Efeu - Die Kulturrundschau

Gedanken sind nicht frei von Gestimmtheit

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23.07.2016. In der Welt erklärt der Schriftsteller Catalin Dorian Florescu die Beziehung zwischen Emigration, kognitiven Dissonanzen und der Macht des Erzählens. Jetzt schlägt der künftige Volksbühnen-Intendant Chris Dercon zurück, berichten Berliner Zeitung und Tagesspiegel. Die FAZ würde nach einem Besuch im Van Gogh Museum gern mal wieder anderes sehen, als dessen psychischen Krankheiten. Die SZ rezitiert mit Werner Herzog isländische Verse. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.07.2016 finden Sie hier

Kunst

(Bild: Emile Schuffenecker, copy after Vincent van Gogh's 'Self-Portrait with Bandaged Ear', 1892-1900. Van Gogh Museum Amsterdam.)

Eine neue Ausstellung im Van Gogh Museum in Amsterdam geht der Frage nach den psychischen Krankheiten des Künstlers nach. Den Biografismus, der darin lauert, hält Stefan Koldehoff in der FAZ für schwierig, zumal sich das Haus in den vergangenen Jahren zunehmend für die Person Van Goghs an sich interessiert: "Van Goghs Einfluss als Mitbegründer der Moderne und die Frage, wie seine Kunst - und nicht sein Leben - heute gesehen werden können, geraten bei den akribischen Detailrecherchen in den Hintergrund. Irgendwann sollte man sich ihr in Amsterdam wieder stärker zuwenden. Sonst droht durch die Historisierung der Person die Bedeutung van Goghs als Künstler auch für die Gegenwart auf der Strecke zu bleiben. Immer neue Besucherrekorde sind nicht alles."

Was wird wohl "the next big thing" nach Instagram und Snapchat, fragt Anika Meier im monopol-magazin, auch mit Blick auf die Kunst. Denn Social-Media-Fotografie gehört längst zum Alltag von Künstlern und Fotografen wie Alec South oder Paul Ripke, so Meier. Jener "hat sich ein paar Wochen lang mal Butterbrote zwischen die Backen gepackt und mal mit viel Elan und noch mehr Häme Modeblogger-Mädchen parodiert, bis er sich offenbar selbst langweilte."

Weiteres: Christina Spitzmüller stellt in der taz die Fotografin Sandra Ratkovic und deren Fotoprojekt "Moskau" vor. Roman Bucheli schreibt in der NZZ über Kunst und Glück.

Besprochen werden ein Bildband mit Magnum-Fotografien von Radfahrern (online nachgereicht von der FAZ), die Amy-Sillman-Ausstellung im Portikus in Frankfurt (FR) und Wael Shawkys Ausstellung im Kunsthaus Bregenz (SZ).
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Film

Die Meisterklasse, die man online bei Werner Herzog belegen kann, ist "famos", schreibt David Steinitz als offenbar frischgebackener Absolvent in der SZ. Zum Künstler werde man durch die 27 Videolektionen zwar auch nicht, doch für wenig Geld erhalte man eine "sechsstündige Selbstanalyse des Meisters, wie sie ein Interview mit einem dazwischengeschalteten Filmkritikerbesserwisser kaum leisten kann. Wenn man zum Beispiel weiß, dass Herzog jedes Mal, bevor er sich an ein neues Drehbuch setzt, möglichst laut Beethoven hört und dazu Verse von Vergil oder isländische Lyrik rezitiert, dann wundern einen die Filme, die hinterher dabei rauskommen, kein bisschen mehr."

Weiteres: Georg Seeßlen vom Freitag gerät in Steven Spielbergs Verfilmung von Roald Dahls "BFG - Big Friendly Giant" (hier unsere Kritik) ins Träumen: In der zauselig-melancholischen Titelfigur erkennt er "auch einen Autor (oder eben einen Filmemacher), der überlegen muss, was man Kindern (oder Menschen) zumuten kann." Für die taz spricht Gunnar Leue mit der Berliner Kinoorganistin Anna Vavilkina.

