Efeu - Die Kulturrundschau

Keine nervtötende öffentliche Präsenz

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.10.2016. Ferrante verraten! Am Wochenende hat der italienische Journalist Claudio Gatti enthüllt, dass sich hinter dem Pseudonym Elena Ferrante die Übersetzerin Anita Raja verbirgt. Die Literaturkritik ist sauer: taz, SZ, Guardian und New Yorker sehen ihr Recht auf Nichtwissen verletzt. Im Blog der NYRB folgt Gatti bereits den Spuren von Anita Rajas deutsch-jüdischer Mutter Golda Frieda Petzenbaum. Die FAZ erkennt in Ferrante jetzt auch die Christa-Wolf-Übersetzerin. Außerdem ist auf HBO die langererwartete Meta-Science-Fiction-Serie "Westworld" gestartet. Und die NZZ verbringt einen Tanzabend in Mailand.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.10.2016 finden Sie hier

Literatur

Mit einem in der FAS, der New York Review of Books, Il Sole24 Ore und Mediapart lancierten Coup sorgte der Investigativjournalist Claudio Gatti für großes Aufsehen am verlängerten Wochenende. Nach seinen Recherchen soll sich hinter dem berühmtesten Pseudonym der Gegenwartsliteratur die 1953 geborene italienische Übersetzerin Anita Raja verbergen, Ehefrau des (ebenfalls lange unter Ferrante-Verdacht stehenden) Schriftstellers Domenico Starnone und zuvor bereits von der Literaturwissenschaftlerin Rebecca Falkoff als Hauptverdächtige in Betracht gezogen. Als Indizien zur Untermauerung seiner These legt Gatti Honorabrechnungen und eine Recherche in den italienischen Grundbüchern vor, die den Schluss nahelegen, dass die (für Ferrantes italienischen Verlag tätige) Übersetzerin parallel zum internationalen Erfolg von Ferrantes Neapel-Zyklus für ihren Berufsstand ungewöhnlich finanzkräftig geworden ist.

Die meisten Kritiker haben allerdings gar nicht wissen wollen, wer Elenea Ferrante wirklich ist. "People are pissed", konstatiert Alexandra Schwartz im New Yorker. Ihre Demaskierung verletzt mein Recht, nicht zu wissen, klagt Deborah Orr im Guardian. Bei Dirk Knipphals machen auch die investigativen Methoden "schlechte Laune", wie er in der taz schreibt: "Als ob es um die Aufdeckung eines Berlusconi-Komplotts ginge, um WikiLeaks oder Mafiamachenschaften!" Auch in der NZZ findet Franz Haas die unliterarische Recherche irgendwie unfein. Gatti hatte herausgefunden, dass sich Raja und ihr Mann eine 11-Zimmer-Wohnung in Rom leisten konnten. Dabei schrieb sie aus der Anonymität heraus, um ihr Werk im Vordergund stehen zu lassen, wie sie im Interview gegenüber der Paris Review dargelegt hatte. Auch deshalb zeigt sich Dayna Tortoric von n+1 sehr erbost über dieses Outing: "In Ferrantes Augen stellt die Abwesenheit eines Autors die grundlegenden Bedingungen von Literatur für die Öffentlichkeit wieder her: Sie gestattet dem Schreiber zu schreiben und dem Leser zu lesen... Keine nervtötende öffentliche Präsenz, an der man all die schönen Dinge, die sie zu Papier bringt, abgleichen müsste." In der SZ macht Thomas Steinfeld, der den Roman eigentlich als clever lancierte Unterhaltungsliteratur abgetan hatte, jetzt künstlerische Gründe dafür geltend, warum Ferrante hinter ihrem Text verschwunden ist. Ihre Neapel-Saga handle nämlich auch "vom Verschwinden einer Person in der absoluten Anonymität." Der Buchreport versammelt noch mehr, zum Teil etwas beleidigte Reaktionen.

