Efeu - Die Kulturrundschau

Schönklang-Schaulaufen

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04.08.2016. Einstimmig applaudieren die Feuilletons dem neuen Almodovar "Julieta", der drei Kurzgeschichten Alice Munros folgt. Deborah Warners "Sturm"-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen fällt hingegen durch. Freitag und NZZ  glauben nach der Ausstellung "World of Malls" in München an die Zukunft der Konsumzentren. Die FAZ fordert mehr Lohn für britische Künstler. Die NZZ kann das Klagen über unpolitische Kunst nicht mehr hören und ruft den Feuilletonisten zu: Mischt euch selber ein!
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.08.2016 finden Sie hier

Film



Mit seinem neuen Film "Julieta", einer Verfilmung dreier Kurzgeschichten aus der Feder von Alice Munro, hat Pedro Almodóvar die Kritik einmal mehr für sich begeistert: "Noch nie war ein Verlust bei Almodóvar so krass wie hier", schreibt Philipp Stadelmaier in der SZ, "und auch so ersatzlos. Noch in 'Alles über meine Mutter', in dem anfangs ein Sohn stirbt, wandert die Liebe der Mutter zu anderen Liebesobjekten weiter. Was aber durch 'Julieta' zirkuliert, ist vor allem der Torso, ein Symbol von Schmerz und Versehrung, dem der spanische Regisseur mit diesem großen Film so direkt ins Gesicht schaut."

Kaum sattsehen kann sich unterdessen Tazlerin Carolin Weidner: "Es ist das bunte Geschirr der Küstenregion, es sind die bemalten Fliesen in der Küche und das Meer, das direkt vor den Fenstern zu fließen scheint. Etwas atmet aus diesen Bildern, etwas Gutes, das Almodóvar - Meister der Atmosphären kreierenden Ausstattung - dennoch immer wieder mit dem Unheimlichen kontrastiert. ... Sowieso ist 'Julieta' von einem Band siechender Frauen inmitten herrlichster Landschaften durchzogen."
In der Welt ist Manuel Brug ebenfalls glücklich und findet den neuen Almodovar weniger "kreischig, hektisch und hysterisch", dafür "ruhig, ja bedächtig".

Katja Nicodemus unterhält sich für die Zeit mit Julianne Moore, die in Rebecca Millers Komödie "Maggies Plan" (heute besprochen in taz und FAZ) zu sehen ist und sich einmal mehr als denkende Schauspielerin zu erkennen gibt: "Geborene Schauspieler sind meistens große Erzähler, die ganze Abendgesellschaften auf Trab halten können. Das war nie meine Stärke. Ich sehe mich eher als Interpretin. Ich kann nichts spielen, was nicht auf dem Blatt steht." Für ZeitOnline hat sich Martin Schwickert unterdessen mit Greta Gerwig unterhalten, die in dem Film die Hauptrolle spielt.

Weiteres: Gestern hat das Filmfestival von Locarno begonnen. Aus deutscher Perspektive besonders interessant ist die von dem Filmkritiker Olaf Möller kuratierte Retrospektive "Geliebt und verdrängt" über das Kino der jungen BRD in den Jahren von 1949 bis 1963. Beatrice Behn hat sich für das Onlinemagazin kino-zeit.de mit dem Kurator unterhalten - hier alle Interviews in einer Playlist:



Besprochen werden Paul Feigs "Ghostbusters"-Remake (Tagesspiegel, taz, mehr im gestrigen Efeu), Marcin Wronas Arthaus-Horrorfilm "Dibbuk - Eine Hochzeit in Polen" (SZ, Artechock), der spanische Thriller "La Isla Minima - Mörderinsel" (Tagesspiegel) und eine Ausstellung über das Science-Fiction-Kino in der Deutschen Kinemathek in Berlin (SZ).
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Literatur

Am 1. November wird Günter de Bruyn neunzig Jahre alt. Der Schriftsteller Norbert Hummelt nimmt dies in der NZZ schon jetzt zum Anlass mit de Bruyns Büchern durch die brandenburgische Abgeschiedenheit zu lustwandeln.

