Efeu - Die Kulturrundschau

Witterungsvermögen für akute Ausdrucksformen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.04.2016. In der Welt erzählt Hallgrímur Helgason von der Zombiewerdung des Herrn Gunnlaugsson. Die FAZ liest die Liebesbriefe des jungen Rolf Dieter Brinkmann. In Profil vermisst Christian Petzold im deutschen Kino echte schwielige Arbeiterhände. Die taz erlebt in Nicolette Krebitz' Film "Wild" echte Nacktheit, die friert und glüht. Die NZZ bewundert die Präzisionsarchitektur des Berliner Büros Barko Leibinger. Die Popkritik windet sich vor Schmerzen nach der Echo-Verleihung. In der SZ erklärt Wolfgang Ullrich den Unterschied zwischen einem Kunstwerk und einer Yacht.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.04.2016 finden Sie hier

Architektur


Pavillon der American Academy am Berliner Wannsee. Foto: Barko Leibinger.

In der NZZ stellt Jürgen Tietz das Architekturbüro Barkow Leibinger vor, das sehr innovativ die Präzisionstechnik zur Materialbearbeitung in der Baukunst nutzt. Für die Londoner Serpentine Gallery bauen sie in diesem Jahr den Sommerpavillon: "Je nach Standort und Blickwinkel des Betrachters überlagern sich die Metallstäbe zu einem undurchdringlichen Dickicht, einem diaphanen Metallschleier, oder sie lassen die Blicke ungehindert durch die Räume wandern. Dass sie die Bauaufgabe Pavillon auch ganz anders, aber nicht minder kunstvoll zu lösen vermögen, haben Barkow Leibinger 2015 im Garten der American Academy am Berliner Großen Wannsee gezeigt. Unter mächtigen Baumkronen steht dort ihr kleiner Pavillon aus Stahl und Glas mit Studioli für die Gäste der Akademie. Der ganz in Weiß gehaltene Pavillon erweist sich als eine zeitgenössische Variation von Mies van der Rohes Farnsworth-Haus, freilich mit einer komplizierten, gegeneinander versetzten Dachfigur aus Stahl."
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Musik

Die Popkritiker winden sich vor Schmerzen: Elend, dein Name ist deutsche Popmusik und die Verleihung des Echos dein Gottesdienst. Ringsum geklagt wird nicht nur, weil die vor drei Jahren noch unter viel Aufregung vom Preis ausgeschlossenen, da rechtsverdächtigen Frei.Wild sich diesmal ohne nennenswerten Gegenwind eine Trophäe abholen durften, sondern auch, weil man sich für die restliche Revue an Preisträgern und Auftretenden "eigentlich in Grund und Boden schämen müsste", wie Jens-Christian Rabe in der SZ schluchzt. Er sah "eine grauenvolle deutsche Schlagerparade", die seiner Ansicht nach in allen Punkten kläglich versagte: "Man möchte so etwas bitte nie, nie, nie wieder sehen und hören müssen. Bitte."

Ja, diese Verleihung war "vermurkst", meint auch Nadine Lange im Tagesspiegel und rät dringend zu einer Preisvergabe durch eine unabhängige Jury. Darauf wird man bis auf weiteres jedoch nicht hoffen dürfen, wenn man Jens Balzers Bericht in der Berliner Zeitung gelesen hat. Der saß nämlich in der Jury für den Kritikerpreis, der wegen seiner geringen Massentauglichkeit oft kritisiert und deshalb aus der Gala gestrichenen wurde. Dieses Jahr stimmte die Jury anonymisiert ab und prompt ging der Preis an Joris, einen Musiker also, "der so konturlos und weichgespült war, dass man ihn nicht nur in die Show hinein-, sondern dort sogar ein ganzes Lied singen ließ ... Sollte irgendein Mitglied der Echo-Kritikerpreis-Jury tatsächlich für Joris gestimmt haben, bitte ich es darum, sich umgehend bei mir zu melden. Alle Juroren, die ich am Donnerstagabend noch sprach, wollten hingegen umgehend ihren Rücktritt von diesem Amt erklären." In der taz begibt sich Jenni Zylka unterdessen auf die Suche nach der politischen Bedeutung des Abends.

Weiteres: Die Klassik entdeckt mit speziell auf die Bedürfnisse der Liebhaber zugeschnittenen Angeboten (wie etwa diesem und jenem) das Bezahlstreaming, berichtet Michael Stallknecht in der SZ.

Besprochen werden das Frankfurter Laibach-Konzert (FR), die Compilation "Refugees Welcome" (Freitag), die neue EP von Com Truise (Popmatters) und Heinrich Deterings Studie "Die Stimmen aus der Unterwelt - Bob Dylans Mysterienspiele" (SZ).
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Bühne

Als "großartige Hommage" an Heiner Müller feiert Ronald Pohl im Standard die Inszenierung des "Auftrag" im Schauspielhaus Hannover: "Der Stücktext folgt einer Erzählung von Anna Seghers. Leider ist bei Einsetzen der Handlung die Revolution auch schon wieder vorüber. Zurück bleiben, im Zustand der Auflösung und des moralischen Bankrotts, die Emissäre. Debuisson wird zum Verräter und ergibt sich dem Wohlleben. Der Schwarze Sasportas endet am Galgen, der Bauer Galloudec verreckt am Wundbrand. 'Die Revolution ist die Maske des Todes': Müllers schwarze Metaphorik dürfte bereits zum Entstehungszeitpunkt als Verlustanzeige gelesen worden sein."

