Efeu - Die Kulturrundschau

Dieses Ozeanische

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.08.2015. Im Wiener Kurier erklärt Franz Welser-Möst, warum der derzeit beste italienische Tenor wohl nie ein Star wird. Im Freitag protestiert der Filmhistoriker Dirk Alt blass vor Entsetzen gegen die Zerstörung originaler Filmdokumente durch das Bundesfilmarchiv. Der Schriftsteller Thomas Meinecke (Freitag) und die Historikerin Marion Detjen (114) erklären, warum sie FeministInnen sind. Die taz bewundert den unstillbaren Zorn der Malerin Joan Mitchell. The Quietus hört Cashmere Radio aus Lichtenberg.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.08.2015 finden Sie hier

Bühne

Das heutige Opernpublikum ist heute viel zu sehr von Fernsehen und Kino geprägt, meint Franz Welser-Möst, der in Salzburg den "Fidelio" dirigiert, im Interview mit dem Wiener Kurier: "Früher hat auch Pathos niemanden gestört. Heute belustigt das die Leute... Ein dicker Sänger etwa wird oftmals abgelehnt. Ich habe zuletzt an der Mailänder Scala Fabio Sartori als Radames und Cavaradossi gehört. Sartori hat heute die einzige echt italienisch klingende Stimme im Tenorfach von Weltformat. Aber aufgrund seines Aussehens hat er geringere Chancen auf einen Durchbruch als Jonas Kaufmann."

Dass Sartori singen kann, hört man auch durchs Handy - ein Auszug aus Verdis Requiem in Verona 2013:



Die in Bayreuth anwesenden SZ-Kritiker bringen ihre Notizen zu Castorfs wiederaufgenommener "Ring"-Inszenierung, die vom Publikum mit Jubel für Kirill Petrenko und Buhs für Castorf quittiert wurden: Andrian Kreye schließt beim von Petrenko dirigierten "Rheingold" ganz einfach die Augen. Auch Harald Eggebrecht genießt bei der "Walküre" Petrenkos Dirigat. Kia Vahland erfährt beim "Siegfried" einiges über "den Popanz von Machtkämpfen". Und Fritz Göttler sieht bei der "Götterdämmerung" die Sonne aufgehen: "Das Elend mit diesem "Ring" [ist] vielleicht doch nicht mehr ganz so groß wie es einmal war." Manuel Brug stellt in der Welt dagegen zu seiner Überraschung fest, dass Petrenko ihn nicht abheben lässt: "Ist doch wieder Castorfs antiillusionistischen, rüde gebrochenen Absichten näher als der großen "Ring"-Katharsis. Vielleicht deshalb auch der Unmut?"

Besprochen werden Stephan Kimmigs Salzburger "Clavigo" (Tagesspiegel), die bei den Salzburger Festspielen aufgeführte "Komödie der Irrungen" (FR, SZ), Bellinis "Norma" mit Cecilia Bartoli bei den Salzburger Festspielen (Standard) und Elke Heidenreichs und Marc-Aurel Floros" in Rheinsberg uraufgeführte Oper "Adriana" (FR).
Archiv: Bühne

Film

Sehr entsetzt ist der Filmhistoriker Dirk Alt im Freitag darüber, dass die Zerstörung von historischen Nitro-Filmrollen nach ihrer Umkopierung oder Digitalisierung gängige Praxis im Bundesfilmarchiv ist: "Ganz abgesehen von der Tatsache, dass bislang kein tragfähiges Modell zur Langzeitarchivierung digitaler Daten vorliegt, dem man einen Schatz wie das deutsche Filmerbe ruhigen Gewissens anvertrauen könnte, wäre der Dokumentenwert des Originals in Anbetracht der beliebigen Manipulierbarkeit digitaler Bildinformation unrettbar verloren. Dokumentenwert haben nur die Ausgangsmaterialien, die filmischen Artefakte des analogen Zeitalters: Ihr erinnerungspolitischer Wert kann kaum hoch genug veranschlagt werden."

Besprochen wird Tom Cruises "Mission: Impossible - Rogue Nation" (Standard).
Archiv: Film

Kunst


Joan Mitchell, Ohne Titel, 1992. © Nachlass Joan Mitchell, Sammlung der Joan Mitchell Foundation

Ziemlich großartig findet Annegret Erhard (taz) die im Kunsthaus Bregenz ausgestellten Malereien von Joan Mitchell: Sie war eine Kämpfernatur, was man auch in ihren Bildern sehe. Sie lassen "gestisch und dabei sehr präzise im Umgang mit Rhythmus und Farbe die schönsten, glühendsten, dicht und transparent zugleich strukturierten abstrakten Landschaften entstehen (...). Emotional aufgeladene Orte der Erinnerung, mal dynamisch und kalligrafisch inspiriert in einem Geflecht frei geschwungener Linien, mal kraftvoll in ein düster geschichtetes Farbknäuel gepresst. Daneben stehen breite Pinselschraffuren in Gelb und immer wieder blaue, Lake-Michigan-blaue Farbfelder. Manche sagen, es sind Bilder der Wut, des unstillbaren Zorns."

