Efeu - Die Kulturrundschau

Im Bewegungstempo eines Gletschers

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.10.2016. Wie umgehen mit NS-belasteter Architektur? Bloß nicht im Urzustand belassen, meint die SZ mit Blick auf das Münchner Haus der Kunst. Verfremden ist auch keine Lösung, meint die Welt zu Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn. Unter Kritikern herrscht Konsens: Amir Reza Koohestanis Bühnenadaption von Kamel Daouds Roman "Der Fall Meursault" besteht, Woody Allens Amazon-Sitcom "Crisis in Six Scenes" fällt rasselnd durch. Die SZ erklärt, warum sich Münchner nicht für Bartók interessieren. Und Don DeLillo setzt im Gespräch mit der Welt alles auf eine Karte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.10.2016 finden Sie hier

Musik

Ohweh, beim Festival "Bartók for Europe" in München herrschte mitunter gähnende Leere im Konzertsaal, berichtet Reinhard J. Brembeck bekümmert in der SZ. Woran liegt das? "München ist musikalisch saturiert, die Neugier auf Ungewohntes unterentwickelt. Zudem schreckt das Oktoberfest mögliche Konzertgänger ab, die nach dem Kunstgenuss nicht immer gern mit Menschen in der S-Bahn fahren, die gerade aus dem Bierzelt kommen." Doch gebe es auch ästhetische Vorbehalte: Bartóks "Musik ist streng und fordernd, kompromisslos und in keinem Moment unterhaltsam oder gar vergnügungssüchtig. Das befremdet nach wie vor sehr viele Musikfreunde. Bartók wird deshalb meist nicht geliebt, sondern nur respektvoll gefürchtet." Mehr zum Festival bei BR Klassik.

In ihrem neuen Comic "Piano Oriental" widmet sich die im Libanon geborene, in Paris lebende Comiczeichnerin Zeina Abirached der Geschichte ihres Urgroßvaters, des Pianisten Abdallah Kamanja, der die westliche und orientalische Musik zusammenbringen wollte. Für die taz hat sich Benno Schirrmeister mit der Autorin unterhalten. Ihrem Ahnen, erfahren wir im Zuge, war es darum gegangen, "ein Klavier zu erfinden, auf dem sich orientalische Musik spielen lässt, für die oft Vierteltonschritte notwendig sind. ... Dieses Piano Oriental, das er gebaut hat, ist ein bilinguales Klavier. Ein Klavier, bei dem in einem westlichen Musikstück plötzlich ein wahrnehmbarer orientalischer Ton erklingen kann - ohne dass irgendetwas diese Möglichkeit des Wechsels verriete: Es sieht aus und lässt sich genauso spielen wie jedes andere Klavier der Welt. Das war für mich der entscheidende Aspekt, dass man mit diesem Klavier von einer musikalischen Sprache in die andere wechseln kann."

Weiteres: Im Zündfunk des Bayerischen Rundfunks befasst sich Klaus Walter ausführlich mit Obama und dem Pop. Thomas Winkler führt ein großes taz-Interview mit Meat Loaf, der sich rühmt, immer noch über den Stimmumfang seiner jungen Jahre zu verfügen: "Ein Elton John und ein Billy Joel sind mittlerweile zweieinhalb Töne runtergerutscht. Ich bin immer noch da oben." Für die NZZ besucht Knut Henkel die kubanische Electro-Szene. Für die SZ spricht Marcel Anders mit Van Morrison, der ein neues (in der taz besprochenes) Album veröffentlicht hat. FAZlerin Eleonore Büning gratuliert Steve Reich zum Achtzigsten (Pitchfork bespricht dazu passend eine neue Zusammenstellung).

Besprochen werden Susanne Regina Meures' Dokumentarfilm "Raving Iran" über zwei iranische DJs (Freitag), das Comeback-Album der Pixies (Freitag), das neue Album von Bon Iver (Pitchfork, ZeitOnline, mehr dazu im gestrigen Efeu),das neue Album von Survive (Pitchfork), das neue Album von Bob Weir (Pitchfork) und Bruce Springsteens Autobiografie (Tagesspiegel, mehr dazu hier).
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Bühne


Amir Reza Koohestanis "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung (Bild: Judith Buss)

