Efeu - Die Kulturrundschau

Gleichmut, Stringenz, Serialität

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18.09.2015. Die SZ wird meditativ in der Münchner Ausstellung von Hanne Darboven, die FR wird in der Frankfurter Ausstellung eher depressiv. Der Standard besucht die neue Betonbadewanne des Sprengel Museums. Tagesspiegel und taz haben überhaupt keine Lust, in Patrick Wengenroths feministischer Theatercollage "thisisitgirl" zu lachen. Der FAZ-Kritikerin zerreißt es das Herz, wenn Christian Gerhaher als Wozzeck irre lächelt. Die Jungle World besteht auf Spezialistentum in der Germanistik. Die taz empfiehlt Schorsch Kamerun: Sing lieber auf Deutsch.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.09.2015 finden Sie hier

Architektur


Die Erweiterung des Sprengel Museums im August 2014 noch im Bau. Foto: unter cc-Lizenz von Christian Schd, Wikipedia

Michael Wurmitzer besucht für den Standard den von Meili/Peter aus Zürich errichteten Erweiterungsbau zum Sprengel Museum in Hannover: "Es ist ihr erster Museumsbau - und gleich ein Kraftakt! 36 Millionen Euro hat die auf einem gläsernen Sockel ruhende Betonwanne gekostet und ist eine ingenieurtechnische Meisterleistung: In einem Stück vor Ort gegossen, wurde rundherum ein Wärmezelt errichtet, um Sprünge beim Aushärten zu vermeiden. Fugenlos wie ein "gewachsener Stein" sei das Ergebnis, so der ins Baugeschehen hinein berufene Direktor Reinhard Spieler. 75 Meter erstreckt sich die Fassade hinter dem Stammhaus, aufgelockert von einem Relief aus Horizontalen und Vertikalen."
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Kunst


Hanne Darboven, Kulturgeschichte 1880-1983, 1980-1983, Installationsansicht DIA:Beacon, Riggio Galleries, Beacon, NY, 3.5.2003-25.3.2005. © Hanne Darboven. Dia Art Foundation New York, Foto Florian Holzherr

Die konvolutartige, derzeit in Bonn und in München ausgestellte Kunst von Hanne Darboven ist "eine [Zumutung], die sich lohnt", freut sich Kia Vahland in der SZ, die die Münchner Ausstellung allerdings für die etwas gelungenere hält. "Diese Künstlerin überwältigt mit Gleichmut, Stringenz, Serialität. Sie schwingt den Stift über das Papier, in immer gleichen Wellenbewegungen, nur deren Zahl variiert. ... Zeitlebens arbeitete sie sich an Kalendern ab, addierte auf eigene Weise Daten: Tageszahl plus Monatszahl, plus die letzten beiden Ziffern eines Jahres, jene aber einzeln gezählt. Mit dieser Formel summierte sie Jahrzehnte, Jahrhunderte, wollte das Universum erfassen und ein eigenes schaffen." Michael Kohler von der FR hat die Bonner Ausstellung besucht, wo ihm ganz melancholisch ums Herz wurde: Seine "bittere Erkenntnis: Wer schreibt, versucht sich etwas zu vergegenwärtigen, was nicht mehr ist, und während er noch schreibt, zeigt ihm die leblose Schrift, dass er das, was er sucht, verloren hat."

Weitere Artikel: In der Presse freut sich Almuth Spiegler über Caravaggios gar nicht so süßen "Schlafenden Amor", den das Kunsthistorische Museum Wien aus Florenz ausgeliehen hat. In der NZZ schreibt Marc Zitzmann zum dreißigsten Geburtstag des Centre culturel suisse in Paris.

Besprochen werden die Cranach-Ausstellung in Wittenberg (NZZ), das Programm der Berliner NGBK zur Art Week (Tagesspiegel) und die Ai-Weiwei-Retrospektive in London (FAZ).

