Efeu - Die Kulturrundschau

Augenöffner erster Klasse

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18.07.2015. In Basel offenbart sich Marlene Dumas der FAZ als eine der bedeutendsten Künstlerinnen unserer Zeit. Der Regisseur Dietrich Brüggemann erklärt in der SZ, weshalb man dem NSU nicht mit konventionellem Drehbuchhandwerk begegnen kann. Mirna Funk erzählt in der Welt, wie sie den Gaza-Krieg unter dem israelischen Raketenabwehrschirm erlebte. Und der Tagesspiegel rät zur Opernreise nach Posen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.07.2015 finden Sie hier

Kunst

Einen "Augenöffner erster Klasse" erlebt Rose-Maria Gropp (FAZ) in der Marlene-Dumas-Schau der Fondation Beyeler in Basel. Wem sich Dumas hier nicht als eine der bedeutendsten Künstlerinnen unserer Zeit offenbart, dem könne man auch nicht mehr helfen, meint die Kritikerin. "Es ist ein Œuvre, in dessen Mittelpunkt der Mensch steht, die menschliche Ganzfigur so gut wie das Gesicht in Nahaufnahme, beides nicht selten lebensgroß oder überlebensgroß, manchmal auf kleinem Format. Von beiden Daseinsformen aus dringt die bildnerische Energie, schon physisch erfahrbar, in den Betrachter ein. ... Sie beherrscht den Umgang mit der Farbe wie nur wenige andere neben ihr in der Gegenwart. Vielleicht gerade, weil sie sich selbst der Farbe ausliefert." (Bild: "How Low Can You Go", 2000. Foto: Peter Cox)

Weiteres: Im Tagesspiegel bringt Rüdiger Schaper Hintergründe zum Umbau des Musée Royal de l"Afrique Centrale bei Brüssel. In einer taz-Reportage stellt Reiner Wandler das spanische Dorf Fanzara vor, das sich mit Street Art und Graffitis auf den Häuserwänden selbst zum Museum ausrief und sich damit erfolgreich gegen die Errichtung einer Giftmülldeponie wehrte. Für die SZ wirft Kia Vahland vor dem Hintergrund aktueller Debatten um die Homo-Ehe einen analytischen Blick auf Tizians 1514 entstandenes Bild "Himmlische und irdische Liebe".
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Musik

Im FR-Gespräch mit Hans-Klaus Jungheinrich äußert sich Markus Hinterhäuser, der ab 2017 Alexander Pereira als Intendant der Salzburger Festspiele ablösen wird, auch zu seinen Plänen für das von seinem Vorläufer enorm erweiterte Festival: "Ich glaube nicht, dass es für die Festspiele in naher Zukunft noch Möglichkeiten für Expansion gibt. Eher werden Konzentrationsprozesse einsetzen. ... Man muss ja auch daran denken, dass die Publikumszahlen nicht unerschöpflich sind. Wenn vier, fünf große Veranstaltungen zur gleichen Zeit stattfinden, kann kaum eine davon noch richtig "ausverkauft" sein, und die Interessenten ärgern sich, weil sie etwas versäumen." Die Presse bringt außerdem ein großes Dossier mit Hintergründen zu den Salzburger Festspielen.

Auf dem Debütsoloalbum "Sleep" von Andreas Spechtl, ansonsten Sänger der Indiepopband Ja Panik, begegnen Stephanie Grimm nicht nur "Kindermädchen auf LSD", sondern auch "folkig-psychedelische Soundskizzen". Auf Youtube gibt es eine schöne, von einer Hörprobe unterlegte Aufnahme von der Session für die Gestaltung des Albumcovers:



Außerdem: Martin Longley (The Quietus) berichtet vom Copenhagen Jazz Festival. Lisa-Maria Röhling (Tagesspiegel) besucht die Proben der Vibrafonistin Els Vandeweyer. Die Presse meldet, dass Keith Richards erstmals seit zwanzig Jahren einen Solosong veröffentlicht hat. Für die SZ porträtiert Tim Neshitov den türkischen Pianisten Fazil Say, der im steten Clinch mit der religiös-nationalistischen Enge seines Heimatlandes liegt. Und für die Welt geht Manuel Brug mit Andreas Ottensamer, dem Wiener Soloklarinettisten der Berliner Philharmoniker, in Kreuzberg Schnitzel und Sachertorte essen.