Allem Wehklagen der Kritiker zum Trotz läuft die Maschinerie zur Re-Integration der tatsächlich Person ins Werk bereits auf Hochtouren. In der NYRB widmet sich Claudio Gatti bereits in einem zweiten großen Text Anita Rajas Mutter Golda Frieda Petzenbaum, eine deutsche Jüdin, die vor dem Holocaust nach Italien geflohen war und in Neapel geheiratet hatte: "In Elena Ferrantes Büchern gibt es keine Spuren von Anita Rajas persönlicher Geschichte. Ferrantes Geschichten erzählen von Neapels Armen, vom Nachkriegsitalien, von weiblicher Unterdrückung. Keines ihrer Bücher weist auf die Tragödien hin, die Rajas Mutter, Großeltern weitere Verwandten erlebt haben - Pogrome in Polen, die nazistische Verfolgung in Deutschland, antisemitische Gesetze im faschistischen Italien und den Holocaust, der ihre Urgroßeltern und einem Dutzend andere Verwandte das Leben kostete. Und doch fragt man sich, ob das Interesse der Autorin an Bildern von Krisen, an dem, was uns am meisten ängstigt, nicht verbunden ist mit der Geschichte von Rajas Mutter, Golda Frieda Petzenbaum."

Außerdem ist Raja auch die italienische Übersetzerin Christa Wolfs, deren Werke - und insbesondere "Nachdenken über Christa T." - mit einem Mal als zentraler Einfluss in Frage kommen. Mit weitreichenden Folgen, mutmaßt Andreas Platthaus heute in der FAZ, der nun auch versteht, wie ein von vornherein feststehender Beststellerkandidat wie "Meine geniale Freundin" bei einem mittelständischen Verlag wie Suhrkamp landen konnte, obwohl Ferrante frühere Bücher in Deutschland bei größeren Verlagen veröffentlicht hatte: "Um Geld allein kann es kaum gegangen sein. Suhrkamp verdankt die Ferrante-Tetralogie wohl seiner Treue zu Christa Wolf."

Weiteres: Beim Buchpreis-Abend in Frankfurt erweisen sich die nominierten Schriftsteller als wenig auskunftsfreudig, berichtet Judith von Sternburg in der FR. Jens Uthoff war für die taz bei einem Hubert-Fichte-Abend in Berlin. Tazler Micha Brumlik bedankt sich bei Gisela von Wysocki dafür, dass deren Roman "Wiesengrund" ihn in die bewegte Zeit seiner Adorno-Studien im Frankfurt der 60er zurückversetzt hat. In der SZ spricht Alex Rühle mit Teju Cole, von dem in Deutschland gerade die Essaysammlung "Vertraute Dinge, fremde Dinge" erschienen ist.

Besprochen werden Bodo Kirchhoffs "Widerfahrnis" (Tagesspiegel, ZeitOnline), Dorit Rabinyans "Wir sehen uns am Meer" (Tagesspiegel) und Emmanuel Carrères "Das Reich Gottes" (FR).
Archiv: Literatur

Bühne


Von wegen Nebelwand: Billy Cowies "Attraverso i muri di bruma". Foto: OKNOstudio, Fondazione Prada.

In der NZZ erzählt Barbara Villiger Heilig ganz verzaubert, wie die Fondazione Prada in Mailand versucht, den zeitgenössischen Tanz unter die Leute zu bringen. Zum Beispiel mit dem Filmemacher und Choreografen Billy Cowie: "Für die Fondazione Prada, deren Ideen-Campus in der ehemaligen Schnapsbrennerei am Largo Isarco hochprozentige Destillate hervorbringt, hat er das Projekt 'Attraverso i muri di bruma' ausgedacht. Cowies Tänzerinnen und Tänzer, ein knappes Dutzend an der Zahl, sind frisch diplomierte Absolventen des Lehrgangs Tanztheater, den die Civica Scuola Paolo Grassi anbietet. Gleichfalls ein renommiertes Institut, wirkt sie, zumindest äusserlich betrachtet, unscheinbarer als 'La Bocconi' in der Nachbarschaft: Die Schauspielschule ist in einer ehemaligen Joghurt-Fabrik untergebracht, und im Unterschied zum Zürcher Toni-Areal wurde in Mailand nichts, aber auch gar nichts unternommen, um das Gebäude technisch auf Vordermann zu bringen."