Besprochen wird die ziemlich durchgeknallte Cartoonserie "Bojack Horseman" von Netflix (Freitag).
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Musik

In der Jungle World porträtiert Philipp Rhensius den Dub-Musiker Roger Robinson und dessen basslastig-utopische Musik. Caren Miesberger spricht in der taz mit dem Fotograf Vincent Rosenblatt über die von staatlichen Repressionen gegängelten Baile-Events in den brasilianischen Favelas. Tazler Ulrich Gutmair war bei der Präsentation von Jens Balzers Buch "Pop - Ein Panorama der Gegenwart", bei der es offenbar sehr amüsant zuging: "Balzer disst unterhaltsam und offenbart seine Liebe zu den Avantgardisten des Pop."

Außerdem: Welt-Redakteur Michael Pilz lauscht bei einem Pet Shop Boys Konzert im Royal Opera House Hymnen auf ein Europa vor dem Brexit.

Besprochen werden das Berliner Neil-Young-Konzert (taz, Tagesspiegel, Berliner Zeitung) und neue Tango-CDs (FR).
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Architektur

Der Bayerische Rundfunk bringt ein Feature von Gabriele Pfaffenberger über junge, sozialpolitisch ambitionierte Architekten wie beispielsweise Alejandro Aravena. In der ifa-Galerie in Berlin informiert sich Tagesspiegel-Kritiker Bernhard Schulz über Positionen iranischer Architektur.
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Bühne

Bei einer Berliner Debatte über "die Zukunft der Kulturmetropole Berlin" hat auch der umstrittene designierte Volksbühnen-Intendant Chris Dercon teilgenommen. Die Berliner Presse berichtet: Dercon habe gemahnt, dass Berlin aus den Fehler anderer europäischer Metropolen lerne solle, schreibt Kerstin Krupp in der Berliner Zeitung. Diesen vorbeugen solle ein Bündnis aus Kultur-, Bau- und Sozialpolitik. Dercon "feuert eine These nach der anderen ab", beobachtete währenddessen Christiane Peitz vom Tagesspiegel. Auch habe Dercon an diesem Abend nicht nur Charme-Kapital angehäuft: "Der Theaterstreit (...) wird jedenfalls nicht beigelegt. Dercon geht mit seinen Kritikern scharf ins Gericht. Gleich zweimal prangert er die Kollegen von der Berliner Zeitung an, weil dort fälschlicherweise von der Entlassung von 50 Ensemblemitgliedern die Rede war. Es sind nur halb so viele, die übliche Zahl bei Intendantenwechseln. Auch amüsiert er sich über die Offenen Protestbriefe gegen seine Berufung." Ihr Fazit: "Versöhnung klingt anders."

Weiteres: Für den Bayerischen Rundfunk spricht Daniela Arnu mit Matthias Lilienthal über dessen erste Saison als Intendant der Münchner Kammerspiele.

Besprochen werden Franco Faccios in Bregenz gezeigter "Amleto" (online nachgereicht von der FAZ) und eine Ausstellung von Monika Rittershaus' Fotografien von Wagner-Inszenierungen im Haus Wahnfried in Bayreuth (FAZ, Deutschlandfunk).
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Literatur

Im Interview mit Carmen Eller von der Welt spricht der Zürcher Psychologe und Schriftsteller Catalin Dorian Florescu über seinen neuen, in New York wie im rumänischen Donaudelta spielenden Roman "Der Mann, der das Glück bringt", über Emigration und die kognitiven Dissonanzen, die daraus entstehen können: "Die Arbeit des Psychologen besteht ja darin, mit dem Klienten im Dialog, in der Beziehung, eine Erzählung zu finden, die für diesen Menschen vielleicht passender ist als die, die er pflegt: die depressive Erzählung oder die Angsterzählung oder die Grollerzählung. In der Beziehung zusammen einen Weg zu gehen, der es ermöglicht, sich als komplexer und offener zu sehen als die Erzählung, die einen krank gemacht hat. Als verantwortlicher Mensch, der sein Leben gestaltet. Dieses gegenwärtige Individuum braucht keine nationalen Heiligtümer und Klischees etwa über das Deutschtum oder auch das Schweizertum - weil es sich selbst hat."