Die Saison an den Münchner Kammerspielen beginnt mit Amir Reza Koohestanis Bühnenadaption von Kamel Daouds Roman "Der Fall Meursault - eine Gegendarstellung", der zuletzt auf einigen Bühnen zu sehen war. Die Kritiken fallen sehr gewogen aus. Mit "ungewohnt einfachen Szenen" bringe Koohestani Tempo in den Stoff, meint etwa K. Erik Franzen in der FR: "Der zeitweise langweilende Lamento-Ton des Buches wird aufgebrochen und weggespielt." Für Ronald Pohl (Standard) handelt es sich bei dem Stück um "eine famose Totenklage, eine Art Wiedergutmachung in Form eines Bühnenessays" und ganz eindeutig "großes Theater". Diese Inszenierung "bringt das Gedankenexperimentelle des Romans zu heller, witziger Wirkung", freut sich Patrick Bahners in der FAZ. SZlerin Christine Dössel hält den Regisseur für "einen guten Handwerker", der dem Abend "einen erfreulich menschlichen Anstrich" verleiht. Dies mache "das leichte Unbehagen darüber wett, dass der Abend vielleicht eine Spur zu nett, zu einfach, zu unterkomplex geraten ist. Auch sehr didaktisch und politisch korrekt." Nachtkritikerin Petra Hallmayer sah einige hübsche Momente, fühlte sich am Ende aber nicht verstört genug, zumal der Abend "schließlich ein wenig zeigefingernd ausklingt."

Weiteres: Im Tagesspiegel annonciert Patrick Wildermann ein Festival am Berliner Hebbel am Ufer zu Peter Weiß' "Ästhetik des Widerstands". In der Welt porträtiert Manuel Brug den aufstrebenden Tenor-Star Andreas Schager.

Besprochen werden Katie Mitchells Berliner Jelinek-Inszenierung "Schatten" (Tagesspiegel, FAZ, mehr dazu im gestrigen Efeu), die in Ludwigshafen gezeigte Choreografie "Moeder/Mutter" der Gruppe Peeping Tom (FR) und Karin Beiers "Hysteria - Gespenster der Freiheit" nach Luis Buñuel am Hamburger Schauspielhaus (taz).
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Kunst

Kunstbücher sind für den Markt und den Betrieb wichtiger denn je - nur Geld verdienen kann man damit quasi keins, erklärt Kito Nedo in der SZ: "Mit ihnen lassen sich wichtige Künstler an die eigene Galerie binden, die Verfügbarkeit bestimmter Werke in den Markt kommunizieren und die öffentliche Rezeption eines Künstlers fördern und steuern. ... Der Kunstmarkt [liebt] das Buch vor allem wegen seiner Undurchsichtigkeit: überflüssig und unverzichtbar zugleich, befeuert es den Markt mit seiner paradoxen Minus-Ökonomie auf immer neue Art und Weise." Hier eine Auswahl aktueller Kunstbücher mit unseren Rezensionsnotizen.

Weiteres: Im Tagesspiegel schreibt Nicola Kuhn zum Auftakt des Monats der Fotografie in Berlin. Claus-Jürgen Göpfert von der FR begleitet Philipp Demandt, den neuen Direktor von Städel, Liebieghaus und Schirn, beim ersten Rundgang durch seine neu ihm anvertrauten Häuser. Die FAZ hat derweil ihr gestriges Gespräch mit Demandt online gestellt.

Besprochen werden eine dem Maler Johann Peter Krafft gewidmete Schau in Schloss Philippsruhe in Hanau (FR) und Gordon Parks' Fotoausstellung "I am You. Selected Works 1942-1978" im C/O Berlin (FAZ).
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Film


Schlechte Augen: Woody Allen dreht Geriatrie-Serie für Online-Buchversandhandel.

Sichtlich kein Vergnügen hatte FAZlerin Verena Lueken bei "Crisis in Six Scenes", der Serie, die Woody Allen für Amazon gedreht hat. Am Online-Buchhändler, der jetzt auch in Fernsehen macht, lag es freilich nicht, erklärt Lueken: Der New Yorker Regisseur genoss in jeder Hinsicht die künstlerische Freiheit eines Auteurs, mit der er offenbar allerdings nichts anzufangen verstanden hat: "Während 'Golden Girls' (...) auch jüngere Zuschauer amüsierte, ist dies nun die erste Fernsehserie tatsächlich nur für Senioren. Vorwärtsschleichend im Bewegungstempo eines Gletschers. Voller Witze mit langem Anlauf, Witzen auch, in denen Hörgeräte, Ersatzhüften, schlechte Augen und Vergesslichkeit weiten Raum einnehmen." Und Miley Cyrus, die hier als Schauspielerein mit von der Partie ist, sei auch eine Katastrophe: Sie plärre "ihre Sätze in die Szenen, dass kein Erbarmen ist." Auch Carolin Ströbele von ZeitOnline winkt ab angesichts dieser umfassenden Demonstration von Ambitionslosgkeit. "Das Schlimmste", meint auch Peter Praschl in der Welt, "ist, dass sich Allen nicht einmal mehr mit seinem eigenen Allen-Rezept Mühe gibt. Er rührt seine Zutaten nur noch zusammen." David Steinitz von der SZ redet sich die Serie immerhin als "angenehmsten Anachronismus des Jahres" schön.

