Efeu - Die Kulturrundschau

Plötzlich riecht es nach Sonnencreme

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.08.2016. Die FR blickt in das neue Weltgesicht. Der Tagesspiegel betrachtet irritierende Männerkörper im deutschen Nachkriegsfilm. Die NZZ kehrt mit Fiston Mwanza Mujila in die Stößel-Mörser-Jahre des Kongo zurück. Die taz erlebt beim Wiener Impulstanz der Verflüssigung der Choreografie. In der Welt schwärmt Riccardo Chailly von der deutschen Orchesterkultur. Und die SZ informiert: Thomas Manns Villa in Los Angeles steht zum Verkauf.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.08.2016 finden Sie hier

Film


Johanna Hofer und Peter Lorre in der Nachkriegstragödie "Der Verlorene" von 1951.

Für den Tagesspiegel berichtet Anke Leweke vom Filmfestival in Locarno, wo Mario Adorf mit einer Hommage geehrt wird und das Nachkriegskino der BRD in einer Retrospektive neu in den Blick genommen wird: Der wuchtige Körper Mario Adorfs kam dem deutschen Kino allerdings bald in Richtung Italien abhanden, beobachtet sie. Und überhaupt gibt es körperpolitisch einiges in den filmhistorischen Reihen zu entdecken, zum Beispiel "der irritierte und der irritierende Männerkörper: Auch junge Rebellen wie Horst Buchholz ziehen los; angesteckt vom Rock 'n' Roll vermitteln sie ein neues Lebensgefühl zwischen Verweigerung und Pop. Natürlich haben diese Halbstarken ebenso starke Frauen an ihrer Seite. Und natürlich sucht sich die Liebe im Chaos einer sich neu einrichtenden Gesellschaft ihre ganz eigenen Wege und Umwege. Vielleicht liegt hier die schöne Erkenntnis dieser Retrospektive: dass die deutschen Leinwände nach dem Zweiten Weltkrieg eine viel breitere Projektionsfläche waren als bisher gedacht."

Dazu passend: In der letzten NZZ am Sonntag erklärte der Kurator der Retrospektive, Olaf Möller, was er mit dieser Neudeutung des BRD-Kinos bezweckt: "Wer etwas darüber erfahren will, wie schizophren die BRD damals in vielerlei Hinsicht war, was da an Widersprüchen dauernd und mit einer verblüffenden Vehemenz aufeinander­ prallte, der sollte sich Heimatfilme, Krimis und Melodramen anschauen. Diese Genres widerle­gen das Gerücht, der BRD-­Film der 1950er sei ausschließlich harmoniesüchtig und zahm ge­wesen. Hier brodelt es vor Konfliktfreude, Ag­gression und - auch sexueller - Subversion." Mehr dazu in dieser Interviewreihe mit Möller.

Im Standard schwärmt Michael Pekler von der Qualität des Wettbewerbs in Locarno: "Die ästhetische Vielfalt, mit der bekannte, aber auch neue Namen dem zeitgenössischen Kino hier Impulse geben, ist bemerkenswert." Die ästhetische Vielfalt, mit der bekannte, aber auch neue Namen dem zeitgenössischen Kino hier Impulse geben, ist bemerkenswert."
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Kunst


Ausstellung "Dada Afrika" in der Berlinischen Galerie.

Ohne die afrikanische Kunst ist Dada nur schwer denkbar. Eine jetzt aus Zürich nach Berlin kommende Ausstellung beleuchtet diesen ästhetischen Befruchtungsprozess: Dada "bereitete der afrikanischen Kunst das Podium", schreibt dazu Brigitte Werneburg in der taz. Etwa in der Ausstellung "Dada Galerie" des Reformpädagogen Han Coray, die erstmal außereuropäische und europäische Kunst zusammen zeigte: "Mit der Gleichzeitigkeit betonte Dada die Ebenbürtigkeit der Kunstanstrengungen. Auch wenn sich damit die von Dada erhoffte neue Humanität nicht realisierte, konnte die Kunstmoderne fortan hinter diese Setzung nicht mehr zurückgehen. Dass dieser Prozess weit vor jedem postkolonialen Diskurs lag, kann Dada nicht zum Vorwurf gemacht werden."

