Efeu - Die Kulturrundschau

Küsst mich auf den Mund. Dann stirbt er

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30.07.2015. Der Freitag staunt über die Selbstironie moderner Protestkunst in der Türkei. Völlig ironiefrei war dagegen die Begründung britischer Behörden, warum Ai Weiwei nur ein 20-Tage-Visum fürs Königreich bekommt. Ben Kingsley erklärt der Welt: Wir brauchen mehr Regisseurinnen. Die Filmkritiker feiern die Wiederauferstehung des Western in Form von John Macleans "Slow West". Die Musikkritiker verdammen die umwerfende Nettigkeit von Sven-Eric Bechtolfs Salzburger Inszenierung des "Figaro".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.07.2015 finden Sie hier

Film


Verblüffendes Ende: Blutige Vignette in "Slow West".

Die Filmkritik frohlockt über John Macleans Indie-Western "Slow West" mit Michael Fassbender als Kopfgeldjäger mit Herz. Toll findet in der taz Andreas Busche, wie der Film mit dem Zeitbegriff des Genres umgehe: "Maclean imitiert die klassische Form auf souveräne Weise, bricht diese aber immer wieder in komischen und malerisch blutigen Vignetten auf. "Slow West" liefert seinen eigenen Metatext sozusagen gleich mit." Worin ihm Thomas Groh im Perlentaucher nur zustimmen kann: Er sah ein "Vexierbild der Form" und hat sichtlich Freude an diesem "schönen Beispiel eines intelligenten, verspielten, sicher auch "kleinen", aber dennoch mit viel Liebe ans Werk gehenden Westerns, der sich der Geschichte des eigenen Genres (und der eigenen Position darin) stets bewusst ist." Das Genre ist also alles andere als tot - ganz im Gegenteil. Verena Lueken von der FAZ verspricht unterdessen ein "verblüffendes Ende". In der Welt bespricht Reiner Reitsamer den Film (Achtung, Spoiler!).

Wir bräuchten viel mehr Regisseurinnen, erklärt im Interview mit der Welt der Schauspieler Ben Kingsley, der gerade "Learning To Drive" mit Isabelle Coixet gedreht hat, "sie sehen die menschlichen Verhaltensmuster aus ganz anderen Blickwinkeln als Männer", meint er und erklärt das am Beispiel einer Szene aus Coixets Film "Elegy": "Dennis Hopper spielte darin meinen Freund. Als ich ihn auf dem Sterbebett besuche, schnellt er plötzlich hoch, klammert sich an mich und küsst mich auf den Mund. Dann stirbt er. Das ist eine ziemlich angsteinflößende, aber sehr authentisch wirkende Szene. Das ist es, was ich meine, wenn ich von männlichen Verletzlichkeiten rede. Isabel hat einen wunderbaren Blick auf diese Seite an Männern. Diese Eigenschaft teilt sie mit anderen Regisseurinnen, mit denen ich gearbeitet habe."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek stellt in der Welt Monika Grütters Digitalisierungspläne für das Filmerbe vor. Für die taz berichtet Matthias Dell vom Festival "New Horizons" in Breslau, wo es neben vielen Filmen aus Cannes auch eine Philippe Garrel gewidmete Retrospektive gab. Den Berlinern empfiehlt Thomas Groh (taz) Nikias Chryssos" bizarre Komödie "Der Bunker", der demnächst beim Fantasy Filmfest zu sehen ist. Auf Fandor bringt David Hudson Details zum gestern vom Filmfestival in Venedig bekannt gegebenen Programms. Im Freitag empfiehlt Heinz Kersten die historische Langzeitdoku über die "Kinder von Golzow", die noch bis Novemer auf ARD.Alpha ausgestrahlt wird. Lutz Herden (Freitag) erinnert an Peter Lorres einzige Regiearbeit, den 1950 in der BRD entstandenen Film "Der Verlorene", in dem Lorre zum Missfallen des damaligen Publikums mit Nazi-Deutschland abrechnete. Einen Ausschnitt daraus hat der Filmemacher Romuald Karmakar in seiner Reihe "Films you should see before it"s too late" auf Youtube gestellt:



Besprochen werden Naomi Kawases "Still the Water" (taz, Perlentaucher, SZ), Noah Baumbachs "Gefühlt Mitte Zwanzig" (Freitag, Perlentaucher, Welt, SZ, FAZ), die Nerdkomödie "Pixels" mit Adam Sandler (taz), Guillermo del Toros Vampirserie "The Strain" (Tagesspiegel), Syllas Tzoumerkas" Film "A blast" (NZZ) sowie die Ausstellung "Film und Games" im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt am Main (NZZ).
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Kunst


