Efeu - Die Kulturrundschau

Aufrichtige Täuschung

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05.06.2015. Anish Kapoors "Vagina der Königin" in Versailles ist reinstes Rokoko, schwärmt der Guardian. Zeit online feiert den toughen, skandinavischen Pop-Feminismus. Die Berliner Zeitung hört japanischen Babymetal. Die FAZ durchlebt ein langes Elend mit Lydia Steiers Inszenierung der Händel-Oper "Giulio Cesare".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.06.2015 finden Sie hier

Kunst


Bild: Anish Kapoor"s Dirty Corner. Photograph: Fabrice Seixas/Kapoor Studio

Nachdem Anish Kapoor erklärt hatte, seine Installation "Dirty Corner" im Schlosspark von Versailles sei "die Vagina der Königin", die die Macht übernimmt, brach in Frankreich ein Sturm im Wasserglas aus. Königstreue sahen die Monarchie verunglimpft, berichtet Angelique Chrisafis im Guardian. Jonathan Jones kann die Aufregung überhaupt nicht verstehen, Kapoors Werk ist doch reinster Rokoko, meint er in einem Kommentar: "For it"s not as if Versailles has not seen its fair share of sex. French Revolutionary pamphlets portraying Marie Antoinette"s supposed bedroom antics were propagandist pornography. Louis XIV, the Sun King, who had Versailles built in the 17th century, had many mistresses, as was considered de rigeur for French kings. And in the 18th century, French high society became intensely amorous, a culture of desire that is gloriously immortalised in the art of Watteau and Fragonard."

Weiteres: Im CulturMag schreibt der Schriftsteller Michael Zeller über Paul Cézannes "Äpfel und Orangen".

Besprochen werden eine Ausstellung über die Fotografin Germaine Krull (1897-1985) im Pariser Jeu de Paume (Guardian) und die Festschrift "Linien", die die Staatliche Graphische Sammlung in München zu Ehren ihres scheidenden Direktors Michael Semff veröffentlicht hat (SZ).
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Musik

In Skandinavien feiert der junge Pop-Feminismus mit der Musik von Künstlerinnen wie Jenny Hval, Beatrice Eli und Silvana Imam ganz selbstverständlich fröhliche Urständ", bemerkt ein davon ziemlich begeisterter Daniel Gerhardt auf ZeitOnline: "Hval, Eli und Imam verbindet weniger die musikalische Ausrichtung als eine gemeinsame Herangehensweise. Sie verstehen sich als Allround-Künstlerinnen, die schreiben, produzieren und sich selbst inszenieren, dabei auch das Geschäftliche im Auge behalten. Ihr tougher Stil mit strengen Topfschnitten, betonierten Gelfrisuren und Unisexkleidung widerspricht den Weiblichkeitsvorstellungen des Fashion-Mainstreams und schafft es doch, diesen zu unterwandern. In Göteborg und Stockholm gehört der Beatrice-Eli-Look inzwischen zum Stadtbild. Der deutsche Popbetrieb hat bisher nicht einmal die biedere Version dieses Treibens hervorgebracht, für die er sonst immer zu haben ist." Dazu ein Musikvideo, mehr in Gerhardts Artikel:



In der taz informiert sich Elias Kreuzmair beim Elektro-Produzenten Matthew Herbert unter anderem darüber, wie man aus zerbrechenden Schokoriegeln Beats basteln kann und was solche veruneindeutigten Klangursprünge mit Politik zu tun haben: "Es ist ein Täuschungsmanöver. ... Andererseits ist es eine aufrichtige Täuschung: Die Technologie, die wir zum Musikmachen verwenden, wurde vom Militär entwickelt. Das Öl, aus dem das Vinyl ist, auf dem die Platte gepresst ist, kommt mit großer Wahrscheinlichkeit aus Ländern wie Nigeria, Irak oder Saudi-Arabien. Allem, was wir tun, wohnt auf diese Weise eine gewisse Gewalttätigkeit inne. Das stelle ich mit meinen Tracks aus."

"Zukunft der Popmusik" gefällig? Jens Balzer (Berliner Zeitung) prophezeit: Sie tritt in Erscheinung in Gestalt der Band Babymetal, die aus drei niedlich maskierten japanischen Mädchen besteht, die putzig zu Düster-Metal über Schokolade singen und Ende August in Berlin auftreten. Hier ein Musikvideo:



Außerdem: Danila Tan besucht für die NZZ in Osakas Viertel Namba die Rock"n"Roll-Bar Cohiba. Gregor Dotzauer berichtet im Tagesspiegel vom Auftakt des Jazzdor-Festivals in Berlin. Nadine Lange (Tagespiegel) flaniert mit der Rapperin Yansn am Kreuzberger Landwehrkanal. Ben Graham (The Quietus) spricht mit der Indieband Viet Cong, die ihren Bandtitel, wie Sänger Matt Flegel unterstreicht, keineswegs als Provokation verstanden wissen will: "I feel like such an asshole now that I know more about it."