Für die FR erkundet Arno Widmann eine in China dank einer speziellen App zur Selbstaufhübschung florierende Selfie-Kultur, die ihren Zweck nicht mehr im Abbilden der eigenen Präsenz, sondern in der kosmetischen Überhöhung sieht: Das chinesische Gesicht wird in diesem ästhetischen Ideal europäischer, europäische Gesichter kommen dem auf halber Strecke entgegen. "Wir sind dabei zu sehen, wie ein Weltgesicht entsteht. Nicht dekretiert, sondern von einer geschickten Industrie, die einzugehen versteht auf die Wünsche junger Frauen, die auf der Suche nach ihrem Ich sind, die bereit sind, es zu wechseln und neue Ichs auszuprobieren. Erst einmal im Abbild und in aller Lust auf Künstlichkeit. Wir befinden uns - ästhetisch gesehen - wohl weltweit gerade nicht in einem nachrevolutionären Biedermeier, sondern ganz offensichtlich in einem vorrevolutionären Rokoko."

Christian Eger ärgert sich in der Berliner Zeitung, dass in der vielbeachteten Berliner Ausstellung "Gegenstimmen" über die dissidente DDR-Kunst die seines Erachtens unverzichtbare Künstlerin Barbara Bohley fehlt: "Bohley ist der seltene Fall einer DDR-Künstlerin, die nicht allein in die oppositionelle Existenz, sondern in die oppositionelle Aktion gegangen war."

Für das art-magazin hat sich Christa Sigg in der Münchner Villa Stuck die Ausstellung "My life on the Road" der Objektkünstlerin Sylvie Fleury angeschaut. Seit fünfundzwanzig Jahren bleibt Fleury ihren glitzernden Konsumwerken und ihrer Machokritik treu, so Sigg: "Fleury mag keine Feministin par excellence sein, aber Machosymbole zu konterkarieren gehört zu ihren Spezialitäten: So steht in Stucks Herrenzimmer eine rosa Rakete, im Speisesaal parkt eine Triumph Bonneville, die nach dem ­Willen der Künstlerin deutlich machen soll, dass 'jede Frau ein lila Motorrad in sich trägt'". (Bild: Sylvie Fleury, First Spaceship on Venus, 2015, Thaddaeus Ropac Gallery, Paris, Salzburg)

Weiteres: Für die NZZ besucht Knut Henkel die neue unabhängige Kulturfabrik von Havanna. In der FAZ-Reihe über gute Bilder schlechter Künstler schreibt Georg Imdahl über Norman Rockwells "The Connoisseur" von 1961: Der eher im kitschigen Realismus beheimatete Künstler male "in den frühen sechziger Jahren eine besondere Mischung aus Respekt und Distanz gegenüber der modernen Kunst." Für den Tagesspiegel berichtet Julius Heinrichs von der Transart-Triennale in Berlin. In der taz führt Markus Weckesser durch das Programm der Triennale der Kleinplastik in Fellbach. Für die taz schärft Tilman Baumgärtel am Smeller seine Sinne, einer derzeit in Berlin ausgestellten Duftorgel: "Leicht verhallt sind zum Beispiel die Geräusche eines Freibads zu hören, und in der Tat - plötzlich riecht es nach Sonnencreme."

Besprochen werden die Adolf-Fleischmann-Ausstellung im Haus Huth in Berlin (Tagesspiegel), Andreas Slominskis Klohäuschen-Installation in den Deichtorhallen in Hamburg (Tagesspiegel)und die Ausstellung "War of Terror" im Imperial War Museum in London (SZ).
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Literatur

In Los Angeles steht das Haus der Familie Thomas Mann zum Verkauf - und alles deutet darauf hin, dass das Gebäude abriss- und neubauwilligen Interessenten angedient wird, schreibt Peter Richter alarmiert in der SZ. Er fordert daher die Bundesregierung zum Handeln auf - schließlich habe sie in einem ähnlich gelagerten Fall auch die Residenz von Lion Feuchtwanger aufgekauft, in der sie heute das Kulturinstitut Villa Aurora betreibt: "Es geht immerhin um den Ort, an dem 'Doktor Faustus', 'Lotte in Weimar', der letzte Teil von 'Joseph und seinen Brüdern' und manche Teile der 'Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull' entstanden sind; es geht auch um ein wichtiges Werk des Berliner Architekten Julius Ralph Davidson, und es geht um den einzigen erhaltenen Ort, an dem sich die deutschsprachige Exil-Literatur mit der deutschsprachigen Exil-Architektur der Moderne eingelassen hat." Hier eine Fotostrecke.