Besprochen werden Akram Khans bei den Wolfsburger Movimentos gezeigte Choreografie "Until the Lions" (Tagesspiegel), Krzystof Garbaczewskis Bühnenbearbeitung von Raymond Roussels Roman "Locus Solus" an der Berliner Volksbühne (Tagesspiegel) und Barrie Koskys Inszenierung von Verdis "Macbeth" in Zürich (FAZ).
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Literatur

In der Welt grämt sich der Schriftsteller Hallgrímur Helgason, dass die Isländer jetzt wieder die "unmoralischen Deppen vom Atlantik" geben müssen und bedankt sich dafür ganz herzlich beim Herrn Gunnlaugson, der stets isländisches Essen und isländisches Geld predigte, aber doch karibische Konten bevorzugte, wie er im legendären Interview am Sonntag zugeben musste: "Das Interview wurde am 11. März aufgezeichnet, aber erst am letzten Sonntag, dem 3. April, gesendet. Er wusste, dass er politisch tot war, erzählte aber niemandem davon, nicht einmal seinen engsten Verbündeten, und wurde dabei jeden Tag zombiehafter, ohne dass irgendjemand gewusst hätte, warum. Diesen homerischen, also Homer-Simpsonhaften Wesenszug hat er schon vorher gezeigt: Gab es ein Problem, kniff er die Augen zu und hoffte, dass es verschwand."

Lange unzugänglich, liegen die Liebesgedichte, die der sechzehnjährige Rolf Dieter Brinkmann 1957 für eine aus der Ferne angehimmelte Internatsschülerin geschrieben hat, nun endlich vor. Markus Fauser, Leiter der Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann an der Universität Vechta, schreibt darüber ausführlich in der FAZ. Neben der großen Zahl der Gedichte sei "auch der Sprachüberschuss" des angehenden Autors auffallend: "Bemerkenswert sind die hohe Empfänglichkeit, das ungewöhnliche Witterungsvermögen für akute Ausdrucksformen und die spürbare Expressivität, die Breite seiner sprachlichen Möglichkeiten. Gewiss, das eingesetzte Vokabular ist zeitgenössisch belegt, manches bloß Konfektionsware ... Ein Anfang nur? Ja natürlich. Aber was für einer!"

Maxim Billers von der Kritik mit spitzen Fingern angefasster Roman "Biografie" ist zwar ein "dickes Ich-zeig's-euch-jetzt-mal-Buch", seufzt Dirk Knipphals in der taz zunächst, doch "mit dem Lesen anzufangen hat zu meiner eigenen Überraschung Spaß gebracht". Weshalb er fortan einen wöchentlichen Lektürebericht zur taz beisteuern will: "Mal sehen, wie es weitergeht." In der Welt outet Jana Hensel Biller als Moralisten.

Weiteres: Für den Tagesspiegel fasst Gerrit Bartels die aktuellen Turbulenzen im Berliner Verlagsleben zusammen. In der taz porträtiert Maria Caroline Wölfle den homosexuellen iranischen Lyriker Payam Feili, der in Israel einen Asylantrag gestellt hat. Jonas Engelman würdigt in der Jungle World die Kurzgeschichten des Comicautors Adrian Tomine. Der Tagesspiegel hat Gregor Dotzauers Nachruf auf Imre Kertész online nachgeliefert. FAZler Paul Ingendaay spricht mit Kafka-Biograf Reiner Stach.

Besprochen werden Richard Yates' Roman "Cold Spring Harbor" (NZZ), Joan Sales' "Flüchtiger Glanz" (NZZ), Margit Schreiners "Das menschliche Gleichgewicht" (NZZ), John Irvings "Straße der Wunder" (FR), James Tiptree Jr.s "Liebe ist der Plan" (taz), Jeong Yu-jeongs "Sieben Jahre Nacht" (taz), Gavriel Savits Jugendroman "Anna und der Schwalbenmann" (Tagesspiegel), Anna Galkinas "Das kalte Licht der fernen Sterne" (ZeitOnline), Benedict Wells' "Vom Ende der Einsamkeit" (SZ), Rainer Warnings "Marcel Proust" (FAZ) und die Ausstellung "Der Weltpoet" über den Dichter Friedrich Rückert in der Kunsthalle Schweinfurt (FAZ).
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Film



Für die taz spricht Carolin Weidner mit Nicolette Krebitz, deren dritte Regiearbeit "Wild" kommende Woche ins Kino kommt. Darin verliebt sich eine von Lilith Stangenberg verkörperte Frau in einen Wolf. Regisseurin und Schauspielerin setzten dabei auf eine spezifische Nacktheit: Nacktheit "kann tollkühn sein oder verletzlich. Eine Schönheit haben oder auch etwas Unbekanntes. ... Wenn Lilith das spielt, dann ist es eben nicht mehr 'Eine Schauspielerin zieht sich aus', sondern 'Eine Figur setzt alles auf Rot'. Dann wird die Nacktheit plötzlich ein Kostüm - das essenzielle Kostüm für diese eine Szene. Generell gebe ich aber auch gerne zu, dass es für mein Empfinden in den letzten Jahren zu wenig Nacktheit im Film gegeben hat. Wirkliche, echte Nacktheit, die Teil der Erzählung ist, die friert oder glüht und nicht bloß ausstellt oder zum Verkauf da ist."