Besprochen werden "Born in the Echoes" von den Chemical Brothers (The Quietus) und Ulrich Tukurs Auftritt beim Rheingaufestival (FR).

Außerdem präsentiert Spex das neue Tocotronic-Video "Rebel Boy":

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Design

Bei der Kostas Murkudis gewidmeten Schau im MMK2 in Frankfurt gewinnt Niklas Maak (FAZ) dem Werk des Modemachers ganz neue Facetten ab: Dass dessen Arbeiten minimalistisch seien, trifft es seiner Ansicht nach nicht ganz. "Sie sind eher maximalistisch in dem Sinne, dass sie aus einem Material, einer Form ein Maximum an haptischen und optischen Effekten herauszuholen versuchen und phantastische, hybride Zwitterwesen schaffen. Da wird etwa Lammfell mit Nylon durchwirkt und Seide mit Latex versiegelt, um sie an den Kanten schnittfest zu machen. Ein Film wird gezeigt, in dem die Kamera über ein Kleid gleitet, dessen Saum durch üppigen Materialeinsatz plötzlich eine reliefartige Tiefe und Materialität bekommt."

"Ausgesprochen sehenswert" sei die Sneaker-Ausstellung im Brooklyn Museum, meint Sebastian Moll in der Berliner Zeitung.

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Bühne

Im polnischen Repertoire gibt es einen wahren Opernschatz für deutsche Bühnen zu heben, jubelt Fredrik Hanssen (Tagesspiegel) nach dem Besuch einer Aufführung von Stanisław Moniuszkos "Halka" in Posen: "Ein einziges Mal ist "Halka" nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin gespielt worden, 1953 an der Staatsoper. Unerklärlich, warum dieses musikalisch so reiche, emotional unmittelbar anrührende Stück westlich der Oder kein Interesse findet. Immerhin kann man in drei Zugstunden nach Posen fahren."

Weiteres: Die SZ bringt eine Strecke mit Bühnenfotografien von Klaus Frahm. In der NZZ berichtet Marc Zitzmann vom 69. Festival d"Avignon. Eleonore Büning (FAZ) gratuliert dem Opernintendanten Ioan Holender zum 80. Geburtstag.
Archiv: Bühne

Literatur

Zur Arbeit an ihrem in diesen Tagen erscheinenden Romandebüt "Winternähe" ist die Journalistin Mirna Funk im vergangenen Sommer von Berlin nach Tel Aviv gezogen. Im Gespräch mit Clara Ott in der Literarischen Welt schildert sie, wie sie den Gaza-Krieg unter dem israelischen Raketenabwehrschirm erlebte: "Interessant war, dass es sich um einen Krieg in einem technologisch hoch entwickelten Land handelte. Wir kennen Kriege sonst nur aus Dritte-Welt-Ländern, aus Syrien, aus afrikanischen Ländern und so weiter. Aber in Israel hat man eine existierende moderne Gesellschaft und es gibt den "Iron Dome". Das ist die einzige Kriegssituation in der gesamten Welt, in der die Gesellschaft vom Kampfgeschehen abschottet wird. Es ist quasi Krieg über den Köpfen der Menschen."