Besprochen werden unter anderem Dietmar Daths "Leider bin ich tot" (taz), eine neue Ausgabe von Wolfgang Koeppens "Jugend" (Freitag), Hernán Ronsinos "Lumbre" (Tagesspiegel), Hans Christoph Buchs "Elf Arten, das Eis zu brechen" (SZ) und Friedrich Gottlieb Klopstocks "Oden - Apparat und Kommentar" (FAZ). In der Zeit gibt es außerdem die KrimiBestenliste für August.
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Bühne

Unter ausgiebigem Gähnen berichtet die versammelte Kritik von Deborah Warners "Sturm"-Inszenierung in Salzburg. Wenn man K. Erik Franzen in der FR glauben kann, verfiel auch das Publikum "über weite Strecken des Abends in Apathie". Der Grund? Die in einem probebühnenartigen Setting umgesetzte Interpretation "erschöpft sich in falsch verstandener Shakespeare-Treue. Alles bleibt leere Illustration." Auch wenn das Stück als schwierig und wenig unterhaltsam gilt, "eine interessiertere Inszenierung" hätte sie allemal verdient, stöhnt Martin Lhotzky in der FAZ: "Dennoch vergehen die knapp drei Stunden der Aufführung recht schnell, ist man in Gedanken doch permanent andernorts, wo es freundlicher, gefährlicher oder wenigstens spannender sein mag." Der abstrakte Raum verspreche immerhin Kunstambition, doch mangelt es an einer diesem Versprechen entsprechender "experimenteller Performance", merkt Christine Dössel in der SZ an: Die Geschichte wird "seltsam schwerfällig" erzählt, und überhaupt: "Alles ist ein bisschen langweilig".

Zumindest mit gemischten Gefühlen berichtet Christian Wildhagen in der NZZ aus Salzburg, nachdem er Peter Eötvös und Peter Esterhazys "Oratorium balbulum" erlebt hat: "Unter Aufbietung aller nur denkbaren Spielarten von Dialektik und ironischer Selbstbezüglichkeit umkreisen die Autoren also den Umstand, dass sie kein Thema und folglich nichts zu sagen haben. Dieses 'Nichts-Sagen' dauert dennoch eine Stunde und changiert zwischen geistreichem Humor, mehr oder weniger gewollter Geschwätzigkeit und gepflegtem Altherrenwitz, erhält aber durch Eötvös' konzise, handwerklich souveräne Vertonung eine durchaus provokative Schärfe."

In Katharina Wagners aus dem letzten Jahr wiederaufgenommener Bayreuther "Tristan"-Inszenierung ist heuer und zum Vergnügen von SZlerin Rita Auer Petra Lang als Isolde zu hören: Und das ist eine Sängerin, die "über ein Schönklang-Schaulaufen weit hinausgeht. Lang tritt mit berstender Wut an, die Stimme in der Mittellage mit Abscheu belegt und zusammengepresst und sich dagegen in den Höhen zu erstarkter Klarheit freisingend, um schließlich in weichzeichnendem Einklang mit sich selbst in ihrer Liebes-Verklärung zu landen. Lang traut sich dabei zu keifen, sie ist stinksauer. Da wirkt Stephen Gould als Tristan wie ein Teddybär, und man denkt sich noch: 'Isolde, du bist doch keine Ortrud.'"

Für die FR unterhält sich Sylvia Staude mit dem Choreografen John Neumeier.
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Musik

Im Tagesspiegel bringt Gerrit Bartels Hintergründe zu Streitereien zwischen Kanye West und Apple. Für die FAZ resümiert Jürgen Kesting die Sommerlichen Musiktage in Hitzacker.

Besprochen wird das Hamburger Konzert des früheren Dead-Kennedys-Sängers Jello Biafra, der bei dieser Gelegenheit so erwartbar wie munter gegen Donald Trump ätzte (SpiegelOnline).

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Architektur


Schloss-Arkaden Braunschweig, Grazioli und Muthesius Architekten, 2005-2007. Braunschweig, Deutschland; © Thomas Meyer

Für den Freitag hat Lennart Laberenz die Ausstellung "World of Malls" in der Pinakothek in München besucht und sich dabei mitunter sehr gegruselt: "In den USA ist die Generation der 30-Jährigen die erste, denen die Mall Alltag war, für viele hat sie nichts mit Erlebnis, sondern mit Alternativlosigkeit zu tun. Mit den Krisen vergehen einige dieser Nichtorte, Bilderserien der Dead Malls, tumblr-Reihen von überwucherten Konsumdystopien und nostalgische Aufnahmen der kleineren Urtypen jagen einen wohligen Schauer durchs Internet. Aber die Malls als Prinzip sterben nicht, ebenso wenig hat sich die Kontrollgesellschaft mit ihrer Kultivierung von Differenz verflüchtigt - vielmehr ist die Mittelklasse unter die Räder gekommen und mit ihr die Einzelhandelsketten, die sie einkleideten."