Ebenfalls in der Welt singt der Autor Karl-Heinz Ott, anlässlich der Verleihung des Wolfgang-Koeppen-Preises an Thomas Hettche eine Hymne auf seinen Kollegen, der nicht nur den "Zauber" in die Welt bringe, sondern von dem auch die handlungsfixierte Literaturkritik noch einiges lernen könne: "Stil ist nicht das Gegenteil von Stoff, sondern die Sache selbst. Romane bestehen nicht aus Aussagen, sondern aus Atmosphäre. Was Gedanken keineswegs ausschließt, im Gegenteil. Denn gerade Gedanken sind nicht frei von Gestimmtheit. Und das lässt sich selten deutlicher erleben als in Hettches Büchern."

So hat sich Jack Kerouac das sicher nicht gedacht, als er in "On the Road" das revolutionäre Potential der amerikanischen Vorstadt beschrieb, versichert Sarah Pines in der Welt nach einem Besuch auf einer Wahlkampfveranstaltung Donald Trumps zwischen Schnapsgeruch und Hot-Dog-Buden: "nach Mehlkriegen, Weberaufständen, Arbeiter- und Rassenkämpfen nun der Aufstand des weißen Mannes in günstigen Turnschuhen und beigen Jeans? Warum sollten unterbezahlte Fischfabrikangestellte oder Kohleminenarbeiter einem goldglänzenden Patriarchen mit Penthouse am Hudson River in die 'Revolution' folgen? Was verbindet Trump mit Kerouac, außer dass beide in den Fünfzigerjahren ein paar Straßen entfernt voneinander in Queens lebten, in New York City studierten, Kerouac in der Upper Westside, Trump in der Bronx?"

In der SZ schreibt der Schriftsteller Lukas Bärfuss über seine Reflexionen bei der Übersetzung einiger Briefe Walter Benjamins ins Französische und die Probleme, die sich dadurch ergeben, dass die Welt Benjamins und unsere heutige grundsätzlich verschiedene sind: "Eine Übersetzung, gerade auch eine geschichtliche, sollte nicht Ähnlichkeit suchen, sondern die Differenz sichtbar machen zwischen der Gesellschaft, in der wir leben und jener, die wir uns wünschen." Außerdem sprechen Alex Rühle und Christopher Schmidt in der SZ mit den Übersetzern Frank Heibert (u.a. Don DeLillo oder Richard Ford) und Hinrich Schmidt-Henkel (u.a. Jon Fosse und Michel Houellebecq). Zu welchen Deformationen es beim Übersetzen kommen kann, erfahren wir im Zuge von Schmidt-Henkel: "Mein französisches Ich hat andere Erfahrungen und ein anderes Alter als mein norwegisches Ich."

Weiteres: Im literarischen Wochenend-Essay der FAZ erinnert der Zürcher Germanist Georges Felten an den Skandal um Arno Schmidts Roman "Seelandschaft mit Pocahontas", der dem Autor Scherereien mit der Justiz wegen angeblicher Gotteslästerung und Unsittlichkeit einbrachte, was nur mit Kunstgutachten abgewehrt werden konnte. In der taz präsentiert Waltraud Schwab Anagramme in Gedichtform von Unica Zürn, die dieser Tage 100 Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden Lucia Berlins "Was ich sonst noch verpasst habe" (ZeitOnline), Candice Fox' Serienkiller-Thriller "Hades" (taz), Jakob Wegelius' "Sally Jones - Mord ohne Leiche" (taz), Martin Lechners "Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen" (FR),Alice Greenways "Schmale Pfade" (FR), Peter Careys Hacker-Thriller "Amnesie" (online nachgereicht von der FAZ), Saša Stanišićs Erzählungsband "Fallensteller" (FAZ, mehr dazu hier) und die Ausstellung "Dichter in Badehosen" im Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf (FAZ).
Archiv: Literatur