Efeu - Die Kulturrundschau

Schnurstracks versöhnt

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.03.2016. Die Welt erlebt in Stuttgart noch einmal den seismischen Moment, als Giorgio de Chirico die Realität aus den Angeln hob. Die NZZ lässt sich vom polnischen Dichter Tadeusz Dabrowski an das Luminose und Läppische des Daseins erinnern. Der Standard geht mit Ciro Guerra auf philosophische Abenteuerreise in den Dschungel Amazoniens. SZ und FAZ jagen in Hamburg einen Theaterstrauchdieb.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.03.2016 finden Sie hier

Kunst


Giorgio de Chiricos "Melancholia", 1916.

Absolut überwältigt kommt Hans-Joachim Müller aus der Stuttgarter Staatsgalerie, die Giorgio de Chirico als großen Magier der Moderne feiert. Müller rekonstruiert den Moment in Florenz, da die Realität ihre Überzeugungskraft verlor: "Giorgio de Chirico hat daraus protosurrealistische Malerei gemacht. Hat ungemein rasch gelernt, wie sich diese unauflösliche Einheit von Vertrautheit und Befremdung, Anmutung und Erschrecken herstellen lässt, diese Indifferenz aus Gemütlichkeit und Beunruhigung, Tradition und Erfindung, klassischer Raumillusion und undurchschaubar verschachtelter Schaubühne. Seine Bilder der Leere füllen sich mit Gegenständen in Übergängen. Nicht die Widersprüche machen ihr Klima aus, sondern das Fließende der Positionen: Alles kann immer auch sein Gegenteil sein. Und nie weiß man wirklich, wer oder was die Fäden in der Hand hält. Aber weil er die Fäden auch nicht aus der Hand geben wollte, hat sich der Maler eine ziemlich zugkräftige Parole geschaffen: 'Pittura metafisica'."

Gutes Geld
, böses Geld: Die Zeit reicht online Thomas Assheuers Bericht von seinem Besuch in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden nach, die sich einer "Bildgeschichte der Ökonomie" widmet. Der Finanzkapitalismus wird hier sozusagen als untergehende Epoche betrachtet, staunt Assheuer: "Man kann sich fragen, warum die Kunst hier den Weltenrichter spielt. Ist sie nicht längst Teil eines perversen Spektakels, bei dem sich totes Kapital im lebenden Körper der Kunst vermehrt?" Für die FAZ hat Julia Voss die Ausstellung besucht.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "Angst vor dem Unbekannten" in der Kunsthalle Bratislava (Tagesspiegel), Tobias Madisons Ausstellung in der Kestnergesellschaft in Hannover (taz) und eine Vivarini-Ausstellung in Venedig (SZ).
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Literatur

In der NZZ porträtiert Andreas Breitenstein den 1979 geborenen polnischen Dichter Tadeusz Dabrowski, der in den großen Fußstapfen von Czeslaw Milosz, Zbignew Herbert und Wislawa Szymborska wandelt: "Tadeusz Dabrowskis Gedichte zeigen die typisch polnische Mischung von kreisender Gedanklichkeit und lyrischer Beseeltheit, kühler Beobachtung und sublimer Einfühlung, Herzenswärme und Witz. Grüblerische Ich-Suche verbindet sich mit ironischer Distanznahme, und über den erhabenen Problemen der Metaphysik gehen das Dingliche und Disparate, das Luminose und Läppische des irdischen Dasein nicht vergessen."

Weitere Artikel: Zum 125. Geburtstag von Peter Suhrkamp hat das Logbuch Suhrkamp dessen 1945 verfassten Essay "Brief an einen jungen Freund" online gestellt. In der FAZ trauert Heike Schmoll um den Literaturwissenschaftler Gerhart von Graevenitz. Oliver Pfohlmann meldet, dass Karl Corinos "Musil"-Biografie nach 13-jähriger Arbeit erfolgreich ins Japanische übertragen werden konnte.