Weiteres: In der FAZ berichtet der Schriftsteller Peter Schneider von seiner Reise an den Grenzwall in Israel. Besprochen werden Tobias Sommers "Jagen 135" (taz), James Agees "Da mir nun bewusst wird" (taz), Karl-Heinz Götterts "Mythos Redemacht - Eine andere Geschichte der Rhetorik" (Tagesspiegel), Jochen Rauschs "Rache" (Tagesspiegel), Ralf Rothmanns "Im Frühling sterben" (Jungle World) und Pete Dexters "Unter Brüdern" (FAZ).
Archiv: Literatur

Architektur

Zum Auftakt der 104. Richard-Wagner-Festspiele in Bayreuth wurde das Richard-Wagner-Museum vom Berliner Architekten Volker Staab saniert und um einen Neubau erweitert, berichtet die Kunsthistorikerin Karin Leydecker in der NZZ: "Dieser schmale, langgestreckte Flachdachpavillon, hart an der Gartenkante gelegen, ist als luftige Stahl-Glas-Konstruktion errichtet und steht in wohltuendem Kontrast zur Erhabenheit der Villa Wahnfried. Von Anfang an war klar, dass als Neubau eher etwas Zurückhaltendes gewünscht war, etwas, das den geschichtsträchtigen Ort zwar optisch stützt, aber nicht einengt. Der Entwurf von Staab Architekten macht keinen Kniefall, aber er gibt sich sehr bescheiden, formal recht unverbindlich und öffnet sich mit gläserner Front freundlich zur Villa hin."

Ebenfalls in der NZZ hofft der Wagner-Forscher Udo Bermbach, dass nun endlich auch das unterbesetzte und unzureichend erschlossene Wagnersche Familienarchiv zugänglich gemacht wird: "Dass ein weltweit so einzigartiges Archiv schlechter ausgestattet ist als manche Stadtbibliothek, kann nur als Skandal bezeichnet werden und zeigt die Geringschätzung, die inzwischen dem kulturellen Erbe Deutschlands entgegengebracht wird. Darüber hinaus wäre es wünschenswert, die Bestände im Festspielhaus mit denen des Archivs zusammenzuführen, um sie der Forschung zugänglich zu machen. Das gilt auch für die privaten Nachlässe. Denn Richard Wagner gehört nicht seinen Nachkommen, er gehört allen, die sich für ihn interessieren."

Im Tages-Anzeiger porträtiert Sabine Sütterlin den Ethnologen Stephen Cairns, der in Singapur die Zukunft der Städte erforscht.
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Film

Nihilistische Satire: Dietrich Brüggemanns "Heil"

Für seine Rechtsradikalen-Komödie "Heil" ist Dietrich Brüggemann vom Feuilleton mitunter arg gerupft werden. Im Gespräch mit Paul Katzenberger im Onlinebereich der SZ erklärt er, weshalb er sich anstatt der üblichen einfühlenden Läuterungsgeschichte à la David Wnendts "Die Kriegerin" für die groteske Überzeichnung entschieden hat: "Es sind Illusionen von Sinnhaftigkeit und Entwicklung zum Besseren, die hier konstruiert werden. Wir brauchen das zum Leben, deswegen funktionieren Filme meistens so. Aber spätestens nach der NSU-Geschichte dachte ich mir, dass man bei diesem Thema mit dem üblichen Drehbuchhandwerk überhaupt nicht weiterkommt. Die Groteske schrieb sich hier doch selbst: Diese Ermittlungsbehörden, die überhaupt nicht miteinander reden, und diese grausigen Neonazi-Kreise in Thüringen, aus denen die Täter kamen. Da ist nihilistische Satire das viel bessere Medium, das zu erzählen." In seinem Blog antwortet er außerdem seinen Kritikern. Schützenhilfe leistet ihm indiewire im Bericht vom Festival in Karlovy Vary: "It"s precisely the sort of comedy Germany needs, not that they will necessarily appreciate it."

Auf critic.de berichtet Frédéric Jaeger ausführlich vom Jerusalem Film Festival und den sich dort bietenden, zahlreichen Eindrücken. Hans-Jörg Rother (FAZ) gratuliert dem Dokumentarfilmregisseur Winfried Junge zum Achtzigsten. Besprochen wird Álvaro Brechners "Señor Kaplan" (FR).
Archiv: Film