Das Österreichische Filmmuseum in Wien zeigt eine Retrospektive von Christian Petzold samt einer Carte Blanche für den Berliner Regisseur. Bereits vor einigen Tagen hat Stefan Grissemann in Profil ein schönes Interview mit Petzold geführt. Unter anderem geht es darin um Beobachtungen, die er mit Harun Farocki im Kino gemacht hat: "Uns fiel auf, dass die Hände, die gefilmt wurden, keine echte Physis mehr hatten, keinen Ausdruck, keine Bedeutung. Wo waren die Arbeiterhände im Kino? Warum gab es keine Schwielen mehr? Warum sahen die Darsteller von Proletariern alle so aus, als hätten sie einen Hochschulabschluss? In den 1970er-Jahren, in John Carpenters Filmen zum Beispiel, konnte man noch Frauenhände sehen, die eine Waffe nachladen, und es war klar, das sind die Hände einer Frau aus der Arbeiterklasse. Sie waren nicht schön, sondern geschickt. Und ich wollte unbedingt Filme machen, in denen es auch um die Körper der Menschen geht. Ich wollte dieses Physische zeigen und sehen: Hände, Bewegungen, Gesichter." Im Standard schreibt Dominik Kamalzadeh über die Petzold-Reihe.

Im Freitag verabschiedet sich Matthias Dell von Michael Ande, der nach 39 Jahren als Assistent des "Alten" seine Dienst quittiert. Eine Träne Wehmut kann sich der Kritiker dabei nicht verkneifen: "Das billig runtergedrehte Textaufgesage, das 'Der Alte' heute ist, verbindet mit den bisweilen grandiosen Folgen aus der Lowitz-Zeit, in denen ein Regisseur wie Zbyněk Brynych das Ringen mit der Schuld im postfaschistischen Westdeutschland kühn inszenierte, nichts mehr. Nun nicht mal mehr Andes Assistent."

Weiteres: In der FAZ gratuliert Andreas Rossmann dem Ruhrpott-Auteur Adolf Winkelmann zum 70. Geburtstag. Besprochen wird die von Martin Scorsese und Mick Jagger produzierte Serie "Vinyl" (ZeitOnline).
Archiv: Film

Kunst

Das Museum hat für Künstler ausgedient, heute ist der Markt für den Ruhm entscheidend, beobachtet Wolfgang Ulrich in seinem Essay "Siegerkunst". Im SZ-Interview mit Kito Nedo sagt er dazu: "Siegerkunst profitiert noch von den Errungenschaften der Moderne, hat aber zugleich die ökonomische Auszeichnung durch den Markt. Einerseits ist sie das Glamouröse, Teure, Spektakuläre und spielt in der Liga der größten Luxusgüter mit. Andererseits aber wird ihr nach wie vor attestiert, dass sie etwas ist, was läutern, den Alltag transzendieren kann, was spirituelle, geistige, intellektuelle Kräfte besitzt. Das unterscheidet sie von einer Yacht oder einem Edelsteincollier."

Manchmal bergen Wiederentdeckungen durch Ausstellung keine "Schatzhäuser", sondern "bloß eine Rumpelkammer", meint Peter Iden ernüchtert, nachdem er die Arbeiten von Giorgio de Chirico in der Staatsgalerie Stuttgart gesehen hat, die für seinen Geschmack viel zu viele Bilder aus der raunenden Spätphase des Künstlers zeigt. Format gewinne die Schau vor allem durch die Werke weiterer surrealistischer Künstler. Und an dieser Ausstellung "nicht hoch genug wertzuschätzen ist das Ereignis, das in Wahrheit ihr Zentrum ist: Die Präsenz von fünf Hauptwerken René Magrittes aus den Jahren 1926 bis 1933."

Weiteres: In der SZ porträtiert Jan Kedves den syrischen Comiczeichner Hamid Sulaiman, der mit einem Selfie nach den Pariser Attentaten im November weltweit bekannt wurde und dessen Comic "Freedom Hospital" nun in Berlin ausgestellt wird. Nicola Kuhn berichtet im Tagesspiegel von den Vorbereitungen zur 9. Berlin-Biennale.

Besprochen werden Isa Genzkens Werkschau im Gropius-Bau (Berliner Zeitung), die Ausstellung "Schlösser für den Staatsgast" im Schloss Schönhausen in Berlin (SZ) und die Ausstellung "Kopenhagener Malerschule: Bilder und Studien aus der Nationalgalerie und der Sammlung Christoph Müller" in der Alten Nationalgalerie Berlin (FAZ).
Archiv: Kunst