Efeu - Die Kulturrundschau

Der Wahnsinn als Komödie

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13.01.2016. Die Filmkritiker amüsieren sich prächtig in Adam McKays Komödie zur Weltwirtschaftskrise "The Big Short". Im Fotoblog Kwerfeldein erklärt die Fotografin Julia Runge, wer die namibischen Baster sind. Die taz porträtiert Carolee Schneemann, eine feministische Künstlerin, die immer noch mit dem Feuer spielt. Im Standard erklärt Aris Fioretis, wo seine Heimat ist. In Begleitschreiben denkt Leopold Federmair über interkulturelle Literatur nach. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.01.2016 finden Sie hier

Film



Eine nicht nur witzige, sondern auch didaktisch wertvolle Komödie über die Weltwirtschaftskrise 2008? Genau das scheint dem Filmemacher Adam McKay mit "The Big Short" gelungen zu sein, liest man die Kritiken. Dieser Film nimmt die Fakten sehr ernst, er ist aber zugleich eine Farce, schreibt ein gutgelaunter Hanns-Georg Rodek in der Welt: "McKay spielt den Wahnsinn als Komödie. Der Wachhund von der Agentur kommt von einer Augenoperation und ist praktisch blind. Im Swimmingpool einer unverkäuflichen Immobilie in Florida döst ein Krokodil. Und wenn ein paar Figuren sich im Bankerslang verheddern, wendet sich garantiert einer direkt in die Kamera und sagt: 'Das haben Sie jetzt nicht verstanden, oder? Moo-ment!' Und dann sieht man, nach einem Schnitt, plötzlich Margot Robbie nackt im Schaumbad sitzen, Champagner schlürfen und hypothekengesichertes Wertpapier simpel erklären (auch wenn man vielleicht nicht genug auf ihre Worte achtet)."

Großes Lob auch von Bert Rebhandl in der FAZ, Thomas Klein in der Berliner Zeitung und Jörg Häntzschel, der in der SZ über das Tempo der Satire staunt: "Jede Minute, jede Sekunde wechselt McKay das Register, um den Klischees ein Schnippchen zu schlagen." In der Presse ist Audrey Arnold dagegen wesentlich gedämpfter.

Weitere Artikel: Deike Diening berichtet im Tagesspiegel von ihrem Treffen mit dem Regisseur Apichatpong Weerasethakul, dessen Film "Cemetery of Splendour" gerade ins Kino kommt. Auch Thomas Abeltshauser unterhält sich für Monopol mit Weerasethakul. Tazler Stefan Hochgesand vergnügt sich mit der aktuellen Sonderausgabe des Philosophie Magazin, das sich eingehend philosophisch mit "Star Wars" befasst. Zum Tod der Schauspielerin Ruth Leuwerik schreiben Gunda Bartels im Tagesspiegel und Barbara Möller in der Welt.

Besprochen werden Sylvester Stallones "Creed" (Standard) und Samir Jamal Aldins Dokumentarfilm "Iraqi Odyssey" (FAZ).
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Bühne

In der NZZ lobt Alfred Schlienger das interkulturelle Konzept der Volksbühne Basel.

Besprochen werden neue, bei den Tanztagen Berlin aufgeführte Choreografien von Ania Nowak und Karth Schaffer (Tagesspiegel), Ernst M. Binders Inszenierung von Heiner Müllers fünfteiligen Zyklus "Wolokolamsker Chaussee" im Grazer Forum (Standard) und Jan Bosses Inszenierung von Arthur Millers "Hexenjagd" am Schauspiel Zürich (Egbert Tholl bezeugt in der SZ ein "Lehrstück im besten Sinn").

