Efeu - Die Kulturrundschau

Eines der produktivsten Orakel seiner Zeit

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.01.2016. Angesichts der Verhältnisse in Venezuela überkommt die SZ tiefes Unbehagen beim Konzert des mit dem Simón Bolívar Symphony Orchestra durch Deutschland tourenden Dirigenten Gustavo Dudamel. Milo Rau spricht mit der Jungle World über Realismus und mit der Welt über Aktivismus auf der Bühne. Die Welt stellt ein paar coole Typen vor. Und die FAZ begeht beglückt das neugestaltete Museum Unterlinden in Colmar.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.01.2016 finden Sie hier

Bühne

Im Interview für die Jungle World verortet Milo Rau sein an der Berliner Schaubühne gezeigtes, vieldiskutiertes Stück "Mitleid: Die Geschichte des Maschinengewehrs" unter anderem auch vor dem Hintergrund aktueller Realismus-Debatten ums Theater: "In dieser Debatte wird ein Widerspruch aufgemacht zwischen authentisch-dokumentarischem Theater, in dem Zeugen auf der Bühne sie selbst sind, und Schauspielertheater, in dem eine fiktionale Figur durch Mittel des Schauspiels - ob postmoderner Trash, Brecht oder Stanislawski - etwas zeigt. Dieser Widerspruch hat auch zu tun mit der Opposition von Stadttheatern mit Ensemble und freien Produktionsweisen, die häufig mit Performern, mit Laien arbeiten. Ich versuche mit 'Mitleid', diesen Widerspruch in einen dialektischen Zusammenhang zu bringen."

Mit Florian Merkel (Welt) unterhält sich Milo Rau über politischen Aktivismus auf der Bühne: "Das Problem im deutschen Stadttheater besteht darin, dass das narzisstische Rumgehampel des Wutbürgers irgendwie zum Stilmittel geworden ist. Das nervt. Am Schluss muss immer noch ein Hassmonolog kommen - 'Pegida ist scheiße' oder so. Die Kunst soll aber nichts erklären, nichts lösen, sondern Widersprüche verschärfen."


Rauschhafte Intensität: Patrick Berg, Marius Lamprecht, Nawar Bulbul und Anja S. Gläser in "The Trip" (Foto: Uwe Lewandowski)

Tief bewegt berichtet Uwe Schmitt in der Welt von dem in Osnabrück aufgeführten Stück "The Trip", in dem der Exilsyrer Anis Hamdoun seine in der Revolution umgekommenen Freunde zu Wort kommen lässt: "Die drei Schauspieler (ergänzt vom Video durch Nawar Bulbul, einen Onkel Anis Hamdouns) geben ihren Figuren eine rauschhafte Intensität, als müssten sie ihre ganze Jugend in Minuten verleben; bald gleiten sie nicht weniger überzeugend, lachend, lamentierend, streitend und einander beistehend in Galgenhumor... (Sie) hätten eine Tournee mit 'The Trip' verdient, so hinreißend lebenshungrig sind ihre Kopfgeister noch nach ihren gewaltsamen Toden."

Weiteres: In Berlin wurde Frank Castorf mit dem Großen Kunstpreis Berlin ausgezeichnet, berichtet Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung. In der Berliner Zeitung informiert Elmar Schütze über die ungesicherte Zukunft der Boulevardtheater am Ku'damm.

Besprochen werden Toshio Hosokawas in Hamburg uraufgeführte Fukushima-Oper "Stilles Meer" ("trotz ihres grellen Realismus atmet die Oper auch Poesie", schreibt Petra Schellen in der taz), Akram Khans Tanzstück "Until the Lions" in London (das Lilo Weber in der NZZ "beklemmend relevant" findet), ein Abend der tschechischen Spitfire Company in Darmstadt (FR), die Aufführung von Roland Schimmelpfennigs "Das schwarze Wasser" an der Neuköllner Oper in Berlin (taz) und Alice Buddebergs Inszenierung von Thomas Melles "Bilder von uns" am Theater Bonn (FAZ)
Archiv: Bühne

Film

Annett Gröschner wirft für ZeitOnline einen Blick ins Programm des Hellas-Filmbox-Festivals in Berlin. Christoph Schneider berichtet im Tagesanzeiger von den 51. Solothurner Filmtagen. Für die SZ hat sich Anne Philippi mit Kurt Russell getroffen.

Besprochen werden Nikias Chryssos' Kafkaeske "Der Bunker" (FR, unsere Kritik hier), John Crowleys Auswandererdrama "Brooklyn" (Standard, Welt, Presse, Kurier), die Fernsehserie "Vinyl" (Welt) und der arte-Krimi "Wenn du wüsstest, wie schön es hier ist" (ZeitOnline, hier in der Mediathek).
Archiv: Film

Design

"Das ist die Krux der Schrift: Sie macht sich von Berufs wegen unsichtbar", schreibt Jan Küveler in der Literarischen Welt und stellt auf einer Doppelseite einige alte und neuere Schrifttypen-Klassiker vor, darunter die Freight des New Yorker Designers Joshua Darden, in der die Welt gesetzt ist: "Die Textschnitte, die in der Zeitung zum Einsatz kommen, verhehlen ihre niederländisch-barocke Tradition nicht. Ohne den Einfluss von Fleischmann würde es sie kaum geben. So sind die Achsen eher vertikal als horizontal, mithin eher klassizistisch als humanistisch. Dass die ausgesparten Flächen, der Weißraum in und zwischen den Buchstaben, in der Typografie so entscheidend sind wie die Striche des Designers, zeigt die Freight scheinbar mühelos." (Links ein Typeface-Sample von Freight aus dem Darden Studio)