Besprochen werden Thomas von Steinaeckers "Die Verteidigung des Paradieses" (NZZ), Juli Zehs "Unterleuten" (Freitag), Joseph McVeighs "Ingeborg Bachmanns Wien" (Zeit), Rywka Lipszycs "Das Tagebuch der Rywka Lipszyc" (Tagesspiegel), Ino Asanos avancierte Manga-Serie "Gute Nacht, Punpun" (Tagesspiegel), Lasha Bugadzes "Der Literaturexpress" (Tagesspiegel), Péter Esterházys "Die Markus-Version" (Zeit), die Neuübersetzung des ersten Bands von Henry David Thoreaus "Tagebuch" (online nachgereicht von der FAZ), Mario Vargas Llosas Erzählung "Sonntag" (online nachgereicht von der FAZ) und der Briefwechsel zwischen Peter Suhrkamp und Annemarie Seidel (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Jan Volker Röhnert über Hans Magnus Enzensbergers "Apus Apus":

"Er wiegt nur vierzig Gramm.
Monatelang lebt er in der Luft, ununterbrochen,
jagt, liebt und schläft hoch oben.
..."
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Film


Nilbio Torres in Ciro Guerras "Der Schamane und die Schlange"

Als "philosophiosches Abenteuerkino" preist Michael Pekler die Filmerzählung des Kolumbianers Ciro Guerra "Der Schamane und die Schlange", in der sich zwei westliche Forscher in den Dschungel Amazoniens aufmachen: "Der kolonialistische Blick, mit dem das ethnografische Kino jahrzehntelang behaftet war, wird in 'Der Schamane und die Schlange' radikal unterwandert: Cirro Guerra geht es nicht um die Darstellung einer fremden Kultur, sondern um eine Umkehrung der Sichtweise. An Fitzcarraldos Wahnsinn erinnert nur die Verblendung der Missionare, die mitten im Dschungel für die Ureinwohner eine Hölle auf Erden errichtet haben." (Hier die Berlinale-Kritik im Perlentaucher)

Einen Feldversuch haben Frédéric Jaeger und Nino Klingler von critic.de gewagt: Als cinephile Filmkritiker ohne Bezug zu Fußball haben sie 11mm besucht, ein Berliner Filmfestival, das mit hemmungsloser Liebe den Fußball im Film feiert: "Die Stimmung, die Vereinigung der Freude des Publikums, bewirkt etwas ganz Wunderliches: Es wird erträglich, was unter anderen Umständen Augenbrauen in die Höhe schnellen lassen würde. Es wird mehr als erträglich. Es macht sogar Spaß. Und wenn dann sogar noch zwei gute Filme gezeigt werden, dann sind wir schnurstracks versöhnt mit all dem Belanglosen, das in den vielen Dokus zu hören ist."

Weiteres: Für die Zeit hat sich Andrea-Hanna Hünniger mit der Schauspielerin Katharina Thalbach getroffen. Besprochen werden eine DVD-Ausgabe von Nicolas Roegs "Eureka" (taz) und Maïwenns "Mein Ein, Mein Alles" (SZ).
Archiv: Film

Musik

Sehr beeindruckt ist Jan Brachmann in der FAZ, wie es Peter Uehling mit seinem Ensemble Wunderkammer gelungen ist, Johann Sebastian Bachs lediglich als Fragment vorliegende Markus-Passion BWV 247 unter Zuhilfenahme des Schauspielers Lars Eidinger als Rezitator für eine Aufnahme aufzufüllen: Der Leiter und Musikkritiker hat in eigener Manier kurzerhand selbst Passagen hinzukomponiert. "Sie ruft die alte Praxis der Passionsrezitation in Erinnerung, eines liturgischen Sprechgesangs der Kleriker, in welchem der Klang eher gliedernde, weniger expressive Funktion hatte." Und der Schauspieler "meistert die Texte des Markus-Evangeliums mit Schlichtheit, Geradlinigkeit, nötiger Schärfe und bar jeder Ironie".

Weiteres: Annette Walter verneigt sich in der Jungle World vor dem Gesamtschaffen der Pet Shop Boys, die mit "Super" gerade ihr 13. Album veröffentlicht haben: Tennant und Lowe sind "Popbeamte im positiven Sinne: Sie arbeiten fleißig, ja fast schon besessen, auf hohem Niveau." Für die SZ bringt Max Dax Irmin Schmidt von Can und Bobby Gillespie von Primal Scream miteinander ins Gespräch. Die FAZ hat ihr Interview mit dem Dirigenten René Jacobs über Bachs Matthäuspassion nachgereicht. SZler Helmut Mauró schreibt zum Tod von Josef Anton Riedl.