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Kunst


Baster in Namibia. Foto: Julia Runge

Im Fotoblog Kwerfeldein unterhält sich Katja Kemnitz mit der Fotografin Julia Runge, die für ihre Abschlussarbeit an der Ostkreuzschule in Berlin die Baster fotografiert hat: Die Baster, lesen wir, leben in Zentralnamibia und sind aus Beziehungen zwischen den Nachfahren europäischer Kolonialisten und einheimischer Frauen hervorgegangen: "Ihre Protesthaltung ist Ergebnis ihrer langen Erfahrung des Lebens und Überlebens in einer 'Zweifrontensituation'. Die Unsicherheit, zwischen 'Schwarz' und 'Weiß' zu bestehen, förderte schon früh ihren kulturellen Zusammenhalt und bestärkte sie in ihrem Wunsch nach umfassender Selbstbestimmung. ... Viele Baster haben deshalb ein gespanntes Verhältnis zur namibischen Regierung."

Mit der Carolee-Schneemann-Retrospektive im Salzburger Museum der Moderne lässt sich derzeit eine hervorragende nostalgische Reise in die Kunst der zweiten feministischen Welle der 60er und 70er Jahre antreten, versichert Annegret Erhard in der taz. Schneemann verhandelte stets das Verhältnis zwischen Dargestelltem und Darstellendem, indem sie sich selbst immer wieder nackt in Szene setzte, um auf diese Weise tradierte Vorstellungen des Motivs des weiblichen Akts zu unterwandern: "Anfang der sechziger Jahre filmt sie sich und ihren Mann James Tenney beim Liebesakt. ... Das Filmmaterial bearbeitet, zerkratzt, beschichtet und bemalt sie. Das war natürlich explizit - und ein Spiel mit dem Feuer. Schneemann bewegte sich mit 'Fuses' damals auf einem sehr schmalen Grat. Dem erwartbaren Vorwurf des Exhibitionismus, der Pornografie begegnet sie mit dem Einwand, dass sie weibliche Lust, Begehren, den Genuss des Begehrtwerdens nur dann künstlerisch darstellen könne, wenn sie weder als Objekt noch als inszenierender Dokumentar des schöpferischen Akts fungiere, sondern beide Positionen einnehme." Auf Vimeo ist das experimentelle Filmpoem zu sehen:



Weiteres: In der Tagesspiegel-Reihe über Artefakte aus dem Berlin-Dahlemer Museum, die wegen des Umzugs ins Humboldt-Forums bald für eine Weile unzugänglich sind, schreibt Elke Linda Buchholz über den chinesischen Kaiserthron.

Besprochen werden die Philippe-Halsman-Ausstellung "Astonish Me" im Jeu de Paume in Paris (lens culture), die Ausstellung "Frauen der Secession" in der Liebermann-Villa in Berlin (taz) und die Ausstellung "Zeitenwende - Von der Berliner Secession zur Novembergruppe"" im Bröhan-Museum in Berlin (Tagesspiegel).
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Literatur

"Für mich besteht Identität in der Differenzerfahrung", erklärt der Schriftsteller Aris Fioretos im Interview mit der Presse und zuckt die Schultern: "Ich bin als Sohn eines Griechen und einer Österreicherin in Schweden aufgewachsen, habe aber die letzten dreißig Jahre auch in Frankreich, in den USA und in Deutschland gelebt. Ich habe nie ein zuverlässiges Gespür für das entwickeln, was unter Heimat oder Muttersprache verstanden wird. Bisher war eigentlich nur auf den Schreibtisch Verlass. Auch wenn er immer anderswo aufgestellt werden kann, an ihm ist nicht zu rütteln." (Bild: Aris Fioretos)

In einem langen Gespräch mit dem Germanistikprofessor Masahiko Tsuchiya denkt der Schriftsteller und Übersetzer Leopold Federmair im Blog Begleitschreiben über interkulturelle Literatur nach. Eigentlich nichts Neues, meint er: "Man könnte die gesamte Kultur der österreichisch-ungarischen Monarchie als interkulturellen Raum betrachten, mit all den Autoren aus Prag, Czerno­witz, Siebenbürgen, wobei Siebenbürgen am tiefsten in die Gegenwart hineinwirkt - ich erinnere an Namen wie Herta Müller oder Richard Wagner (den Dichter, nicht den Komponisten). Herta Müller ist mit deutscher Muttersprache aufgewachsen, und das ist natürlich noch einmal ein Unterschied zu denen, die später ihre Literatursprache gewechselt haben. Das ist für mich der eigentlich interessante Fall, also das, was Yoko Tawada 'Exophonie' genannt hat." (Bild: Voegelein/Wikipedia)

