Efeu - Die Kulturrundschau

Monströs externalisiertes Defizienz-Selbst

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26.05.2016. Akiz' Horrorfilm "Der Nachtmahr" setzt das neue deutsche Filmwunder fort, freut sich die tazGauguin war zwar ein schlechter Maler, aber ein exzellenter Keramiker, lernt die NZZ in einer Kopenhagener Ausstellung. Der Tagesspiegel geißelt den feuilletonistisch-graphicnovelistischen Komplex, der deutschen Zeichnern alle Lust am fröhlichen Schund nehme.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.05.2016 finden Sie hier

Film

Berührte Seele: Szene aus "Der Nachtmahr".

Nanu? Gibt es etwa ein neues deutsches Filmwunder? Nach gefeierten Filmen wie Nikias Chryssos' "Bunker", Nicolette Krebitz' "Wild" und jetzt gerade in Cannes Maren Ades "Toni Erdmann" ist die Filmkritik jetzt auch von "Der Nachtmahr" geflasht, den der Regisseur Achim Bornhak unter dem Pseudonym Akiz mit Guerillamethoden ohne Filmförderung realisiert hat. Andreas Busche in in der taz ziemlich hin und weg von diesem rauschhaften Berliner Coming-of-Age-Horrorfilm über die junge Raverin Tina, die eies Nachts am Kühlschrank einem grünen Gnom begegnet, eine "realisierte Manifestation von Tinas Ängsten. Wenn sie das possierliche Wesen anfasst, fühlt es sich an, als berühre sie ihre Seele. Natürlich ist sie die Einzige, die den Nachtmahr sehen kann. Die Eltern glauben, ihre Tochter sei auf Drogen, ihre Freundinnen denken, Tina wolle sich nur wichtig machen. So eskaliert die jugendliche Identitätskrise."

Auch Oliver Nöding von critic.de ist rundum begeistert: Dem Filmemacher gelinge etwas, "womit sich gerade der deutsche Film erfahrungsgemäß sehr, sehr schwertut. Die Zeichnung der Jugendlichen und ihrer Probleme wirkt hier tatsächlich endlich einmal unaufgeregt und authentisch, kommt ganz ohne sozialpädagogisch verbrämten Paternalismus oder altkluge Relativierung aus." Regisseur Akiz zeichnet hier die "zärtliche Utopie eines Auswegs aus Einsamkeit und Entfremdung", lobt Nicolai Bühnemann im Perlentaucher. Und Drehli Robnik von der Filmgazette schwärmt: "Carolyn Genzkow brilliert als Gör mit Schnoferl, die zu sich steht - zu ihrem monströs externalisierten Defizienz-Selbst." Für ZeitOnline stellt Kaspar Heinrich den Regisseur und dessen Motive genauer vor.


Szene aus Sohrab Shaid Saless' "Utopia" von 1982

In einer Retrospektive des Berliner Zeughauskinos gibt es den ziemlich in Vergessenheit geratenen, iranischen Regisseur Sohrab Shaid Saless wiederzuentdecken, der in den 70er und 80er Jahren vor allem für das deutsche Fernsehen arbeitete, schreibt Fabian Tietke in der taz: "Außer Rainer Werner Fassbinder hat niemand die Sozialpsychologie der BRD so konsequent bloßgestellt wie Saless. Anders als Fassbinder verzichtet Saless auf jede Stilisierung und setzt die Zuschauer der Brachialität des Freigelegten direkt aus. Saless' Filme sind Hauptwerke des westdeutschen Films." Zu den ausgesprochenen Verehrern Saless' zählt auch der Filmemacher Romuald Karmakar. in seinem Blog empfiehlt er insbesondere den dreistündigen Fernsehfilm "Utopia" mit dem jungen Manfred Zapatka: "Saless-Filme sind Gegenmodelle der Zerstreuung. Niemand wird verschont, man kriegt nichts geschenkt, doch wird man am Ende reichlich belohnt. Keine billigen Tricks, keine falschen Gefühle, reines, modernes Kino, auf das sich auch die gegenwärtigen Größen des iranischen Kinos beziehen."

Weitere Artikel: Klaus Lemke ist sich nach Maren Ades "Toni Erdmann" sicher: Das deutsche Kino "wird sich ändern", wie er im aktuellen Watson-Interview gegenüber Simone Meier gesteht: "Das ist keine künstlerische Hochfrisur, das ist ein Film, der seine Logik aus sich selbst entwickelt. Deshalb ist er so irrwitzig komisch und trifft so sehr den Nerv unseres Landes." Dominik Kamalzadeh vom Freitag war sehr zufrieden mit dem Cannes-Jahr 2016 - auch wenn die Preise an die falschen Filme gingen. Für die Filmgazette schreibt Nicolai Bühnemann über das Kino Eloy de la Iglesias', dem sich vor kurzem eine Frankfurter Retrospektive gewidmet hatte. Und daran könnten sich deutsche Multimillionäre doch mal ein Beispiel nehmen: Eine anonyme Spende von 87 Millionen Pfund gestattet dem British Film Institute eine großzügige Modernisierung, meldet der Guardian.

