Efeu - Die Kulturrundschau

Homunculus der Malerei

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10.12.2015. In der Welt singt Rudi Fuchs eine Hymne auf den Maler Julian Schnabel. Wie Theseus auf sein Schiff blickt die SZ staunend auf eine digitale Reproduktion eines Caravaggio, die besser ist als das Original. In der taz erklärt Regisseur Jacques Audiard, warum er heute keinen Film mehr über Flüchtlinge drehen würde. epdFilm besucht neue geheimnisvolle Filmclubs. Die nachtkritik verreißt Katie Mitchells Bühnenstück "Ophelias Zimmer": Feministinnenkitsch irgendwie.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.12.2015 finden Sie hier

Kunst


Julian Schnabel: Fountain of Youth, 2012

Rudi Fuchs, Leiter der Documenta 1982, singt in der Welt eine Hymne auf den Künstler Julian Schnabel, den er damals nicht einlud, mit dessen Bildern die Welt ihre heutige Ausgabe illustriert: "Die Energie der Vorstellungskraft seiner Malerei ist wild und unbegrenzt. Vor Kurzem malte Julian Schnabel Bilder mit einer Ziege, die stolz in einer romantischen Landschaft mit sehr weichem, getöntem Licht steht. Wegen der Größe des Bildes sieht die Ziege so groß wie ein Bulle aus. In Historiengemälden sieht man normalerweise aufsteigende Adler oder brüllende Löwen. Diese Ziege allerdings ist ausgestopft und trägt einen Hasen auf dem Kopf. Zudem ist sie weiß und frisiert wie ein Rokokopudel. Das Gemälde, so verrückt es auch ist, ist absolut großartig - und so respektlos, wie große Kunst eben sein sollte."

Seit einem Raub im Jahr 1969 ist Caravaggios "Christi Geburt mit den Heiligen Laurentius und Franziskus" verschollen. Nun soll eine minutiöse digitale Reproduktion auf Grundlage fotografischer Dokumentationen das Bild nicht nur ästhetisch übersetzen, sondern seinen letzten überlieferten Zustand noch übertrumpfen, indem ungeschickte Restaurierungen rückgängig gemacht werden, erklärt Thomas Steinfeld in der SZ. Das wirft Fragen nach dem Status des Substituts auf: "Ein Original ist es nicht, so viel ist gewiss. Eine Kopie ist es auch nicht - denn das, was da nun hängen wird, erscheint in eine Zeitlichkeit zurückversetzt, die das Original nach mehreren Restaurierungen gar nicht mehr besaß: Die Patina ist vom Original auf die Reproduktion übergegangen, in einem gleichsam alchemistischen Akt. ... Ein Mittelding zwischen Kopie und Klon wird in Palermo an der Wand hängen, ein Homunculus der Malerei, ein Werk des frühen 21. Jahrhunderts."

Kurz vor dem 100. Geburtstag würdigt eine Ausstellung in Straßburg den Dada-Mitbegründer Tristan Tzara. Anlass für Hans-Joachim Müller, in der Welt eine kleine Geschichte der Bewegung zu schreiben: "Allein, was die Herkunft des krausen Wortes 'Dada' anbetrifft, kursieren die herrlichsten Varianten. Die trefflichste hat Tristan Tzara überliefert. Er, der besser Französisch als Zürichdeutsch konnte, will eine Abhandlung des Anarchisten Alphonse Gallais gelesen haben, in der unter dem Titel 'Die Kunst, die Wollust in 136 Verzückungen zu erleben' diverse Körperstellungen 'à dada' beschrieben werden. Solange die Dada-Forschung keine bessere Erklärung liefert, halten wir an Tzaras Lesart fest." (Bild: © Man Ray, Le groupe dada, vers 1922 Collection particulière, Tzara ist der zweite von links in der oberen Reihe - Photo : M. Bertola / Musées de la Ville de Strasbourg © Man Ray Trust / ADAGP Paris 2015)

Weiteres: Für die FAZ hat Andreas Rossmann die Eröffnung des Zentrums für verfolgte Künste in Solingen besucht. Besprochen werden William Egglestons Fotoband "The Democratic Forest" (SZ) und eine dem Comiczeichner Hugo Pratt gewidmete Ausstellung im Hergé-Museum in Louvain-la-Neuve (FAZ).
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Film


"Dämonen und Wunder"-Hauptdarsteller Antonythasan Jesuthasan

Für die taz spricht Dominik Kamalzadeh mit dem Regisseur Jacques Audiard, dessen neuer, in Cannes ausgezeichneter Film "Dämonen und Wunder" sich mit den Mitteln des Genrekinos mit der Flüchtlingsthematik befasst, aber bereits vor den Diskussionen der letzten Monate gedreht wurde. Heute würde er den Film so nicht mehr drehen, sagt er, "weil sich die Frage, wie man sich einem solchen Sujet annähert und es illustriert, ganz anders gestellt hätte. Ich bevorzuge es, wenn ich mich bei meinen Filmen auf meine eigene Imagination verlassen kann. Denn ich sehe mich nicht als Dokumentarist oder Illustrator. ... Die Idee des Films war, Menschen herzunehmen, die in der Gesellschaft kein Gesicht, keinen Körper haben, und ihnen eine vornehme Genreform in Cinemascope zu gewähren. Damit schafft man dann auch den Abstand zum Dokumentarischen."