In der NZZ denkt Andrea Gram anlässlich der Ausstellung über die Mall im Wandel der Zeit nach: "Der Siegeszug der Warenhäuser leitete den Niedergang der Einkaufspassagen ein. Dem einst mehr oder weniger luxuriösen Angebot folgte in den baulich heruntergekommenen Passagen der Verkauf von Trödel, bis sie in jüngster Zeit wieder aufgewertet wurden. Ähnlich erging es den in die Jahre gekommenen Malls der ersten Generation; und nun sehen sich sogar neuere Malls herausgefordert - und zwar durch Onlineshopping, veränderte Konsumgewohnheiten, demografische Verschiebungen und das schwindende Interesse der Jungen am Auto. Doch jeder Wandel birgt auch Chancen. So wie aus aufgegebenen Fabriken Kulturzentren und Lofts wurden, gibt es nun spannende Ansätze, die monströsen Einkaufszentren in ästhetisch ansprechende Umfelder für Wohnen, Arbeit und Freizeit zu verwandeln."

Eine kleine Gruppe von Enthusiasten will den im Krieg zerstörten Jugendstil-Prachtbau des Frankfurter Theaters wieder neu erstehen lassen, berichtet Dankwart Guratzsch in der Welt. Abwegig findet er das nicht: "Vielleicht ist es die große Vergangenheit der einst Freien Reichsstadt, dass man solche Vorschläge hier sachlich diskutiert. Goethehaus, Alte Oper, Fachwerkzeile auf dem Römerberg, neue Altstadt: all diese Projekte mussten zunächst gegen tausend Widerstände verteidigt werden. Schon zu Zeiten Goethes! Dessen Mutter (aus bester alteingesessener Familie stammend) war sich nicht zu schade, sich für 'ein Nationaltheater' in Frankfurt zu engagieren."
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Kunst

In Großbritannien regt sich Protest dagegen, dass die Arbeit insbesondere jener Künstler in prekäreren Situationen oft wenig, mitunter auch obligatorisch gar nicht entlohnt wird, berichtet Julia Voss in der FAZ. Sie hat sich mit Martin Sundram, einem Aktivisten der jungen Künstlergewerkschaft Artists' Union England unterhalten: "Wenn Sundram über die Lage von Künstlerinnen und Künstlern in England spricht, dann fällt vor allem ein Begriff: Beteiligung. 'Kunst ist heute ein Teil der Tourismusindustrie', sagt Sundram, und er fragt: 'Warum sollten die Künstler von dem Geld, das mit ihnen verdient wird, mehrheitlich nichts haben?' Das Switch House, wie der neue Anbau der Tate Modern heißt, hat innerhalb des ersten Monats seit der Eröffnung bereits eine Million Besucher angezogen."

Überall ist es zu hören: Die Kunst sei unpolitisch, "jeder Roman eine holde Feier schöner Betulichkeit", kein Dichter, Denker, Maler klagt mehr an, schreibt Roman Bucheli in der NZZ und fragt: "Aber was meinen die Feuilletonisten - wir Feuilletonisten - eigentlich, wenn wir 'einmischen' sagen? Meinen wir und wollen wir, was wir sagen? Einmischen sagt sich so schnell und so leicht. Das klingt ja auch ganz harmlos. Indessen ist doch eigentlich längst verloren, wer die Einmischung fordert. Er hat sich aus der Verantwortung weggestohlen. Andere sollen das Denken erledigen, indem sie sich einmischen. Als sei es damit getan. Denn wer weiß denn schon, wohin das noch führt, wenn sich erst einmal der Flötist oder Organist einzumischen beginnt."

Weiteres: In der taz schreibt Brigitte Werneburg zum zehnjährigen Bestehen des Musée d'Art Moderne ­Grand-Duc Jean in Luxemburg, das sich zum Jubiläum eine Wim-Delvoye-Ausstellung gönnt.

Besprochen werden die Ausstellung "Inspiration Fotografie: Von Makart bis Klimt" im Belvedere in Wien (FAZ), die Ausstellung "Nature Cultures" in der Alfred Ehrhardt Stiftung in Berlin (Tagesspiegel) und Lukas Duwenhöggers Ausstellung "You Might Become a Park" in London (SZ).
Archiv: Kunst