Besprochen werden Sion Sonos neuem Film "The Whispering Star" (taz, perlentaucher, FAZ), Duncan Jones' "Warcraft: The Beginning" (Welt), James Bobins "Alice im Wunderland" (Welt), Jodie Fosters "Money Monster" (Berliner Zeitung, FR, Tagesspiegel), die Netflix-Serie "Marseille" mit Gérard Depardieu (Freitag), Laura Israel Biopic "Dont Blink - Robert Frank" (NZZ) und Ralph Hammerthalers Buch "Der Bolschewist: Michael Tschesno-Hell und seine DEFA-Filme" (Freitag).
Archiv: Film

Kunst

Gauguin betrieb Kunst als - nicht sehr erfolgreiches - Geschäftsmodell, war kein besonders guter Maler und konstruierte das "Primitive" seiner Bilder als "unique selling point", lernt NZZ-Kritiker Samuel Herzog in einer Gauguin-Ausstellung in der Ny Carlsberg Glyptotek in Kopenhagen. Doch er erlebt auch eine positive Überraschung - bei den Keramiken des Künstlers: "Der 'Portrait Head of a Martinique Woman with Kerchief' von 1987/88 etwa stellt ein ebenso natürliches wie lebendiges Porträt einer jungen Frau dar. Selbstbewusst und klar erscheint sie vor uns - ja fast glaubt man, sie müsse jeden Moment ihre leicht gesenkten Augen heben und ihre entspannten Lippen öffnen. Noch bezaubernder ist die peruanisch inspirierte Vase in Form einer Frauenbüste mit Schlangen-Gürtel - ihre Züge können es leicht mit der Anmut einer Nofretete aufnehmen. Und diese Keramiken soll wirklich dieselbe Hand geschaffen haben, die malend oder zeichnend bei fast allem scheiterte, was sich nicht flach und parallel zur Bildoberfläche bewegte? Man traut seinen Augen nicht." (Bild: Paul Gaugin, Portrait-Head in unglazed Stoneware of Martinique Woman with Kerchief 1887. Ny Carlsberg Glyptotek)

Besprochen werden außerdem die von Neo Rauch zusammengestellte Ausstellung "Vater und Sohn" mit Arbeiten seines Vaters Hanno Rauch in der Grafikstiftung Neo Rauch in Aschersleben (Berliner Zeitung) und Albrecht Gehses Schau im Gasometer in Berlin (Tagesspiegel).
Archiv: Kunst

Bühne

Bei einem Kongress im Maxim-Gorki-Theater in Berlin debattierten unter anderem die jüdischen Schauspieler Max Czollek und Sasha Salzmann darüber, dass sie es leid sind, vom hiesigen "Gedächtnistheater" auf pädagogisch-jüdische Rollen für das deutsche Mehrheitspublikum festgelegt zu werden. "Dabei geht es ihnen mitnichten um die Behauptung, Gedenken sei unwichtig, oder gar darum, dass es jetzt mal genug sei mit dem Reden über den Holocaust", berichtet Sophie Elmenthaler im Freitag: "Es geht, kurz gesagt, um Selbstbestimmung, um die Emanzipation von einem Verständnis jüdischer Identität, das Juden in Deutschland eine feste gesellschaftliche Rolle zuweist. 'Juden haben bestimmte Funktionen zu erfüllen, das ist, über Antisemitismus zu reden, über die Shoahgeschichte ihrer Familie und über Israel', sagt Max Czollek."

Liegt's am Publikum? Im Interview mit der NZZ findet Intendantin Barbara Frey keine rechte Antwort auf die wiederholte Frage, warum das Schauspielhaus Zürich derzeit so schlecht besucht ist: "Was sollen wir tun? Musicals bringen? Nochmals Frisch und Dürrenmatt? Wir spielen diese Autoren nicht, um die Hütte zu füllen, sondern weil sie uns interessieren. Die Zauberformel, die Sie suchen, gibt es nicht. Vielleicht hat mein Nachfolger eine? Wenn Teile des Programms, das wir machen, offensichtlich nicht gut genug sind für Zürich: Was soll ich da machen? Ich werde mir jedenfalls die Lust am Theatermachen nicht nehmen lassen! (geht ab)"

Weiteres: Im Tagesspiegel wirft Patrick Wildermann einen Blick ins Programm des Performing Arts Festivals in Berlin.