Weiteres: In der Presse resümiert Johanna Hofleitner die Kunst im Salzburger Sommer. Christiane Meixner (Tagesspiegel) gratuliert Paul McCarthy zum 70. Geburtstag. Besprochen wird die Baselitz-Ausstellung der Albertina in St. Petersburg (Standard).
Archiv: Kunst

Literatur

Im Freitag-Gespräch erklärt Thomas Meinecke Juliane Löffler, warum er sich als Feminist versteht: Dies habe nicht zuletzt auch mit den Männern zu tun, die ihm zum allergrößten Teil nicht geheuer sind. Auch in seinem Schreiben schlage sich das nieder: "Ich taste mich in einer Versuchsanordnung an Problemkonstellationen heran. Das Infragestellen, das diffizilere Denken und Formulieren kommt überwiegend von Autorinnen, auch in der Theorie, etwa von Silvia Bovenschen oder Judith Butler. Das macht für mich die ganze Lust am Schreiben aus: dieses Ozeanische, Texte, die nach allen Seiten offen sind. Das ist etwas sehr Unmännliches."

Noch machen die Wörter die Wirklichkeit - auch was die Gleichstellung der Geschlechter angeht, schreibt die Historikerin Marion Detjen im Fischer-Blog 114. Und doch wird es immer Versuche geben, eigene Wirklichkeiten zu schaffen: "Ich bin Feministin, aber habe keine feministische Tradition: keine Linie, an die ich anknüpfen könnte, keine Vorgänger, um mir den Rücken zu stärken, keine Vorbilder, um ihnen nachzueifern. Meine Wirklichkeit ist durch Worte gemacht, die mein Körper teilweise als wahr und teilweise als falsch erkennt und deren Ambivalenz auszuhalten mich einen Großteil der Kraft kostet, die ich brauche, um selbst wirklichkeitsbildend zu werden."

Weitere Artikel: Oliver Grimm besucht für die Presse Gary Shteyngart in Manhattan und plaudert mit ihm über Amerika, Russland und Israel. August und noch kein Reiseziel für den Urlaub? Im Ullsteinblog Resonanzboden empfiehlt Krimiautor Richard Fasten die Oderhaff-Region um die Gemeinde Altwarp. Ralph Trommer (taz) und Lars von Törne (Tagesspiegel) berichten von der Eröffnung des der Disneyübersetzerin Dr. Erika Fuchs gewidmeten Museums für Comic und Sprachkunst in Schwarzenbach an der Saale.

Besprochen werden der zweite und der dritte Teil von Jeff VanderMeers "Southern Reach"-Trilogie (taz), Leopold Federmairs Roman "Im Nebel tasten und davon berichten" (Standard), Evelyn Grills Erzählband "Fünf Witwen" (NZZ), Graham Greenes "Reise ohne Landkarten" (NZZ), Ralf Rothmanns Roman "Im Frühling sterben" (NZZ), Ulrike Draesners "Mein Hiddensee" (FR), Deniz Utlus "Die Ungehaltenen" (Tagesspiegel), Erdmut Wizislas "Begegnungen mit Benjamin" (Tagesspiegel),
Archiv: Literatur

Musik

Nach 22 Jahren ist mit "Dance Me This" das letzte noch zu Lebzeiten fertiggestellte Album von Frank Zappa erschienen. Handelt es sich dabei um Stückwerk und zusammengeklaubte Restaufnahmen? Mitnichten, dieses Album ist "integral", freut sich Peter Kemper in der FAZ: Es wirkt "in seiner kalkulierten Sperrigkeit wie eine eigene Galaxie inmitten des ausufernden Zappa-Universums". Mehr dazu auch auf Popmatters.

Oobah Butler reist für The Quietus ins ferne Berlin-Lichtenberg, wo Studenten der UdK mit Cashmere Radio aus einer Cocktailbar heraus ein Online-Radio für elektronische Avantgardemusik betreiben: "Cashmere Radio may just be the back door entrance into one of the most complex and aloof contemporary music scenes."

Weitere Artikel: Ned Raggett (The Quietus) spricht mit Roger O"Donnell von The Cure über dessen zahlreiche Nebenprojekte. Für die FAZ berichtet Jan Brachmann von den ersten Konzerten der Salzburger Festspiele, wo ihm die "immense Könnerschaft" des ORF- Radio-Symphonieorchester Wien unter Cornelius Meister beim Boulez-Konzert besonders imponiert. Felix Michel berichtet in der NZZ vom Menuhin-Festival Gstaad. Außerdem bringt The Quietus einen Auszug aus Sylvie Simmons wiederaufgelegter Biografie über Serge Gainsbourg.

Besprochen werden das Berliner Björk-Konzert (taz, Berliner Zeitung, Tagesspiegel, SZ), Tame Impalas CD "Currents" (Welt), das Album "Death Magic" von Health ("Hans Zimmer fürs Berghain", meint Thomas Vorreyer in der Spex, Pitchfork), das neue Album von Joss Stone (FAZ), ein Konzert von Myles Sanko und Roachford (FR) und ein Tributalbum zu Ehren von Nina Simone (taz).
Archiv: Musik