Weiteres: In der taz empfiehlt Carolin Weidner die Retrospektive Philippe Garrel im Berliner Kino Arsenal. In der Welt fragt Elmar Krekeler Angesichts von Götz Georges letzter Rolle im ARD-Film "Böse Wetter": "Wie sollen jetzt halb gute Filme drei viertel gut werden?" Susanne Ostwald berichtet in der NZZ vom Zurich Film Festival. Außerdem verweist die SZ auf die multimediale Website Playing Lynch, für die John Malkovich ikonische Figuren aus den Filmen David Lynchs (hier etwa als Log Lady aus "Twin Peaks") nachstellt - schöner Zeitvertreib!
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Literatur

Thomas David gibt sich in der Literarischen Welt alle Mühe, den notorisch reservierten Romancier Don DeLillo zu persönlichen Aussagen zu bewegen, etwa über seine Spiritualität und katholische Erziehung, weiß aber auch, dass es vom Autor heißt, er trage stets eine Karte mit der Aufschrift "Darüber möchte ich nicht reden" bei sich - und entlockt DeLillo damit immerhin eine Anekdote: "Das mit der Karte stimmt und ich sehe gleich mal nach, ob ich eine bei mir habe. Aber der Story hinter der Karte haftet nichts Spirituelles oder Persönliches an, sondern lediglich etwas Praktisches. Sie hat damit zu tun, dass ich in den Siebzigern andauernd gefragt wurde, wie viel Miete ich für meine Wohnung zahle. Das war eins von den Dingen, die man einander in New York fragte. 'Wie viel zahlst du für deine Wohnung?' Ich schob dann als Antwort einfach meine Karte rüber. Hier haben Sie eine."

Für die taz spricht Uwe Rada mit Nina Müller und Marcin Piekowszweski, die in Berlin die deutsch-polnische Buchhandlung betreiben. Bei EinsLive kann man den zweiten Teil der Hörspielbearbeitung von Philipp Winklers für den Deutschen Buchpreis nominiertem Roman "Hool" herunterladen. Klaus Ungerer schreibt in der Literarischen Welt zum 400. Geburtstag von Andreas Gryphius.

Besprochen werden unter anderem John le Carrés Autobiografie "Der Taubentunnel" (SZ, unsere Besprechung hier), Frank Schulz' "Onno Viets und der weiße Hirsch" (taz) und Liao Yiwus "Die Wiedergeburt der Ameisen" (FAZ).

Mehr aus dem literarischen Leben auf:


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Architektur


Die Wucht gigantomanischer Weltentwürfe: das Haus der Kunst in München (Foto: Wikiolo)

Mit Skepsis reagiert SZlerin Kia Vahland auf die Pläne, das Münchner Haus der Kunst durch rückbauende Eingriffe, wie etwa der Abholzung der "grüner Vorhang" genannten Bäume davor, wieder ans ursprüngliche, von den Nazis geplante Erscheinungsbild anzupassen. "Nichts an der neuen Begegnungsstätte wird die Naziarchitektur stören, jedenfalls keine bauliche Maßnahme. ... Jetzt soll kein Gras mehr wachsen über die Geschichte, jetzt soll alles offen daliegen. Ist das Transparenz, ein Sieg des demokratischen Geschichtsverständnisses? Oder im Gegenteil eine Kapitulation vor der Wucht gigantomanischer Weltentwürfe, in denen es sich ja auch ganz gut speisen, feiern, Kunst genießen lässt?" Wenigstens die Säulen des Hauses könnte man als Störpunkt ja wohl grün streichen, meint Vahland weiter.

Eine gegensätzliche Strategie empfiehlt eine von der österreichischen Regierung eingesetzte Kommission für Hitlers Geburtshaus in Braunau am Inn: dieses solle baulich "dekonstruiert" und verfremdet werden. Dankwart Guratzsch kann sich in der Welt überhaupt nicht damit anfreunden: "Nie war es ein 'ideologischer' Bau, sondern einer, der sich gesittet und maßvoll in die Gesellschaft seiner Nachbarhäuser einfügte. Dass sich mit dieser friedlichen Stätte für spätere Generationen Assoziationen an Krieg und Massenmord verbinden würden, hat es nicht zu verantworten. Aber gerade in dieser Diskrepanz enthüllt sich die Monstrosität des Unheils, das über die Stadt, das Land, den Kontinent gekommen ist. Sie kann durch keine noch so raffinierte 'Dekonstruktion' beschönigt, wegretuschiert oder neutralisiert werden." (Foto: Thomas Ledl)
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