Archiv: Bühne

Literatur

In der taz gratuliert Jochen Schimmang dem Schriftsteller Guntram Vesper zum 75. Geburtstag. Zugleich bespricht er dessen vor kurzem mit dem Leipziger Buchpreis gewürdigten Roman "Frohburg", den er zudem vor Hintergrund des Schaffens des Autors einsortiert. "Vespers Bücher", schreibt Schimmang, "sind eine Geschichtsschreibung, die den uralten Zusammenhang von Literatur und Historiografie wiederherstellt, indem sie die konkreten Geschichten nicht zugunsten der vorschnellen Stiftung des Großen und Ganzen unterschlägt. Spätestens seit 'Frohburg' ist klar, dass er mit dieser deutschen Geschichtsschreibung in der jüngeren deutschen Literatur nur mit Uwe Johnson vergleichbar ist, an den es in 'Frohburg' bei der Beschreibung eines Kindheitsurlaubs an der Ostsee eine kleine Hommage gibt. Dagegen ist (...) im Vergleich mit Vesper das Werk Walter Kempowskis doch recht betulich."

Kurz vor Verleihung des Max-und-Moritz-Preises staunt Marc-Oliver Frisch (Übersetzer der Zombiecomic-Reihe "The Walking Dead"), dass sich unter den Nominierten des sonst eher auf distinkten Kunstanspruch zielenden Preises auch einige trivialere Comicstoffe finden. Anlass für ihn, sich im Tagesspiegel mal die "deutsche 'Graphic Novel'-Clique" zur Brust zu nehmen: Wo bleibt der fröhliche Schund, die Lust am Populären, der souverän zwischen Unterhaltung und Anspruch jonglierende Genrecomic? Das grundsätzliche Problem solcher Stoffe sei "ein Mangel an Unterstützung, wie sie der feuilletonistisch-graphicnovelistische Komplex seinen beim eigentlichen Publikum weitgehend auf Desinteresse stoßenden Schinken seit Jahren stur angedeihen lässt. ... Sie haben keine Lobby, weil sie weder die Pseudo-Seriosität der 'Graphic Novel' bieten noch mit aus dem Ausland importierten Genrestoffen sofort kommerziell konkurrieren können. Der Aufwand, deutsche Unterhaltungscomics populär zu machen, schien den deutschen Verlagen, Feuilletons und Fachjurys bislang wohl zu groß."

Besprochen werden u.a. Judith Hermanns Erzählungsband "Lettipark" (FR), Aleksandar Hemons "Zombie Wars" (FR),
und Saša Stanišićs Erzählungsband "Fallensteller" (Freitag).
Archiv: Literatur

Musik

Für die Berliner Zeitung unterhält sich Katja Schwemmers mit Rick Astley, der nach seinem Comeback als Internet-Meme ("Rickrolling") nun auch ein künstlerisches Comeback in Angriff nimmt. Im Tagesspiegel erklärt Stefan Schomann die Bedeutung von Musik für die Erinnerung der Armenier an den Völkermord in der Türkei. Michael Pilz schreibt in der Welt zum Neunzigsten von Miles Davis.

Besprochen werden Steve Reichs "Four Organs/Phase Patterns" (Pitchfork), ein Konzert von Denzel + Huhn und Saroos (taz) und Rokhsareh Ghaem Maghamis Dokumentarfilm "Sonita" über die afghanische Rapperin Sonita Alizadeh (Tagesspiegel).
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Architektur

Die Rotterdamer Architekturbiennale möchte urbane Transformationsprozesse nicht nur darstellen, sondern sich auch einmischen, erzählt Paul Andreas in der NZZ. Der Politologe und diesjährige Chefkurator Maarten Hajer suche dabei nach einem "ganzheitlichen Stadtbegriff": "Die Stadtrezepte der Zukunft müssen für ihn noch stärker als bisher auf soziale Teilhabe fokussiert sein. Er fordert deshalb funktionierende öffentliche Räume - insbesondere aber auch ein Bewusstsein aufseiten der Unternehmen, verstärkt etwas zur lokalen Wertschöpfung beizutragen. Die integrierte Betrachtungsweise aller drei Aspekte bezeichnet Hajer als elementar - und folgt dabei jenem 'social turn', der sich seit einigen Jahren in den Planungsdiskursen verstärkt abzeichnet: Selbst die in zwei Tagen beginnende Architekturbiennale von Venedig wird diesmal weniger eine Leistungsschau der Stararchitekten sein als einer globalen sozialen Agenda folgen."
Archiv: Architektur