Weiteres: In der NZZ berichtet Andrea Eschbach von der internationalen Möbelmesse in Köln. Tazlerin Tania Martini resümiert die Fashion Week in Berlin.
Archiv: Design

Literatur

Einige der Grimmschen Märchen sind sehr viel älter als bisher angenommen, teilt Matthias Heine in der Welt mit und beruft sich auf eine Untersuchung der Anthropologin Jamshid J. Tehrani und der Ethnologin Sara Graça da Silva: "Das hat ihnen nicht der Teufel gesagt. Sondern die Wissenschaftlerinnen wandten Vergleichsmethoden, die normalerweise in der Biologie zur Feststellung phylogenetischer Abstammungslinien von Lebewesen genutzt werden, auf Motive und sprachliche Zusammenhänge an. Sie erstellten so Stammbäume der Märchenüberlieferung. 50 Geschichten haben demnach mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfzig Prozent schon im Gemeinindoeuropäischen, der letzten Stufe vor der Trennung in verschiedene Sprachfamilien, existiert. Bei 31 liege die Wahrscheinlichkeit über siebzig Prozent, schreiben Tehrani und da Silva in einem Beitrag für das Royal Society Open Science-Journal."

Weiteres: Katharina Granzin ist für die taz nach Jerusalem gereist, um den Schriftsteller Aharon Appelfeld zu besuchen. Im Tagesspiegel berichtet Gerrit Bartels vom Stand der Dinge bei Tilman Rammstedts täglich fortgesetztem und per E-Mail ausgeliefertem Roman "Morgen Mehr". Für die FAZ hat sich Thomas David mit dem Schriftsteller Ben Lerner getroffen, dessen neuer Roman "22:04" laut Christopher Schmidts SZ-Besprechung trotz seiner selbstreferenziellen Poetologie kein akademisches Glasperlenspiel für Literatur-Nerds" darstellt. In der FAZ porträtiert Uwe Ebbinghaus Karl Lagerfeld als Büchersammler, der angeblich genügend Bücher besitzt, um eines "der produktivsten Orakel seiner Zeit" zu sein. Die Literarische Welt bringt einen Vorabdruck aus dem in Kürze erscheinenden Buch "Zwischen mir und der Welt" von Ta-Nehisi Coates.

Besprochen werden Peter Hand­kes "Tage und Werke" (taz), Lydia Davis' "Reise über die stille Seite" (taz), Alexander Ilitschewskis "Der Perser" (SZ) und Nicholson Bakers "Das Regenmobil" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur


Erweiterung des Museums Unterlinden in Colmar (Foto: Ruedi Walti)

Sehr zufrieden ist Hubert Spiegel in der FAZ mit der von den Architekten Herzog & de Meuron konzipierten Neugestaltung des Museums Unterlinden in Colmar: "Das Ergebnis ist sachlich, funktional, einfühlsam bis ins Detail, niemals auftrumpfend und doch spektakulär. ... Ein ganz neues Museumsareal [ist] entstanden, das städtebaulich einen überzeugenden Akzent für Colmar setzt, die Architektursprachen der Gotik, des Jugendstils und der Moderne verbindet, und die Ausstellungsfläche von etwa viertausend Quadratmetern verdoppelt."

In der FAZ lobt Reinhard Seiss Fritz Matzingers Konzept von je um ein Atrium gruppierten, den sozialen Austausch der Bewohner enorm befördernden Wohnanlagen.
Archiv: Architektur

Musik

Mit Unbehagen beobachtet SZ-Musikkritiker Reinhard Brembeck, dass sich der derzeit mit dem Simón Bolívar Symphony Orchestra durch Deutschland tourende Dirigent Gustavo Dudamel zu den politischen und gesellschaftlichen Missständen in seiner Heimat Venezuela nicht nur nicht äußert, sondern sich ganz im Gegenteil der Chavez-Regierung sehr angedient hat: Beim Münchner Konzert erscheint "Dudamel im 'Sacre' als Vergöttlicher eines Tanzes, der mit einem rauschhaft zelebrierten Todesopfer endet - während zur selben Zeit in Venezuela wieder Morde und Entführungen stattfinden. Aber daran denkt in München niemand. Das Publikum tobt wie bei einem Popkonzert. Kunst hat sich noch nie ernsthaft um die Grausamkeiten in der Welt geschert." Udo Badelts Tagesspiegel-Besprechung des Berliner Konzerts fällt unterdessen eher etwas verhalten aus.

Weiteres: Carolin Pirich spricht für die taz mit Alexander Liebreich, dem Leiter des Nationalen Sinfonieorchesters des Polnischen Rundfunks in Kattowitz.

Besprochen werden das neue Album der Tindersticks (Spex) und die Memoiren der US-Punkmusikerin Carrie Brownstein (taz). Daneben befasst sich Pitchfork im Gedenken an David Bowie mit dessen Back-Katalog: Besprochen werden "Diamond Dogs", "Young Americans", "Low", "Heroes" und "Lodger".
Archiv: Musik