"Audiard ist der Regisseur der Krieger", beobachtet Stefanie Diekmann im Freitag. Auf Tagesspiegel-Kritiker Jan Schulz-Ojala wirkt der Film "wie der aktuelle Film zur Willkommenskultur, ganz auf der Seite der unzähligen Flüchtlinge." Recht verhalten äußert sich allerdings Philipp Stadelmaier in der SZ, den die Art, wie der Film mit seinen Figuren umgeht, "auch ein bisschen daran [erinnert], wie man eine Akte durchblättert, in der man immer wieder ein paar Seiten überspringt. ... Der Film behandelt seine Figuren wie Bittsteller auf dem Amt, nüchtern und desillusioniert, und ein kleines bisschen menschlich: Ihrer Verzweiflung begegnet er mit einem mitleidigen Blick und Schulterzucken." Patrick Holzapfel ärgert sich im Perlentaucher: "Die Vermischung der narrativen Muster, die keineswegs abstrakte, sondern ziemlich direkte Ausschlachtung von Themen, Bildern und Gewalt, hat etwas abstoßendes an sich."

Entdeckungen abseits der Aktualitäten: In epdFilm schreibt Hans Schifferle mit ansteckender Leidenschaft über die "geheimnisvollen Filmclubs", also meist private Sammlerinitiativen, die rare Filme auf historischen Prints sammeln und präsentieren - meist handelt es sich dabei um eher verfemte Filme jenseits des Kanons, wo Trash und Kunst ineinander übergehen. In München gab es kürzlich ein Treffen der Szene: "Dabei stellte dieser enthusiastische Underground von Cinephilen vielfältige Kinophilosophien vor. Die Veranstaltung hatte kaum etwas von einem Nerd-Event, es wurde vielmehr leidenschaftlich und mit einer überraschenden Ernsthaftigkeit über das Kino geredet ... Schließlich schien die Cinephilie neu entdeckt zu werden: als ganz spezielle Kunst der Kinoliebe mit eigenem Denken, Reden und ­Schreiben über Film." Ein nächster "geheimnisvoller Filmclub" findet im Januar in Nürnberg statt sowie jeden Monat in Gelsenkirchen.

Natürlich durfte auch Zeit-Kritikern Kata Nicodemus die allerneueste "Star Wars"-Episode noch nicht sehen, aber das heißt ja nicht, dass man dem Film nicht einen anderthalbseitigen Aufmacher widmen kann. Nicodemus unterhält sich mit der Kathleen Kennedy, der Produzentin des Films und "mächtigsten Frau Hollywoods", die eine Quote fürs Kino fordert: "Unsere Filme werden von Millionen Menschen angeschaut. Die Demografie der Hollywood-Welt spiegelt aber mitnichten unsere Gesellschaft wider. Es müsste viel mehr schwarze Gesichter, viel mehr Frauen, viel mehr schwule und lesbische Figuren geben."

Besprochen werden Noah Baumbachs "Mistress America" (PerlentaucherFilmgazette, critic.de), Bertrand Bonellos auf DVD erschienener "Saint Laurent" (taz), Eli Roths "Knock Knock" (critic.de), Israel Cárdenas' und Laura Amelia Guzmáns "Sand Dollars" (critic.de), Jeppe Røndes "Dorf der verlorenen Jugend" (Filmgazette), Patricio Guzmáns "Der Perlmuttknopf" (taz, critic.de), Daša Drndićs "Sonnenschein" (Zeit) und Alain Gsponers "Heidi"-Neuverfilmung (SZ, Tagesspiegel, FAZ).
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Literatur

Kenzaburo Oe hat eine Erzählung wiederveröffentlicht, die nach politischen Unruhen in Japan 1961 erschienen und dann jahrzehntelang verschwunden war, berichtet in der NZZ Irmela Hijiya-Kirschnereit. "Der 'Zwischenfall', auf den hier angespielt wurde, war die Messerattacke eines 17-Jährigen, der bei einer Wahlveranstaltung in der Hibiya-Halle im Zentrum Tokios am 12. Oktober 1960 dem Vorsitzenden der Sozialistischen Partei Japans, Inejiro Asanuma, ein Kurzschwert in den Unterleib stieß und ihn tödlich verletzte. Der Angreifer wurde gefasst und nahm sich drei Wochen später im Jugendgefängnis das Leben. An die Zellenwand hatte er die Parole geschrieben: 'Sieben Leben für das Land. Lang lebe Seine Majestät der Kaiser.'"

