Efeu - Die Kulturrundschau

Was die Lyriker da haben, das will ich auch!

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22.08.2015. Hat die Literaturkritik ihre Maßstäbe verloren?, fragt die NZZ, die Ralf Rothmanns gefeierten Kriegsroman "Im Frühling sterben" für reinste Landserromantik hält. Robin Detje erkennt bei Zeit Online eher auf Puritanismus angesichts der Vorwürfe gegen Tex Rubinowitz. Jonathan Franzen möchte sich lieber nicht bei Twitter anmelden. FAZ und Nachtkritik wagen sich bei der Ruhrtriennale in Susanne Kennedys Zombie-Puppenwelten. Die Welt blickt an Bauten von Paul Schneider-Esleben bewundernd zur Vorstandsetage hinauf.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.08.2015 finden Sie hier

Literatur

Hat die Literaturkritik ihre Maßstäbe verloren? Roman Bucheli ist in der NZZ fassunglos, wie emphatisch Ralf Rothmanns Kriegsroman "Im Frühling sterben" aufgenommen wurde. Bucheli sieht eine Rückkehr der Landserliteratur, die er mit Claude Simon oder W.G. Sebald eigentlich überwunden glaubte: "Warum stört sich niemand daran, dass Ralf Rothmann hier auf den naiv ungebrochenen, durch keine Zweifel erschütterten Darstellungsrealismus verfällt, dessen erzählerische Mittel näher bei Konsalik als der Brachialästhetik eines Tarantino liegen? Wieso - zuletzt - stört sich niemand daran, dass die Unschuld vom Lande in die Uniform der Waffen-SS gesteckt wird und unser Mitgefühl einfordert? Das ist die "moralische Herausforderung" des Romans, von der Ina Hartwig in ihrer Rezension spricht - der sich aber, so weit es zu überblicken ist, niemand gestellt hat. Allenthalben ging man vor Rührung und Ergriffenheit in die Knie."

Jonathan Franzen
bleibt der meist erwartete Autor Amerikas und hat gerade seinen neuen Roman "Purity" veröffentlicht, der Emma Brockes im Guardian zu einem recht langatmigen Portät inspirierte. Franzen bleibt bei seiner Skepsis gegenüber dem Internet und Twitter: "Franzen musste einige gefälschte Twitter-Konten deaktivieren lassen, "denn ich hatte dieses Poblem mit Leuten, die mich verkörpern wollten, aber nicht in parodistischer Weise. Es ist nicht gerade einfach, sie löschen zu lassen. Ich musste mich selbst fotografieren und dabei meinen Pass neben mein Gesicht halten." Er sieht genervt aus. "Ich wusste nicht mal, was ich von Twitter halten soll. Die Leute kopieren mir manchmal Sachen aus Twitter und schicken sie mir. Muss man sich da nicht registrieren?" Doch, sage ich. Lange Pause. "Da möchte ich mich nicht registrieren.""

Auf die Vorwürfe gegen Tex Rubinowitz, sich bei Wikipedia bedient zu haben, kann Robin Detje auf ZeitOnline allenfalls mit Schulterzucken reagieren. Den Kritikern wirft er ein puritanisches Gemüt vor: Kunst sei demnach nur Kunst, wenn sie Arbeit sei. "Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung des Kulturbetriebs. Sie kann schnell an die Substanz gehen. Dann wird sie ein Werkzeug von Künstlerhass und Kulturverachtung, wie wir sie aus allen autoritären Gesellschaften kennen: Dichter in die Produktion! ... Der Glaube, das Internet sei an allem schuld, wird übermächtig. Dass alle Rhapsoden seit Homer Könige der Diebe waren, ist vergessen."

Anlässlich des anstehenden 100. Geburtstags von Franz Josef Strauß empört sich die Schriftstellerin Petra Morsbach in der taz darüber, dass Wilhelm Schlötterers Bericht über Strauß" Machtapparat trotz Bestseller-Status in der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen wurde, geschweige denn Folgen hatte. Im Welt-Interview mit Britta Heidemann spricht die Autorin Katharina Hacker über ihren neuen Roman "Skip", das nichtgelebte Leben und die Seele der Wörter: "Ich wünsche mir, dass die Sprache eine Beweglichkeit gewinnt in ihrer Satzstruktur, die die Spielräume der Wörter miteinander in Resonanz bringen kann. Das, was die Lyriker da haben, das will ich auch haben!"

Weitere Artikel: Für die FAZ berichtet Schriftsteller Leif Randt von seiner Reise nach Indonesien. Außerdem hat die FAZ Felicitas von Lovenbergs Porträt der Buchsammlerin Gundel Mattenklott online nachgereicht. Heiko Christians nimmt in der Welt die schulischen Experimente mit smarten Medien unter die Lupe.