Besprochen werden ein Frankfurter Wagner-Bruckner-Abend mit Klaus Florian Vogt, Andris Nelsons und den Birmingham-Sinfonikern (FR), Mikal Cronins "MCIII" (taz), der Berliner Auftritt von Kiss ("Großartige Band. Wenn nur die Musik nicht wäre", ulkt Christian Schröder im Tagespiegel, FAZ), David John Sheppards Album "Vertical Land" (The Quietus), das neue Album von Prurient (The Quietus), James Welburn Solo-Album "Hold" (The Quietus), ein Konzert der Tune Yards in Berlin (Tagesspiegel), ein Konzert der Songwriterin Torres (Berliner Zeitung) und das Münchner Konzert der Indiepop-Black-Metal-Band Liturgy (SZ).
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Architektur

Die FAZ hat Michael Mönnigers Besprechung der Berliner Ausstellung "Radikal Modern" online nachgereicht.
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Literatur

Zwei Jahre lang zählte Jürgen Busche zum Stammbesetzung des "Literarischen Quartetts", dann wurde sein Platz mit wechselnden Gästen besetzt. Im Freitag macht er sich nun Gedanken über die Wiederaufnahme des Formats. Dass die Sendung wieder ihren herrlich polternden Charakter haben würde, daran hat er angesichts der neuen Diskussionsrunde zwar seine Zweifel: Es "wird eine Gesprächsrunde von Lesern für Leser sein. Das ist nicht schlecht. Die Frage ist aber, ob es gut genug ist. Ob es wieder einen kraftvollen, charismatischen, in jedem Augenblick die Szene beherrschenden Zampano wie Reich-Ranicki geben kann. Der war ja deshalb so erfolgreich, weil die Zuschauer ihn erleben wollten."

Jürg Altwegg (FAZ) gratuliert dem Schriftsteller Régis Jauffret zum 60. Geburtstag. Wolfram Schütte (CulturMag) gratuliert Gerhard Zwerenz zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden Maylis de Kerangals "Die Lebenden reparieren" (CulturMag), Nicolas Mahlers Gedichtband "Dachbodenfunde" (ZeitOnline), Christopher Longés Comic "Love Song" (Tagespiegel), Henrik Tikkanens "Brändövägen 8"(FR), Yury und Sonya Winterbergs Biografie über Käthe Kollwitz (FAZ) sowie Uwe Timms Essayband "Montaignes Turm" (SZ).
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Bühne

Nach Lydia Steiers Inszenierung von Händels "Giulio Cesare" an der Komischen Oper in Berlin hat FAZ-Kritikerin Eleonore Büning bis auf weiteres auch erst einmal genug von postmoderner Beliebigkeit und Kriterienlosigkeit: "Himmel, was war das für ein Geknödel, Gegurgel, Gegurke", stöhnt sie auf und wäre am liebsten schon in der Pause geflohen vor "der Fülle falscher Töne, von der Wucht gut gemeinten Herumwurstelns." Doch schuld an der Misere sei nicht etwa das Ensemble, "der Dirigent des Abends trägt diese Last, Konrad Junghänel, der all diese seltsamen Nachtigallen schon vorher hatte trapsen hören, nichts unternahm, sie aufzuhalten - nur die Tempi durchweg verlangsamte, was Schlimmeres verhüten half, aber das Elend zugleich verlängerte."

Weitere Artikel: Barbara Petsch (Presse) und Helmut Ploebst (Standard) sahen bei den Wiener Festwochen zeitgenössische Kunst aus Südafrika: Lara Foots Theaterstück "Fishers of Hope" und Brent Meistres "Analogue Eye Theatre", eine Installation mit Kurzfilmen aus Südafrika, Nigeria, Zimbabwe oder Mozambique (Bild links). Bei den Tonys wird morgen nur ein einziges wirklich neues Werk ausgezeichnet, meldet Manuel Brug in der Welt. Irene Bazinger schreibt in der Berliner Zeitung den Nachruf auf die Schauspielerin Edith Hancke.

Besprochen werden eine konzertante Aufführung von Bohuslav Martinus "Ariane" (Tagesspiegel), eine "Tosca" in Cottbus (Tagesspiegel), Philipp Krenns Inszenierung der Kurzopern "Die Brüste des Tirésias" von Francis Poulenc und "Spanische Stunde" von Maurice Ravel in Wien (Presse), das in London aufgeführte, von Wayne McGregor choreografierte Virginia-Woolf-Tryptichon "Woolf Works" (FAZ), Frank Hoffmanns bei den Festspielen in Recklinghausen aufgeführte Inszenierung von Ionescos "Nashörner" (FAZ) und Leonardo Vincis in Wiesbaden aufgeführte Oper "Catone in Utica" in der Inszenierung von Jakob Peters-Messer (SZ).
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Film


Große Ernsthafigkeit, auch beim Albern: Olli Dittrich als Schorsch Aigner. Bild: Beba Lindhorst.


Ganz große Improvisationskunst ist das, wenn Olli Dittrich in der Doku-Satire "Schorsch" Aigner" zum Beckenbauer-Darsteller wird, jubelt Stefan Niggemeier in einem online nachgereichten Text aus der FAS: "Dittrich spielt seine Figuren nicht, er verwandelt sich in sie." Eine weitere Besprechung bringt die FR, hier findet man den Film in der Mediathek.

Außerdem: Karl Smith (The Quietus) plaudert mit Film/Literatur/Schamanismus-Multitalent Alejandro Jodorowsky. Und alles geht den Bach herunter, sogar die Filmmusik, grämt sich Ennio Morricone im Guardian. Besprochen werden die zwölfteilige Miniserie "Sense8" der Wachowskis (Presse), Frederik Steiners Film über Sterbehilfe "Und morgen Mittag bin ich tot" (NZZ) und Paul Feigs Komödie "Spy - Susan Cooper Undercover" (Welt).
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