Weiteres: Claus Biegert schreibt in der SZ zum Tod des Dichters John Trudell. Besprochen werden Judith Kuckarts Roman "Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück" (NZZ) und ein Band mit erstmals auf Deutsch erscheinenden Gedichten von Charles Bukowski (Rolling Stone) und Tim Glencross' "Barbaren" (FAZ).
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Bühne

Mit Shakespeares Ophelia nimmt die männliche ästhetische Lust am schönen Frauenleid ihren Anfang, erklärt Esther Slevogt in der nachtkritik. Mit "Ophelias Zimmer" untersucht Regisseurin Katie Mitchell den Stoff an der Berliner Schaubühne nun aus feministischer Perspektive - allerdings ohne die Kritikerin überzeugen zu können: Sie erlebte einen "simpel gedachten und aufwändig inszenierten Abend. Feministinnenkitsch irgendwie: die ohnmächtige Frau in ihrem Zimmer, von Männern eingeschlossen und beherrscht. Warum steht sie nicht einfach auf und geht, statt zum Stickzeug zu greifen? Was wird uns hier eigentlich erzählt in diesem fauligen Retroambiente? Glauben Birch und Mitchell das Elend eigentlich selbst?" (Bild: Iris Becher in "Ophelias Zimmer". Foto: Gianmarco Bresadola, 2015)

Auch Christine Wahl vom Tagesspiegel hat sich geärgert: "Mitchells Konter schrammt selbst hart am Klischee entlang", auch bemängelt die Kritikerin die "komplette Ironiefreiheit" des Abends. Irene Bazinger ist in der FAZ milder: "Über die junge Ophelia erfährt man zwar auch nicht mehr als das, doch wie dies geschieht, ist von atemberaubender Bildhaftigkeit und artistischer Virtuosität."

Weiteres: In Paris hat kein Mensch den Shitstorm zur Kenntnis genommen, der sich in Deutschland über Alvis Hermanis ergoss, berichtet Manuel Brug in der Welt, eine Buh-Orgie löste allerdings seine moderne Inszenierung der Berlioz-Oper "La Damnation de Faust" an der Bastille-Oper aus.

Besprochen werden außerdem die Uraufführung von Philippe Boesmans' Oper "Au monde" in Aachen (Neue Musikzeitung, FAZ), Verdis Oper "Giovanna d'Arco" mit Anna Netrebko an der Scala (NZZ) und Karin Beiers am Schauspielhaus in Frankfurt um die Flüchtlingsthematik angereicherte Inszenierung von Fellinis "Schiff der Träume", der ein einigermaßen entsetzter Till Briegleb in der SZ eine "derartige Holzschnittartigkeit [attestiert], dass man beinahe von positivem Rassismus sprechen möchte."
Archiv: Bühne

Musik

Madonna war auf der Place de la République, wo die Pariser der Opfer vom 13. November gedenken, und hat für Besucher des spontanen Gedenkorts sogar ein Lied gesungen, berichtet der Guardian (es gibt ein Video, wo man sie hört, aber nicht sieht). Fatma Aydemir unterhält sich für die taz mit Marc Weinstein, dem Gründer des seit 25 Jahren bestehenden kalifornischen Indie-Plattenladens Amoeba. Für den Tagesspiegel porträtiert Gunda Bartels die Sängerin und Pianistin Johanna Borchert, die heute im Berghain auftritt.

Besprochen werden ein Konzert der Geigerin Vilde Frang in der Zürcher Tonhalle (NZZ), ein Auftritt von Quinn Kelsey (FR), Lucrecia Dalts "Ou" (Spex) und Jennylees "Right On!" (taz).

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Architektur

Timmerhuis, Rotterdam, Entwurf Reinier de Graaf. Foto: OMA Office.

Hanno Rauterberg feiert in der Zeit die "rabiate Euphorie" der Stadt Rotterdam und das famose, und dabei gar nicht teure neue Rathaus der Stadt, das Reinier de Graaf, Partner Rem Kohlaas', entworfen hat: Die Details machen es, die sanft gewellten gläserne Außenwände, die den Eingang umgeben, etwa: "Sie spielen mit der Idee eines Vorhangs, den man sanft zur Seite schieben kann, um aus dem öffentlichen ein offenes Haus zu machen. Zugleich finden sie für die klassische Curtain-Wall, die sogenannte Vorhangfassade vieler Hochhäuser, eine spielerische Form. Vor allem aber sieht jeder Besucher, der auf diese Wand zuläuft, sein eigenes Spiegelbild, und das gleich dutzendfach, so als handele es sich um eine subtile Aufforderung, die Welt doch bitte aus möglichst vielen Perspektiven anzuschauen."
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