Machtvoll und berückend schön findet Andreas Klaeui in der NZZ Bastian Krafts Inszenierung von Max Frischs "Homo faber" am Schauspielhaus Zürich, in der sich Fabers Blindheit und Unbeweglichkeit über Spiegel und Laufbänder noch potenzieren: "Bastian Kraft und seinem Bühnenbildner Peter Baur gelingt das seltene Kunststück, einen Roman so für die Bühne einzurichten, dass die Leseatmosphäre nicht verloren geht. Der szenische Mehrwert liegt hier nicht in der zur Schau gestellten Zeitgenossenschaft der Inszenierung; er liegt in der Präzision der Lektüre."

Besprochen werden Barrie Koskys "Rusalka"-Inszenierung an der Komischen Oper in Berlin (Tagesspiegel), Christoph Mehlers Darmstädter Inszenierung von Ibsens "Wildente" (FR), Amir Reza Koohestanis Münchner Inszenierung von Kamel Daouds Roman "Der Fall Meursault" (taz, mehr dazu hier) und Volker Löschs am Theater Essen gezeigtes "Prinzip Jago" nach Shakespeare (SZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Sehr gerührt berichtet Andreas Kilb in der FAZ von der Soirée für die Fotografie, zu der Joachim Gauck geladen hatte. Die "klug und nicht zu lange" Rede des Bundespräsidenten, überhaupt dessen ebenso staatsmännisch-souveräner wie stilvoller Auftritt imponierte dem Reporter sehr: "Für ein paar Stunden sah es so aus, als sei der ewige Streit zwischen Kunst und Politik, das alte Indianerspiel der Demokratie, nicht bloß ausgesetzt, sondern tatsächlich geschlichtet. ... So, wie nach Benn im heutigen Gedicht der Satzbau das Primäre ist, ist es beim Umgang des Staates mit der Kultur der Stil. Auf dem Weg vom Sauerkraut zum republikanischen Salon hat Joachim Gauck einen Maßstab gesetzt, an dem sich künftige Bundespräsidenten orientieren müssen."

Weiteres: Birgit Rieger berichtet im Tagesspiegel von ihrem Treffen mit der Künstlerin Barbara Quandt. FAZler Andreas Platthaus schreibt zum Tod des Comiczeichners Ted Benoît.

Besprochen werden die Annelise Kretschmer gewidmete Fotoausstellung im Kollwitzmuseum in Köln (Zeit) und die Ausstellung "Golem" im Jüdischen Museum in Berlin ("famos kuratiert", freut sich Irene Bazinger in der FAZ).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Gauck, Joachim, Familienfotos

Musik

Zum Tod des Dirigenten Neville Marriner, der mit seinem edlen Londoner Kammerorchester St. Martins in the Fields auch den Soundtrack zu Milos Formans "Amadeus" eingespielt hatte, schreiben Jan Brachmann (FAZ), Stefan Schickhaus (FR), Udo Badelt (Tagesspiegel), Helmut Mauró (SZ) und Manuel Brug (Welt). Im Tagesspiegel stellt Frederik Hanssen Andrea Zietzschmann vor, die ab 2017 Intendantin der Berliner Philharmoniker sein wird.

Christine Heise spricht in der Berliner Zeitung mit Devendra Banhart, dessen neues Album "Ape in Pink Marble" Julian Dörr in der SZ eigentlich dann am interessantesten findet, wenn sich darauf kein Ton mehr regt. Der Tagesspiegel bringt Auszüge aus Wolf Biermanns Autobiografie. Marco Frei berichtet in der FAZ vom Umculo Cape Festival im südafrikanischen Jouberton.