Vor wenigen Wochen hat Ai Weiwei endlich seinen Pass zurückbekommen und kann wieder reisen. Die britischen Behörden wollen ihm allerdings kein 3-monatiges Visum für die Zeit seiner großen Ausstellung in London geben, sondern nur eins für 20 Tage, meldet Xeni Jardin auf BoingBoing. Grund sei sein "Strafregister" in China. Gemeint ist damit Ai Weiweis Verurteilung wegen Steuerhinterziehung, die auf der ganzen Welt als reine Schikane des chinesischen Staats gegen einen aufmüpfigen Künstler aufgefasst wurde, so Jardin. "As the Wall Street Journal"s Jerome Cohen wrote at the time of his conviction, Ai was "never formally arrested, not to mention indicted, tried, convicted or sentenced." But that doesn"t seem to matter to the British government. Ai also posted to Instagram an image he says is the letter he received from the UK Home Office. The government letter explains that his requested visit is restricted to the period beginning September 9 and ending September 29, 2015, rather than the longer stay for which he applied. He is scheduled to be in the UK in September for a big exhibition at London"s Royal Academy of Arts." Mehr dazu im Guardian. Laut Vicki Wong müsste Ai Weiwei jetzt im Flieger nach Deutschland sitzen.


"Gezi-Barrikade", Foto: Aytunç Akad

Sehr erhellend findet Ceyda Nurtsch im Freitag eine Ausstellung in der Berliner Galerie ngbk über die Geschichte der politischen Kunst in der Türkei. Unter anderem lasse sie nachvollziehen, "wie humorvoll und auch selbstironisch die moderne Protestkunst ist verglichen mit der strengeren, die Arbeiter heroisierenden Widerstandskunst der 70er, auf die sie sich bezieht und die sie weiterentwickelt. ... Bezeichnend ist, dass es aus den Jahren um den Militärputsch von 1980 keine Arbeiten gibt. Diese Lücke verdeutlicht, welches Ausmaß die brutale Unterdrückung jeglicher kritischer Stimmen in dieser Zeit der Angst und Autozensur hatte."

Weitere Artikel: Anlässlich des Streits zwischen dem Sammler Bert Kreuk und dem Künstler Danh Vo denkt Wolfgang Ullrich in der Zeit über das Verhältnis von Auftraggebern und Künstlern nach. Die Bildhauerin Rosi Steinbach plaudert im Interview mit der Zeit über die Keramikbüste, die sie von Neo Rauch geformt hat. In der New York Times meldet Randy Kennedy, dass die beiden ehrwürdigsten Kunstpublikationen der USA, Artnews (Website) und Art in America (Website) fusionieren.

 

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Literatur

Glücklich streift Christoph Haas für die SZ durch das neueröffnete, der legendären Donald-Duck-Übersetzerin Dr. Erika Fuchs gewidmete Museum für Comic und Sprachkunst im oberfränkischen Schwarzbach, dem es "ausgezeichnet gelungen sei, sowohl Unterforderung als Überforderung zu vermeiden". Außerdem hat die FAZ Lisa Goldmanns Gespräch mit dem Autor John Green online nachgereicht. In der NZZ schreibt Elisabeth Edl zum Siebzigsten Patrick Modianos. Und: Die Presse meldet die Kandidaten für den Man Booker Preis.

Besprochen werden Patrick Modianos "Damit du dich im Viertel nicht verirrst" (Berliner Zeitung, NZZ, Welt, SZ, FAZ), Siegfried Pitschmanns in DDR unveröffentlicht gebliebener Roman "Erziehung eines Helden" (Freitag), Ulrich Peltzers "Das bessere Leben" (Tagesspiegel), Harf Zimmermanns "Brand Wand" (taz) und Karl Wolfgang Flenders "Greenwash, Inc." (FAZ).
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Musik

Auf The Quietus führt Tomas Fraser durch die neuen Grime-Veröffentlichungen des Monats. Beim Bayerischen Rundfunk gruseln sich Thomas Meinecke, Jens-Christian Rabe und Josef Winkler über die aktuellen Singlecharts. Jan Brachmann (Berliner Zeitung) gratuliert Peter Schreier zum 80. Geburtstag. Zum 90. Geburtstag von Mikis Theodorakis schreiben Torsten Wahl (Berliner Zeitung) und Stefan Schickhaus (FR). Außerdem bringt das Logbuch Suhrkamp Thomas Meineckes neuste "Clip//Schule ohne Worte". Hier als Playlist:



Besprochen werden das neue Album "Cascade" des Ambientkünstlers William Basinski (Pitchfork) und ein Auftritt von James Vincent McMorrow (FR).
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Architektur