Besprochen werden Oliver Sacks" "On the Move. Mein Leben" (FR), Karl Wolfgang Flenders "Greenwash, Inc." (taz), Momus" hier kostenfrei erhältliches Ebook "Herr F" (taz), Serhij Zhadans "Mesopotamien" (SZ) und Katharina Hackers "Skip" (FAZ).
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Architektur


Paul Schneider-Esleben, Mannesmann-Hochhaus Düsseldorf (1954-58). © Architekturmuseum TUM | Foto: Inge Goertz-Bauer

In einer Ausstellung über den Architekten Paul Schneider-Esleben im Architekturmuseum der TU München lernt Marcus Woeller (Welt), wie elegant Hierarchien in der Nachkriegszeit bauen konnten: "Alles hängt vom Vorstand ab. Diese hierarchische Logik der Unternehmensführung kann man auch in Stahlbeton gießen. 1963 gewann der Architekt Paul Schneider-Esleben den Wettbewerb für den Neubau der Stadtsparkasse Wuppertal. Er hatte ein Hochhaus entworfen, dessen 19 Geschosse am obersten 20. Stockwerk aufgehängt sind und deshalb auch von oben nach unten gebaut werden mussten."


Das war noch Platz für ein LoftCube.

Ivo Goetz will in der FAZ einen neuen Trend in den USA zu smart und ökologisch verträglich konzipierten "Tiny Houses" ausgemacht haben (mehr dazu hier). Wäre das auch was für Deutschland, wo man die Häuser etwa in den zusehends unbezahlbaren Innenstädten auf Flachdächern anbringen könnte? Zwar "sind die filigranen, oftmals ohne Wärmeisolierung konzipierten japanischen Minihäuser in Deutschland [sicher] nicht ohne weiteres genehmigungsfähig. Als Ausgangspunkt für ein Nachdenken über die Frage, wie wir mit weniger Raum auskommen können, die Innenstädte verdichten und die Berufspendelei reduzieren können, sind diese Minihäuser aber außerordentlich wichtig."
Archiv: Architektur

Design

Gabriele Detter (NZZ) lernt in der Schau des Südtiroler Designers Martino Gamper im Museion Bozen, der Regale neu aus der Kombination von Ordnungssinn und Sammelleidenschaft denkt: "Die Ästhetik der Regalklassiker bewahrt die Maxime der Moderne, "Design is Function". Diesem Ziel eiferten vor allem Architekten nach - auch der große Ignazio Gardella, dessen Scaffale (1970) aus einer Minimal-Struktur besteht. Gamper, ein "Enkel" jener Designer-Generation, hingegen setzt industriell gefertigten Modulsystemen ein gefühlsbetontes, an der Schnittstelle von Kunst und Design positioniertes Formendenken entgegen. In diesem Punkt deckt sich sein von Zufall und Instinkt geleiteter, antitechnizistischer Gestaltungsansatz mit der Tätigkeit des Sammelns, die sich dem Perfekten im Sinne von "vollendet" und "abgeschlossen" entzieht."

Und weil alle drüber reden: Hellmuth Karasek rezensiert in einem Werbeclip den Katalog eines bekannten Möbeldiscounters.
Archiv: Design
Stichwörter: Karasek, Hellmuth, Ikea, Südtirol

Film

Hans-Jörg Rother (FAZ) gratuliert dem Dokumentarfilmemacher Thomas Heise zum 60 Geburtstag. Besprochen werden Kerstin Ahlrichs" Verfilmung von Karen Duves Roman "Taxi" (taz), Bastian Günthers Essayfilm "California City" (Tagesspiegel), Elkan Spillers Porträtfilm "L"Chaim" (Jungle World) und Antoine Fuquas Boxerfilm "Southpaw" mit Jake Gyllenhaal (FAZ).
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Kunst

Die Kunstmarktpreise für Werke von Ai Weiwei sind in den letzten Jahren explodiert, berichtet Alexander Hosch in der SZ. Liegt es an Ais politischem Engagement - oder vielleicht sogar an seiner Inhaftierung? "Kunstmarkt kann zynisch sein. ... Lässt sich politisches Engagement etwa doch beziffern? ... Bei Ai Weiwei ist das Künstlerische politisch, und das Politische künstlerisch. Privat ist beides in seinem Fall sowieso. Und wenn er Überwachungskameras, die jahrelang jeden Schritt in seinem Haus für die Polizei aufzeichneten, im Stil von Grabbeigaben der Qing-Zeit mit weißem Marmor überzieht, dann gibt es keinen Zwischenraum mehr."

Tilman Spreckelsen (FAZ) und Cornelia Geißler (FR) gratulieren Wimmelbild-Zeichner Ali Mitgutsch zum 80. Geburtstag. Besprochen wird Jinran Kims Ausstellung "After the Rain" in Berlin (Tagesspiegel).

