisuren sind historisch geerdet, aber futuristisch verfremdet, wie bei 'Star Wars'."

Am Münchner Volkstheater lässt es Christian Stückl im "Sturm" nach allen Regeln der Kunst krachen, kann Christine Dössel in der SZ berichten. Sie sah "einen wahren Polterabend. ... Da rumpelt und knarzt es gewaltig im Gebälk", denn der gelernte Holzbildhaur aus Oberammergau erweist sich einmal mehr als "aus allen Rohren feuernder Kindskopfregisseur", für den das Theater einzig "ein großer Abenteuerspielplatz" ist. Und Fäkalwitze gibt es als Krönung noch dazu: "Shit happens", verspricht die Kritikerin. Zudem hat Thorleifur Örn Arnarsson in Dresden "Othello" inszeniert und damit Simon Strauß in der FAZ  mächtig auf die Palme gebracht: "Nichts als Unzulänglichkeit und Unsinn", schimpft der Kritiker. In der Nachtkritik bedauert Matthias Schmidt die vertane Chance.

Sehr verärgert reagiert auch Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel auf ein Youtube-Video, mit dem - sofern es sich nicht um einen Fake handelt - das Ensemble des Berliner Staatsballetts so schrill wie geschichtsvergessen gegen Sasha Waltz' Intendanz protestiert: "Es dominiert das Hysterische", erzählt werde "eine traurige Geschichte. In einer verunsicherten Welt halten sich junge Tänzer an einer Tradition fest, die schon vor hundert Jahren mit Strawinskys 'Sacre du Printemps' nachhaltig erschüttert war. Als hätte es nie eine Pina Bausch gegeben! Sasha Waltz' Choreografien sind nicht jedermanns Sache. Aber wer gesehen hat, was sie mit dem 'Sacre' macht, versteht diese Tänzer nicht."

Weiteres: Katrin Bettina Müller durchwandelt in der taz - zu ihrem Bedauern: auf sich allein gestellt - die "Alptraumwelt" von Mona El Gammals begehbarem Stück "Rhizomat", mit dem die Berliner Festspiele ihren Schwerpunkt zum Thema "Immersion" beginnen. Der Bayerische Rundfunk bringt ein Radiostück von Wolfgang Müller über die Tänzerin Valeska Gert (hier zudem ein Gespräch mit ihm über Gert). Rüdiger Schaper berichtet im Tagesspiegel davon, wie zwei Kulturunternehmer ein Globe-Theater von Schwäbisch Hall nach Berlin verfrachten (mehr dazu hier).

Besprochen werden außerdem Felix Rothenhäuslers Theaterbearbeitung von Ryan Trecartins Video-Art-Arbeit "The Re'search" an den Münchner Kammerspielen (SZ), Dominic Friedels Uraufführung von Philipp Löhles "Feuerschlange" am Schauspiel Stuttgart (Nachtkritik) und Jan-Christoph Gockels Inszenierung von Kafkas "Verwandlung" in Bochum (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Kunst


Jungjin Lee: Aus der Serie "Ocean, On Road, Pagodas, Things und Wind". Fotomuseum Winterthur.

Es wird Zeit, dass auch die Europäer die koreanische Fotografin
Jungjin Lee entdecken, meint Daniele Muscionico in der NZZ und preist die Ausstellung ihrer poetischen Arbeiten als einen Höhepunkt in der Geschichte des Fotomuseums Winterthur: "Jungjin Lee exklusiv in Winterthur und ausnahmslos mit Arbeiten aus ihrem persönlichen Archiv. Es gibt nur eine Leihgeberin in diesem Fall, und das ist die Künstlerin selber. Winterthur und die Ausstellung 'Echo' sind eine Reise wert - und mehr als das. Vorausgesetzt allerdings, der Reisende führt Zeit im Gepäck mit, eine Verfassung der offenen Sinne und des offenen Herzens. Dabei ist im Grunde alles ganz einfach. So einfach, wie die Bildinhalte scheinen. Man wird vor Lees objekthaften Schwebeteilchen so umstandslos ruhig und beruhigt wie bei der Betrachtung des offenen Meeres oder der endlosen Wüste."

Der Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich kann ebenfalls in der NZZ in der Bilder- und Selfieschwemme in den Sozialen Medien nur Positives abgewinnen. Ihm scheint angesichts der fast vergesellschafteten Produktionsmittel ein Bildersozialismus nah, in dem die Menschen nur noch durch tolle Fotos miteinander kommunizieren: "Erleben es die Menschen überhaupt als historisches Ereignis und umstürzende Entwicklung, dass sie auf einmal nach Belieben Bilder machen und verbreiten können?"

Für die taz berichtet Sonja Vogel von den Aktivitäten beim Goethe-Institut Damaskus im Exil, das noch in dieser Woche syrischen Kulturschaffenden in Berlin die Möglichkeit zur Vernetzung und Diskussion bietet.
Archiv: Kunst