In der NZZ stellt Angela Schader den in Graz lebenden kongolesischen Autor Fiston Mwanza Mujila vor, der in seinem beißenden Roman "Tram83" den afrikanischen Schriftsteller aufs Korn nimmt. Neben dem ehrlich-skrupellosen Gauner Requiem ist der Autor Lucien Hauptakteur der Geschichte: "Lucien laboriert an einem Drama, dessen Personal - 'in den Hauptrollen Che Guevara, Sékou Touré, Gandhi, Abraham Lincoln, Lumumba, Martin Luther King, Ceausescu' und dreizehn weitere, ähnlich gewichtige Akteure - der gespreizten Schwerfälligkeit des Titels entspricht: 'Das Afrika der Möglichkeiten: Lumumba, der Engelssturz oder die Stößel-Mörser-Jahre'. Mehr braucht es nicht, um diesen Helden von der traurigen Gestalt gründlich zu desavouieren."

Besprochen werden Andreas Maiers "Der Kreis" (Tagesspiegel, SZ), Friederike Gösweiners "Traurige Freiheit" (Zeit), Fabien Nurys und Brünos Comic "Tyler Cross" (Tagesspiegel), Jörg Drews "Lob des krummens Holzes" über den Dichter Paul Wühr (Tagesspiegel), Katarina Frostensons Gedichtband "Sprache und Regen" (SZ) und Amalie Skrams "Professor Hieronimus" (FAZ).
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Musik

Im Welt-Interview mit Manuel Brug spricht der Dirigent Riccardo Chailly über Bach und Mahler, seine neuen Stationen Mailand und Lucerne sowie seinen Abschied vom Leipziger Gewandhaus: "Wir haben hier elf wunderbare Jahre verbracht, Spielzeiten, die meine sowieso schon schwärmerische Einstellung zum großartigen deutschen Musikleben, zu dieser einzigartigen Orchesterkultur noch einmal verfestigt haben. Bitte halten Sie als Nation daran fest!"

Stephanie Grimm tummelt sich für die taz beim "By the Lake"-Festival unweit von Berlin. Im Tagesspiegel fragt sich Gerrit Bartels ob es heute wohl zum Äußersten kommt und tatsächlich das neue, schon oft verschobene Album von Frank Ocean erscheint.

Besprochen wird das neue Album der Chris Robinson Brotherhood (FAZ).
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Bühne


Chris Harings Stück Candy's Camouflage mit der Gruppe Liquid Loft beim Wiener Impulstanz.

Für die taz berichtet Uwe Mattheiss vom Impulstanz-Festival in Wien, wo er etwa bei der Gruppe Liquid Loft tatsächlich eine Vorstellung von Verflüssigung bekam: "Der choreografische Prozess wird zum alles einverleibenden Aggregat, das Bilder, Töne, Geräusche, Sprach­partikel, musikalische Einträge in sich hineinzieht und ebenso wie die Körper in ihrer Präsenz und ihren Bewegungsmustern analytisch erfasst und rekombiniert. Das akustische Umfeld, das Haring in der Zusammenarbeit mit dem Komponisten Andreas Berger entwickelt, definiert und erweitert den choreografischen Raum mit den vorgefundenen Verhältnissen und bisweilen auch gegen sie. Das aktuelle Stück 'Candy's Camouflage' existiert auf diese Weise in zwei Aggregatzuständen, als abendliche Aufführung für den traditionellen Theaterraum und als mehrstündige Performance im Kommen und Gehen des Publikums in einer Ausstellungsetage bei Impulstanz im Wiener Leopold-Museum."
Archiv: Bühne