Foto: Hildesheimer Dommuseum

Die Erweiterung des Dommuseums in Hildesheim ist geglückt, freut sich Andreas Platthaus in der FAZ: "Grandios in der Wirkung ist das einen Saal in ganzer Breite und Höhe querende dunkelgraue Stahlkreuz, in dessen Mitte das berühmte Ringelheimer Kruzifix angebracht ist. ... Moderne und Romanik sind hier vereint. ... Im Dommuseum [ist] gerade in den schlichteren Räumen des Untergeschosses, wo die religiös bedeutendsten Objekte (...) ausgestellt sind, eine Aura geschaffen worden, die ganz auf die Objekte setzt, nicht mehr auf architektonische Originalität. Dieses dramaturgische Wechselspiel im neuen Haus ist ein Geniestreich."

Weiteres: Herzog & de Meurons Erweiterungsbau für das Museum Unterlinden im elsässischen Colmar steht kurz vor seiner Vollendung und wird ein Meisterwerk, verspricht Roman Hollenstein in der NZZ. Dass der Architekt Adolf Loos einst als pädophiler Straftäter verurteilt wurde, sollte Ausstellungen über ihn nicht verhindern, verschweigen sollte man die Geschichte aber auch nicht, meint Hanno Rauterberg in der Zeit.
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Bühne


Mozart, "Die Hochzeit des Figaro", Inszenierung von Sven-Eric Bechtolf, Salzburger Festspiele 2015. Foto: Ruth Walz

Sven-Eric Bechtolfs von Dan Ettinger dirigierte Inszenierung von Mozarts "Hochzeit des Figaro" bei den Salzburger Festspielen versetzt die Kritik nur überschaubar in Wallung. "Ein gemütlicher Abend", seufzt Hans-Klaus Jungheinrich (FR) nach vier Stunden Spieldauer, die, wie er versichert, "das Einzige an Zumutung" war: "Wenn Bechtolf denn überhaupt mit etwas Regieeinfall-Verdächtigem hantiert, so in umwerfender Nettigkeit und Gutmütigkeit." Von profunder Unterwältigung berichtet auch Udo Badelt im Tagesspiegel: Er hätte sich den Stoff erotisch deftiger gewünscht: "Man könnte wohl auf stärkere szenische Zuwürzung verzichten, wenn dieser "Figaro" musikalisch in seine Kraft käme. ... Die musikalische Stringenz erreicht mit Mühe das Niveau einer Verständigungsprobe." Das einst unter Ex-Intendant Alexander Pereira vollmundig angekündigte Projekt eines Salzburger Da-Ponte-Zyklus könne endgültig als gescheitert angesehen werden, schreibt Badelt.

Das kann Helmut Mauró (SZ) so überhaupt nicht stehen lassen: Er sieht das Projekt vielmehr "krönend" abgeschlossen, überhaupt sei das ein ganz hervorragender Abend gewesen: Hier konnte "man einen gehirndurchlüfteten, hintersinnig schlauen und bissigen Mozart erleben, der federnden Schrittes durch den Morast menschlichen Makels tänzelt und sich einen Jux daraus macht." Und auch Wilhelm Sinkovicz von der Presse ist zufrieden: Man muss eben einfach nur so inszenieren, wie"s in da Pontes Textbuch steht! Jan Brachmann (FAZ) verteilt unterdessen gute Noten ans Ensemble, das von der etwas "betulichen" Regie jedoch zu sehr zurückgehalten werde: Und nicht zuletzt habe er die Oper "schon mit frischerer Lust an großen Thesen sehen können."

Für die FAZ hat sich Eleonore Büning in Bayreuth nochmals Frank Castorfs umstrittene "Ring"-Inszenierung aus dem Jahr 2013 angesehen: Viel verändert wurde nicht, Dirigent Kirill Petrenko bekam donnernden Applaus und ein zwar namentlich ungenannter, aber "bedeutender deutschsprachiger Philosoph" in der Reihe 26 habe eine Kunstpause im Orchestergraben offenbar mit Hintersinn zum lautstarken Naseschnäuzen genutzt, berichtet sie.

Außerdem: Michael Bartsch besucht für die taz das von Goethe 1802 entworfene, historisch authentisch belassene Sommertheater in Bad Lauchstädt. Christine Lemke-Matwey sucht für die Zeit Wolfgang Wagners Film über den Besuch Hitlers in der Villa Wahnfried in den 1930ern und - findet ihn nicht.

Besprochen werden Wolfgang Rihms "Eroberung von Mexico" in Salzburg (NZZ), Stephan Kimmigs Inszenierung des "Clavigo" in Bayreuth (FR) und Choreografien beim Impulstanz in Wien (Presse, Standard).
Archiv: Bühne