Efeu - Die Kulturrundschau

In der Ferne hinter den Zitronenhainen

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01.06.2016. In der NZZ schreibt die syrische Schriftstellerin Samar Yazbek, dass ihr Exil begann, als ihr die Frauen ihrer Familie die Solidarität aufkündigten. Open Culture stöbert in digitalen Schätzen der British Library. Die taz stürzt sich mit Richard Linklaters Film "Everybody wants Some!!" in die Freiheit der achtziger Jahre. Das Art Magazin fährt mit Ai Weiwei Schlauchboot.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.06.2016 finden Sie hier

Film


Von Jungs geprägte, formvollendete Achtziger: Szene aus Richard Linklaters "Everybody wants Some!!". (Bild: Constantin Film Verleih)

Richard Linklaters "Everybody wants Some!!", ein Rückgriff auf die College-Komödien der frühen achtziger Jahre, findet seinen Weg ins Herz von taz-Filmkritiker Fabian Tietke. Der bemerkt zwar unter Schmerzen, "wie Jungs-geprägt diese Art Kino war und geblieben ist", doch die "formvollendete Achtziger-Jahre-Ästhetik" nimmt er als Friedensangebot gerne an: "In diesem Gesamtbild entwickelt sich selbst die bisweilen arg detailverliebte Ausstattung nicht zum manieristischen Ballast. Vielmehr setzt all das den Ton für einen schwelgerisch-verspielten Film wie ein Kinderzimmer voller Betten, das zu einer Kissenschlacht einlädt. Diese Freiheit durchzieht den Film bis in die Credits am Ende und strahlt von der Leinwand herab."

Das mit dem Männerfilm sieht Till Kadritzke von critic.de ähnlich. Interessant findet er diesen Aspekt dann aber doch: Ein Männerfilm ist "Everybody wants Some!!" nämlich "eher im Sinne einer wohlgesinnten fiktionalisierten Ethnografie. Das Alphatum einiger Exemplare untergräbt Linklater dabei schon mit seinem unaufgeregten Modus der teilnehmenden Beobachtung, durch den er behutsam freilegt, was verdrängt wird, bloße Platzpatronen in den Sportskanonen findet, Nebenflüsse im Testosteron-Strom, männliche Subjektbildungen in sexistischer Objektivierung. Wie immer bei Linklater werden die großen dramaturgischen Bögen dabei clever umschifft, emotionale Höhepunkte zugunsten einer gedämpften, aber stetigen affektiven Einbindung aufgegeben."

Weiteres: In Basel hat Rainer Knepperges den in der Neuen Münchner Gruppe 1969 entstandenen Kurzfilm "Anatahan Anatahan" gesehen, den er auf New Filmkritik so ausführlich wie anschmiegsam beschreibt. Als Geschichte von Aufruhr und Widerstand lässt sich Hannes Stein in der Welt die Wiederaufnahme der Familiensaga "Roots" gefallen, allen Boykottaufrufen von Snoop Dogg zum Trotz.

Besprochen werden Maria Schraders "Vor der Morgenröte" mit Josef Hader ("beiläufig majestätisch, beiläufig entlarvend, beiläufig intim", schwärmt Frédéric Jaeger auf critic.de) und James Vanderbilts "Der Moment der Wahrheit" mit Cate Blanchett (FAZ, Tagesspiegel).
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Literatur

In der NZZ schreibt die Schriftstellerin Samar Yazbek in einem beeindruckenden Text über das Exil, das für sie nicht erst begann, als sie Syrien verlassen musste: "Mein erstes Exil begann im Jahr 1987 an einem Sommertag. Ein Jahr zuvor hatte ich beschlossen, das Haus meiner Familie zu verlassen und als freie, unabhängige Frau zu leben. In unserer von Tradition und rigiden Wertvorstellungen regierten Gesellschaft war das eine Katastrophe. Mein Experiment endete mit der erzwungenen Rückkehr nach Hause. An jenem Tag, da ich das Exil erstmals erfahren, mich plötzlich wie in einer schwebenden Blase fühlen sollte, stand ich mit einer Verwandten auf dem Balkon. Wir hatten lange geschwiegen, als in der Ferne hinter den Zitronenhainen ein Schnellzug vorbeibrauste. Da sagte sie: 'Weißt du eigentlich, dass wir gehofft hatten, ein Zug würde dich überfahren? Dann wären wir die Schande los gewesen, die du über uns gebracht hast.' Das sagte sie. Ich schwieg. Aber seit jenem Moment lebe ich im Exil."

Bereits gestern gratulierte Thierry Chervel im Perlentaucher Gabriele Goettle zum Siebzigsten. Heute würdigt Christiane Peitz sie ausdrücklich auch als Schriftstellerin: "Eine, die hinschaut, hingeht, zuhört, sich Zeit nimmt, was im Journalismus von heute ja schon fast ein Unding ist. Sie ist eine Schriftstellerin, die einen lehrt, dass jeder Mensch etwas Besonderes ist, ein Unikum, ein Unikat."

Der rumänische Schriftsteller Mircea Cărtărescu wird 60. In der FAZ hat sein Kollege Uwe Tellkamp aus diesem Anlass eine flammende Hommage geschrieben: Cărtărescus Bücher bieten "Sprachrausch und präzise ausgearbeitete Motive, Expedition aufs große Ganze, Klatsch und Kabbala, Astrophysik und Totentanz, die Reise eines Samenfadens und die Klagen der Vergangenheit, unerreichbar geworden für den Beschwörer: All das wird zu einer Weltsage verbunden, die mit Flügeln aus Papier in die Glut hinter der bloßen Zeit strebt."