Besprochen werden das Album "Welt in Klammern" von Max Riegers Soloprojekt All diese Gewalt (taz), Danny Browns "Atrocity Exhibition" (Pitchfork), das neue Album des Schwabinggrad Balletts (Jungle World), das neue Album "Artscience" des Jazzpianisten Robert Glasper (SZ), "Physicalist" von Forma (The Quietus), ein Konzert der Tubes (FR), die von Thees Uhlmann gelesene Hörbuchversion von Bruce Springsteens Autobiografie "Born to Run" (FAZ), und das Album "Schaum" von Masayoshi Fujita und Jan Jelinek (Pitchfork, Byte.FM). Aus letzterem ein schön schangeliges Video:

Archiv: Musik

Film


Western von gestern: HBO-Remake von SF-Klassiker überzeugt.

Am Wochenende ist nach etlichen Verzögerungen Jonathan Nolans und Lisa Joys HBO-Serie "Westworld" nach dem gleichnamigen SF-Klassiker aus den siebziger Jahren gestartet Die Nerds und Geeks reden sich schon die Köpfe heiß. Adrian Daub von ZeitOnline findet die Umsetzung der Geschichte eines mit täuschend echt aussehenden Robotern bestückten Vergnügungsparks, der zum Schauplatz einer Revolte der Maschinenmenschen gegen ihre Erbauer wird, mit ihren philosophischen Abschweifungen zwar etwas schlaumeierisch. Reizvoll findet er aber, wie bewusst sich die Serie ihrer selbst ist: "Die Betreiber des Parks, die jahrzehntelang Tag für Tag mit spannenden Storys aufwarten müssen, sind den Showrunnern von HBO-Serien nicht unähnlich. Sie sprechen offen von storylines und backstories, erfinden neue Bösewichter und besetzen Rollen um. Es gibt sogar Unstimmigkeiten unter den Betreibern, ob mehr Story oder mehr Worldbuilding erwünscht ist. Soweit, so Meta. ... 'Westworld' ist eine Serie, die sich ob ihrer Serienhaftigkeit kasteit, ein Entertainment, das das Entertainment verteufelt, eine epische Geschichte, die das Geschichtenerzählen infrage stellt."

Ähnlich lauten die Beobachtungen von Matt Zoller Seitz im New York Magazine, der hier eine Serie vorliegen sieht, die geradezu wie geschnitzt ist für genau diesen Moment der Gegenwart in einer vom Fernsehen und von Hit-Serien bestimmten Populärkultur: Die wöchentlichen Episoden-Recaps, wie sie in den englischsprachigen Medien beliebt sind, dürften wohl hinfällig werden - diese Serie ist sich selbst ihr bester Kommentar, meint Seitz: "'Westworld' speist sich gleichermaßen aus postmoderner Fiktion und Fernsehkritik, aber auch aus jeder beliebigen Fernsehserie, die nach den 'Sopranos' entstanden ist, insbesondere da die einzelnen Szenen wie ein Echo rückwärts durch die Fernsehgeschichte ziehen. ... Mir fällt keine zweite jüngere Serie ein, die auf so aggressive Weise handelt, von dem sie handelt, während sie gleichzeitig noch davon handelt, wie Geschichten erzählt werden, besonders im Fernsehen des 21. Jahrhunderts."

Im NZZ-Interview mit René Scheu erklärt der amerikanische Schauspieler Woody Harrelson, warum er den einstigen Präsidenten Lyndon B. Johnson verehrt, aber für alle anderen Politiker und Regierungen nur Verachtung übrig hat: "Das ist ein abgefucktes, korruptes System. Niemand will da was ändern, echt niemand. Es geht nur ums Geld und um die Macht."

Weiteres: Anke Sterneborg porträtiert für ZeitOnline die Schauspielerin Paula Beer, die aktuell in Francois Ozons "Frantz" (hier unsere Kritik) zu sehen ist. Im Tagesspiegel schreibt Jan Schulz-Ojala über die Filme von Philippe Garrel, dem das Berliner Kino Arsenal eine Retrospektive widmet. Philipp Stadelmaier (SZ) und Bert Rebhandl (FAZ) gratulieren Susan Sarandon zum Siebzigsten.

Besprochen werden Todd Phillips' Kriegssatire "War Dogs" (FR, FAZ) und Kai Wessels "Nebel im August" (SZ).
Archiv: Film