Alice Grünfelder porträtiert in der NZZ die burmesische Schriftstellerin Wendy Law-Yone, die sich aus ihrem Exil in England heraus immer wieder sehr kritisch zu Wort meldete: "In ihren Romanen taucht immer wieder leise Kritik an buddhistischen Auswüchsen auf, und zwar schon vor den Übergriffen auf die Muslime und die Rohingyas, eine Bevölkerungsgruppe, die in der westlichen Provinz Arakan lebt, deren Vorfahren einst aus Bangladesh kamen und die heute als staatenlos gilt. Bei den letzten Wahlen durften die Rohingyas nicht teilnehmen. Die Mönche spielten eine wichtige Rolle, sagt Law-Yone. Die buddhistische Religion sei das Fundament der burmesischen Gesellschaft, die sehr hermetisch sei, und daher floriere der buddhistische Fundamentalismus erst recht in Zeiten der Unsicherheit." (Bild: Universität Bern)

Weitere Artikel: Judith von Sternburg berichtet in der FR von Marcel Beyers erster Frankfurter Poetikvorlesung. Und Inna Hartwich porträtiert die unter anderem für die Bücher von Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch verantwortliche Übersetzerin Ganna-Maria Braungardt.

Besprochen werden Olivier Rolins Gulag-Biografie "Der Meteorologe" (NZZ), Max Webers Briefe 1895-1902 (NZZ), der Comic "Votes for Women: Der Marsch der Suffragetten" (Tagesspiegel), Nora Bossongs "36,9" (FR), Martin Jürgens' "Frau Merkel sieht auf ihrem Schuh ein Streifenhörnchen, das sich putzt" (FR), David Foenkinos' "Charlotte" (SZ), Marie Darrieussecqs "Man muss die Männer sehr lieben" (FAZ) und Craig Thompsons Comic "Weltraumkrümel" (SZ). Außerdem jetzt online: Thomas Wörtches aktueller "Leichenberg" mit Krimi-Empfehlungen.

Mehr aus dem literarischen Leben im Netz in unserem fortlaufend aktualisierten Metablog Lit21.
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Musik

In ihrem regulären Onlineteil reicht die taz ihren Abschied von David Bowie aus dem "Schwerpunkt" der gestrigen Printausgabe nach: Jan Feddersen dankt dem Verstorbenen für dessen in einem Magazininterview so selbstbewusstes wie lapidar formuliertes Coming-Out in den frühen 70ern. Jenni Zylka würdigt Bowie als Modeikone. Julian Weber resümiert Bowies Karriere. Der Freitag bringt unterdessen eine Übersetzung von William Boyds ursprünglich im Guardian veröffentlichten Erinnerungen an Bowie. Für die FAZ hat Rose-Maria Gropp die Erinnerungen der Fotografin Esther Friedman an Bowie eingeholt. In der NZZ erinnern sich René Scheu, Sibylle Lewitscharoff, Michael Hagner und Abdelkader Benali an ihre erste Begegnung mit David Bowie.

Weiteres: Dagmar Leischow unterhält sich für die Berliner Zeitung mit Wolfgang Niedecken über das neue BAP-Album. Für die FAZ schreibt Kerstin Holm über das Konservatorium in Moskau, das in diesem Jahr sein 150-jähriges Bestehen feiern kann.

Besprochen werden Elvis Costellos Autobiografie (taz) und Luca Freis Ausstellung "Hermann Scherchen: alles hörbar machen II" in der Galerie Barbara Wien in Berlin (SZ).
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