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Bühne

Die Berliner Schaubühne startet mit Patrick Wengenroths feministischem Collage-Abend "thisisitgirl" in ihre Spielzeit. Bei dem Thema mit dem Schlimmsten, nämlich unfreiwilligem Humor, hatte Christine Wahl gerechnet. Im Tagesspiegel gibt sie nun jedoch Entwarnung: Die Komik sei "hundertprozentig freiwillig. Die Klischees werden mit Grandezza ausgestellt, statt blauäugig reproduziert." Tatsächliche Brisanz barg der Abend ihrer Ansicht nach allerdings nicht, worin ihr auch Anne Peter in der taz recht gibt: "Die Nummernrevue [verläuft sich] in allzu konsensfähigen, leicht beschmunzelbaren Trottelklischees. Man lacht gern und viel, die beeindruckend lange Lektüreliste des Programmzettels von Simone de Beauvoir über Alice Schwarzer bis Judith Butler lässt sich dem Abend hingegen nur bedingt anmerken. Entwaffnend ist die Selbstverlachungs- und -entlarvungsbereitschaft, mit dem Wengenroth und seine Geschlechtsgenossen zu Werke gehen. Da verzeiht man der sympathischen Unternehmung gern, dass manche Szene länglich bis verzichtbar gerät, vieles nur angetippt wird und die Erkenntnisfunken eher spärlich fliegen." Für die SZ war Peter Laudenbach im Publikum. (Bild: thisisitgirl. Foto: Gianmarco Bresadola, 2015)

Nach ihren Kollegen sinkt auch Eleonore Büning in der FAZ vor Christian Gerhahers Zürcher "Wozzeck"-Performance auf die Knie: "Melierte Zwischentöne braucht es, um diesen dem wahren Leben zugehörigen Charakter darzustellen, auch Pastellfarbenes, Zartes, Feines, neben der aufbrausenden Jagd nach Glück und dem schwarzen Loch der apokalyptischen Visionen auch etwas Zweifel, eine Prise Ambivalenz. ... Die Modulationsfähigkeit dieser Stimme ist außerordentlich. Wie er in der zweiten Invention, im dritten Akt, um Marie ein letztes Mal wirbt und sie zugleich bedroht, wie er irre lächelt, tief aufseufzend und hoch skandierend im Falsett, das ist herzzerreißend."

Friederike Gräff spricht für die taz mit Karin Beier, der Intendantin des Hamburger Schauspielhauses, das derzeit Flüchtlinge beherbergt und sich davon auch vom heutigen Beginn der Spielzeit nicht abhalten lassen will: "Ich fände es ein ganz blödes Zeichen, wenn wir sagten: "Jetzt spielt das Theater, dann geht es nicht mehr". Wir machen es genauso weiter. Vielleicht legen wir die Matratzen erst um elf statt um zehn Uhr aus. Wie lange wir es schaffen, wie lange wir Freiwillige haben, die zwischen zwei Uhr nachts und acht Uhr morgens Wache schieben, das weiß ich noch nicht."

Besprochen werden Peter Brooks" Inszenierung "Battlefield", ein später Nachtrag zu seinem "Mahabharata" von 1985, in Paris ("Wie bei Oblaten muss man vom entsprechenden Glauben beseelt sein, um durch diese bis hin zur Fadheit vergeistigte Kost in Verzückung versetzt zu werden", seufzt Marc Zitzmann in der NZZ), Choreografien von Thierry Malandain an der Wiener Volksoper (Standard), Matthias Lilienthals "Shabbyshabby Apartments" in München (Tagesspiegel), Kordula Hildebrandts Dokumentarfilm "Tango Pasión" über die Berliner Tangoszene (FR), Johan Simonis" "Rheingold"-Inszenierung bei der Ruhrtriennale (Tagesspiegel) und die von John Fulljames" inszenierte und von Hofesh Shechter choreografierte Aufführung von Christoph Willibald Glucks "Orphée et Eurydice" am Royal Opera House in London (SZ).
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Film