Archiv: Kunst
Stichwörter: Ai Weiwei

Musik

Von FKA Twigs" neuer EP "M3LL155X" (sprich: Melissa) ist Jan Kedves in der SZ restlos begeistert: Auf dieser Veröffentlichung klinge die Musik von Twigs "noch komplexer, noch kryptischer als auf "LP1". Noch faszinierender. Die schroffen Trip-Hop-Beats sind verzerrter, ihr Gesang ist nicht mehr nur gehaucht und gesäuselt, sondern auch mal aggressiv herausgerappt ("In Time") oder an der Grenze zum Forte gepresst ("I"m Your Doll"). ... Ein kleines Meisterwerk, das mit fünf Stücken die Durchschlagskraft und Schlüssigkeit eines Albums entwickelt. ... Sie [ist] die größte, die es im Pop momentan zu hören und zu sehen gibt." Völlig von den Socken ist Kedves auch nach dem viertelstündigen Kurzfilm, der die EP begleitet:



Weiteres: Christoph Giesen war für die SZ mit Laibach in Nordkorea und erzählt in einer ganzseitigen Reportage vom Land der drei Sonnen. Lucas Wiegelmann trifft für die Welt die Geigerin Anne-Sophie Mutter zum Essen. Stefan Schickhaus (FR) spricht mit dem Dirigenten Thomas Hengelbrock, der im Januar mit dem Herbert-von-Karajan-Musikpreis ausgezeichnet wird. Regine Müller (taz) porträtiert den Dirigenten Teodor Currentzis. Jens Balzer stimmt in der Berliner Zeitung aufs Berliner Krachfestival Atonal ein. Elke Windisch berichtet im Tagesspiegel von den Schwierigkeiten bei der Überführung von Sergej Rachmaninows Überresten aus den USA nach Russland.

Besprochen werden das neue Album von Boy (Freitag, Spex), die Wiederveröffentlichung von Romolo Granos Album "Musica Elettronica" (The Quietus) und ein Konzert des Jazzsextetts Hildegard lernt fliegen (FR).
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Bühne

Philipp Ruch vom Zentrum für politische Schönheit ruft in der Nachtkritik im Namen der engagierten Kunst glatt zu Rechtsverstößen auf, wenn es der Sache dient: "Es ist für Widerstand eher atypisch, dass er gesetzlich abgesichert ist. Nicht erst das Beispiel Elser macht das vor. Bis heute wird Elser in der pazifistischen Bundesrepublik im kollektiven Gedächtnis eher als eine Art Karteileiche geführt. Auch der Blockbuster-Kinofilm konnte daran nicht rütteln. Das Zentrum für Politische Schönheit ist dem Selbstverständnis nach Schützenhelferin des Rechts. Man nenne es das historische Recht, Naturrecht, Recht der Menschheit, dem wir da mit Aktionen auf die Sprünge helfen. Es mag den Zeitgenossen illegal erscheinen. Aber in einer überzeitlichen Rechtsordnung sieht das vollkommen anders aus."


Höllische Installation: Zombie-Eurydike in einer womöglich beliebigen Halle. Bild: © JU / Ruhrtriennale 2015

Als "begehbare Oper", schreibt Wolfgang Behrens in der Nachtkritik, hat Susanne Kennedy ihre bei der Ruhrtriennale aufgeführte "Orfeo"-Inszenierung angelegt. Ihrem Ruf gerecht werdend, hat sie auch diese Inszenierung wieder mit beträchtlichem Aufwand wie einen Blick in ein Zombiewelten-Puppenhaus angelegt, erfahren wir weiter. Rechtfertigt das Ergebnis die Mühen? Behrens wägt ab: Die Regisseurin "hat mit ihren Mitstreiterinnen wieder einmal eine faszinierende, durch optische und akustische Vexierspiele auch durchaus irritierende Oberfläche geschaffen. Und ihr Theater, das schon längst eine Schlagseite zum Installativen aufwies, ist nun zur Installation geworden. Aber hinter den starken Bildern dieser Oberfläche lugt (...) im Grunde eine recht schmale Pointe hervor: dass das (klein-)bürgerliche Zimmer mit Gießkanne und Palme die Hölle ist."

Andreas Rossmann (FAZ) ist eindeutig nicht überzeugt: "Diese Opern-Installation [erscheint] als Kopfgeburt, ausgedacht und abseitig, die pastellfarbenen Angsträume haben etwas Steriles, fast allzu Nettes! ... Kennedy [nimmt] die Aura der mächtigen Kohlenmischanlage in Essen, die schon viele (...) zu abgründigen Raumerkundungen herausgefordert hatte, genauso kleinmütig an wie die Musik von Monteverdi. Diesen Parcours hätte man auch in einer beliebigen Halle, auf dem Parkplatz des Geländes oder im Berliner Gropius-Bau, wo er vom 18. September bis zum 4. Oktober gezeigt wird, anlegen können."

Außerdem: Vor fünf Jahren ist Christoph Schlingensief gestorben. Alexander Kluges dctp ehrt den verstorbenen Künstler mit einer großen Auswahl an Archivvideos. Besprochen werden Johan Simons" Ruhrtriennale-Auftakt "Accatone" (Zeit) und beim "Tanz im August" in Berlin aufgeführte Choreografien von Rosemary Butcher und Marie Chouinard (Berliner Zeitung).
Archiv: Bühne