Weiteres: Im siebten Lesehimmel schwebt Josh Jolin in Open Culture: Die British Library hat ihre Schatztruhe geöffnet und mehr als 300 Originalmanuskripte digitalisiert und in einer Sammlung zum 20. Jahrhundert online gestellt, darunter George Orwells Notizen zu "1984", Ezra Pounds Anmerkungen zu T.S. Eliots "Waste Land" oder Virgina Woolfs handgeschriebene Fassung von "Mrs. Dalloway". Im Tagesspiegel resümiert Oliver Ristau den 17. Comic-Salon in Erlangen. Richard Kämmerlings empfiehlt in der Welt das Jugendbuch "Asphaltfieber" als Gegengift zu Alexander Gaulands Boateng-Bemerkung.

Besprochen werden Catalin Dorian Florescus "Der Mann, der das Glück bringt" (ZeitOnline), Reinhard Jirgls "Oben das Feuer, unten der Berg" (SZ) und Ernst Jandls "Werke in sechs Bänden" (FAZ).
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Musik

In der taz hält Arno Frank die Karlsruher Entscheidung zum Sampling mit Verweis auf die Popgeschichte für durchaus vernünftig. "Mit dem Sampling wird die Popgeschichte zum einzigen Instrument, auf dem sie selbst weitergeschrieben werden kann. Verständlich, dass dieser Zugang historische Figuren wie Ralf Hütter kränkt und Juristen verwirrt. Immerhin wankt ein Künstlerbild, das noch aus der Renaissance stammt." (Mehr zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in 9Punkt)

"Geht's noch ein wenig größer?", fragt Manuel Brug in der Welt mit Blick auf das anstehende Arbeitsprogramm des gerade mal 37-jährigen Dirigenten Andris Nelsons: Schostakowitsch-Zyklus, Bruckner-Zyklus, Beethoven und Ring in Bayreuth.

Weiteres: Für die Berliner Zeitung unterhält sich Tilman Baumgärtel mit dem Klangkunst-Pionier Bill Fontana, der heute in Berlin auftritt. Monika Dietl berichtet in der taz von Viv Albertines Berliner Lesung aus ihrer Autobiografie.

Besprochen werden das Album "Ha, Ha, He" von Mourn (Spex), Mobys Buch "Porcelain" über das New York der 90er (Tagesspiegel), das neue Album von PJ Harvey (FR) und das Frankfurter Konzert von Tortoise (FAZ).
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Bühne

Interessiert berichtet Dagrun Hintze in der NZZ von der Bürgerbühnentagung in Karlsruhe, die sich partizipativen Formen des Theaters verschrieben hat. Im Tagesspiegel ärgern sich Christine Wahl und Patrick Wildermann über Berliner Förderbeschlüsse, die den Fortbestand einiger Projekte der Freien Szene in der Hauptstadt in Frage stellen. Für die FR spricht Sylvia Staude mit dem Ballett-Choreografen Richard Siegal. Astrid Kaminski empfiehlt in der taz das in Hamburg auf Kampnagel stattfindende Festival "Projeto Brasil".

Besprochen werden Leander Haußmanns "Räuber"-Inszenierung am Berliner Ensemble ("Effekttheater", meint Mounia Meiborg in der SZ) sowie Georg Haas' und Händl Klaus' in Schwetzingen uraufgeführte Oper "Koma" (FAZ).
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Kunst

Kommando Schleuser-Spezialkräfte? Der schwarze Playmobil-Block? Das Flüchtlingsboot von Ai Weiwei

Ai Weiwei hat auf Instagram sein neues Kunsprojekt präsentiert. Durchaus überzeugend findet Angelika Schoder im Art Magazin die mysteriösen Figuren im Schlauchboot, die aus schwarzer Rettungsfolie gefertigt, so unheimlich wie fragil wirken: "Erst aus einer anderen Perspektive auf Ai Weiweis Kunstwerk offenbart sich, dass sich zwischen den aufrecht sitzenden Figuren in der Mitte des Boots weitere Gestalten befinden. Anhand der Einzelaufnahmen auf Ai Weiweis Instagram-Account lässt sich schließlich deren Bedeutung erkennen: Die kauernden Figuren halten kleinere Gestalten und Bündel in ihren Armen - es sind Kinder und Babys, ebenso überlebensgroß, aufblasbar und gesichtslos wie ihre aufrecht sitzenden Pendats."

Schwierig findet Matthias Hannemann in der FAZ das von Henrik Grimbäck und Ida Grarup Nielsen kuratierte, schon im Vorfeld umstrittene "Märtyrermuseum" in Kopenhagen, deren Macher betonen, sich um eine künstlerische Annäherung an das Phänomen des Märtyrers in der Geschichte und den verschiedenen Kulturen zu bemühen: "Die Künstler, die immer wieder betonen, nicht vergleichen zu wollen, bewirken doch nichts anderes: Man beginnt die 'Märtyrer' wie beim Supertrumpf-Kartenspiel zu vergleichen. Das Museum wird zur begehbaren Begriffsgeschichte."

Besprochen werden die Retrospektive zu Ingeborg Lüscher "Das Licht und die Dunkelheit knapp unter den Füßen" im Kunstmuseum Solothurn (NZZ), die große Hieronymus-Bosch-Schau in Madrid (taz), die Ausstellung "Deutschland gegen Frankreich - im Kampf um den Stil 1900-1930" im Bröhan-Museum in Berlin (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Paul Klee - L'ironie à l'œuvre" im Centre Pompidou (SZ)
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