Besprochen werden Wolfgang Beckers "Ich und Kaminski" (NZZ), Raoul Pecks "Mord in Pacot" (Tagesspiegel, Filmgazette, Perlentaucher), Baltasar Komákurs "Everest" (FR, SZ) und Lorraine Lévys "Der Sohn der Anderen" (Tagesspiegel).
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Stichwörter: Peck, Raoul

Literatur

Bloß keine noch populistischere Germanistik, stöhnt Magnus Klaue in der Jungle World, wo kürzlich Manuel Clemens eine entsprechende Forderung laut gemacht hatte. Er plädiert für mehr fachliches Selbstbewusstsein: Denn diese "Klage über das Spezialistentum [bedient] kleinbürgerliche Ressentiments. Philologische Arbeiten über "Die deutsche Aristophanes-Rezeption im 19. Jahrhundert" oder "Körper als Metapher bei Juli Zeh" mögen Leuten, die etwas anderes gelernt haben, überflüssig erscheinen - ein Urteil, das in letzterem Fall vermutlich sogar zutrifft. Die Arbeitsteilung, deren Produkt sie sind, ist aber Ergebnis wissenschaftlichen Fortschritts und wird an anderen Disziplinen als den Geisteswissenschaften selten beanstandet. ... Nur Fächer wie die Philologie und die Philosophie, die mit dem Zweckfreien zu tun haben, müssen sich ständig vor einer imaginären Bürgerversammlung rechtfertigen."

Weitere Artikel: In seiner Reihe "Mein Jahr ohne Udo Jürgens" im Logbuch Suhrkamp denkt Andreas Maier über Udo Jürgens und das Geschlechterverhältnis nach. Sandra Vogel war für die Berliner Zeitung bei Richard Flanagans Lesung auf dem Internationalen Literaturfestival in Berlin, das Thomas Hummitzsch in der taz resümiert.

Besprochen werden Peter Härtlings Roman-Fantasie "Verdi" (Standard), Roz Chasts Comic "Können wir nicht über etwas anderes reden?" (SZ) und Bernard Maris" "Michel Houellebecq, Ökonom - Eine Poetik am Ende des Kapitalismus" (SZ).
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Musik

Anders als gerade noch Klaus Walter auf Byte.FM kann Chris Bohn, Chefredakteur der britischen Musikzeitschrift The Wire und Experte für deutsche Popmusik, dem neuen Album der Goldenen Zitronen (hier im Stream) nur wenig abgewinnen. Schorsch Kamerun hätte besser nicht versucht, die deutschen Songs auf Englisch zu singen, meint Bohn in der taz: "In seiner Muttersprache nuanciert er Worte fast unmerklich und betont dadurch subtil die Art, wie sie sich in den Post-Punk-Techno-Rhythmus-Bässen verteilen, die seit Mitte der Neunziger Bestandteil der Musik der Goldenen Zitronen sind. Auf "Dead Frog" aber ist Kamerun viel zu beschäftigt damit, die englischen Texte richtig zu artikulieren." In der Spex bespricht Christina Mohr das Album.

Weitere Artikel: Ji-Hun Kim von Das Filter legt sich mit Max Richters achtstündiger Komposition "Sleep" (mehr dazu hier) ins Bett. Hanspeter Künzler unterhält sich in der NZZ mit Dan Auerbach über dessen neues Projekt "The Arcs" - "eine Art psychedelischer Rock-Soul für die Neuzeit", meint Künzler. In der Zeit porträtiert Angela Köckritz den Köpenicker Rapper Romano. In der taz porträtiert Franziska Buhre die Jazzsaxofonistin Kathrin Lemke. Carsten Niemann kann es im Tagesspiegel nicht fassen, dass das Berliner Ensemble Kaleidoskop (mehr) nach bisherigem Stand der Dinge keine Fördermittel mehr erhalten soll.

Besprochen werden Sufjan Stevens" Auftritt in Berlin (Berliner Zeitung), das neue Album von Cocorosie (Spex), Bixiga 70s "III" (taz), das Album "Ones and Sixes" von Low (Standard) und das neue Soloalbum von Keith Richards (Berliner Zeitung, NZZ, Standard).
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