Besprochen werden ein Konzert von Pere Ubu (Tagesspiegel), das Karfreitagkonzert des RIAS Kammerchors (Tagesspiegel), das Kuba-Konzert der Rolling Stones (Tagesspiegel), die Neuauflagen von Phil Collins' Alben aus den 80ern (online nachgereicht von der Zeit) und das neue Album von Laura Gibson (FAZ).
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Bühne

Haltet die Strauchdiebe: Angela Winkler in Simon Stones Inszenierung von "Peer Gynt" am Hamburger Schauspielhaus.

Zum dritten Mal hat Regisseur Simon Stone ein Stück von Ibsen "überschrieben", diesmal ist es der "Peer Gynt", den Stone mit Angela Winkler als weibliche Interpretation der Titelfigur am Schauspielhaus Hamburg auf die Bühne gebracht hat. Das Resultat kann die Kritik allerdings nicht überzeugen, regt sie aber immerhin zu schäumender Rhetorik an: "Vorabendtrivialserienniveau", attestiert Christine Dössel in der SZ diesem "'Peer Gynt'-Klimbim hoch drei", im Ganzen "Turbo-Boulevardtheater mit Schlagseite ins Alberne", das nur von Stones "erfrischender Fantasie, die einen im Trubel der Nichtigkeit immer wieder zu überraschen weiß", gerettet werde - und natürlich von den "großartigen Schauspieler, die sich unerbittlich noch für den größten Schmarrn ins Zeug legen." Irene Bazinger von der FAZ rammt den Regisseur samt Intendanz, die solcherlei Inszenierungen überhaupt zulässt, in Grund und Boden. "Billige Fernsehschmonzette" ist fast noch die freundlichste Formulierung, Bezeichnungen wie "hobbymäßig literarisierender Einfaltspinsel" und "Theaterstrauchdieb" grenzen beinahe ans Justiziable. In der NZZ hat Eberhard Rathgeb nur Spott für die Inszenierung übrig.

Weiteres: In der Jungle World führt Jakob Hayner durch die erste Saison des Theaters Basel unter dem neuen Intendanten Andreas Beck und zeigt sich davon sehr entzückt: Er hofft, dass "durch die neue Intendanz von Beck eine Konstellation von Theaterschaffenden gebildet wurde, die möglicherweise über die Stadtgrenzen hinaus von Wirkung sein wird." Christine Lemke-Matwey von der Zeit resümiert die Osterfestspiele-Aufführungen in Salzburg, Berlin und Baden-Baden, die Armutserscheinungen auf den Straßen der jeweiligen Städte dabei stets zumindest halb im Blick. In Baden-Baden, bei der von Simon Rattle dirigierten Aufführung von "Tristan und Isolde", ist auch Reinhard Brembeck von der SZ gewesen. Nur halb gelungen findet Christian Wildhagen in der NZZ Christoph Marthalers Stuttgarter Inszenierung von Offenbachs "Les Contes d'Hoffmann" aus dem Geist des Surrealismus und mit der Ausstattung von Anna Viebrock.

Besprochen werden Sebastian Klinks Inszeniert von Pjotr Silaews "Exodus" an der Berliner Volksbühne (Tagesspiegel, taz), die Uraufführung von Volker David Kirchners Oper "Gutenberg" in Erfurt (NMZ), Christian Sedelmayers Inszenierung von Mussorgskis "Boris Godunow" in Wiesbaden (FAZ), ein Ballettabend von Justin Peck in Paris (FAZ), Georg Friedrich Händels "Messias" an der Oper Frankfurt (FAZ) und Achim Freyers Linzer Inszenierung von "Pelléas et Mélisande" (die "metaphorisch-abstrakten Bilder [kommen] diesem kryptischen Stück sehr" entgegen, meint Reinhard Kager in der FAZ).
Archiv: Bühne