Efeu - Die Kulturrundschau

Sich wehzutun, ist eine Kunst

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03.06.2015. Auch Putin-Gegner können ganz schön verwirren, lernt die nachtkritik bei einer Diskussion mit russischen Theatermachern. Der Tagesspiegel fordert bessere Folterszenen in Händels "Giulio Cesare in Egitto". Der Standard berichtet über eine Filmschau zur syrischen Moderne. Die Spex feiert Felix Laband als Anti-Isolde-Ohlbaum des Pop. Dem Zeit-Feuilleton soll man heute mit einer Schere zu Leibe rücken.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.06.2015 finden Sie hier

Bühne


Dominik Köninger als Giulio Cesare. Foto: Gunnar Geller

In Lydia Steiners Inszenierung von Händels "Giulio Cesare in Egitto" an der Komischen Oper Berlin wird einem kräftig was geboten, erfahren wir von einem dann doch unterwältigten Ulrich Amling (Tagesspiegel): Hier "blüht die Perversion. Aber auch sich wehzutun, ist eine Kunst. Und man muss feststellen: An der Komischen Oper wurde schon auf höherem Niveau gefoltert. Wenn dann noch das abgeschlagene Haupt des Pompeo in einer Art Sektkübel vor sich hin glimmt, raucht dem Zuschauer der Kopf: Was um Himmels willen mag hinter dem manischen Bohren in toten Körpern stecken? Wozu muss (...) Tolemeo unbedingt zu Takten des "Messiah" aus dem Leben geschnitten werden?"

Eine Berliner Diskussion mit den Machern des von Zensur bedrohten russischen Teatr.doc ließ Simone Kaempf von der nachtkritik ratlos und verwirrt zurück: "Am Interessantesten die Dramatikerin Sascha Denissowa, die Klartext sprach, dass sich die russische Politik mittlerweile ständig von irgendwas gestört fühlt und wie schwierig es sich für junge Künstler gestaltet, ihre Ideen frei umzusetzen. Und dazwischen erinnerte Elena Gremina, Leiterin des Teatr.doc und Grande Dame der russischen Theaterszene, dass die Kritik an Putin längst vereinnahmt ist. Längst verwandelt in einen Teil des Putin-Kults, der seine Position stärkt statt schwächt - kein rundes, sondern ein ziemlich zersplittertes, inhomogenes Bild, das die Diskussionsrunde über die Moskauer Theaterszene hinterlässt."

Besprochen werden ein Doppelabend mit Leoš Janáčeks "Tagebuch eines Verschollenen" und Gustav Holsts Kammeroper "Sãvitri" der Oper Köln im Exil des Kolumba-Museums (FAZ, Die Deutsche Bühne), Jette Steckels "Antigone"-Inszenierung am Wiener Burgtheater (Nachtkritik), Yannis Houvardas" Mozart-Inszenierung "Cosi fan tutte" in Stuttgart (FAZ) und John Strands derzeit in Washington aufgeführtes Stück "The Originalist" über den Supreme-Court-Richter Antonin Scalia (FAZ, New York Times).
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Film

Michael Pekler sah für den Standard Omar Amiralays 1974 entstandene Filmdokumentation "Alltag in einem syrischen Dorf", die im Rahmen der Filmschau "Eine Syrische Moderne" im Filmmuseum Wien lief. "Alltag in einem syrischen Dorf" wurde unmittelbar nach Erscheinen vom Zensor des Baath-Regimes verboten: "Die Bilder einer verzweifelten Landbevölkerung, von Partei und Staat hintergangen und im Stich gelassen, passte so gar nicht zur offiziell propagierten Vision des sozialistischen Zukunftsstaats von Hafiz al-Assad. Amiralay zeigte die Auswirkungen der vom Diktator verordneten Agrarreform: Armut, Enteignung, Krankheiten und Konflikte. Der Krieg gegen den Erzfeind jenseits der Golanhöhen interessierte hier niemanden."

Weitere Artikel: Das Berliner Kino Arsenal bietet in den kommenden Woche eine Retrospektive Claude Sautet, freut sich Silvia Hallensleben in der taz. Das Münchner Kinopublikum darf sich unterdessen auf eine Werkschau mit Filmen von Hou Hsiao-hsien freuen: "Retrospektiv fügen die Filme sich zu einem komplexen Gewebe, einem Gobelin, auf dem man gern den Überblick verliert, sich hinreißen lässt vom Detail", schreibt Fritz Göttler in der SZ. Für den Tagesspiegel hat sich Gunda Bartels mit der Regisseurin Bettina Blümner getroffen, die mit "Parcours d"amour" einen Dokumentarfilm über Tanzabende für Senioren gedreht hat (mehr dazu hier).

Besprochen werden Daniel Espinosas Verfilmung von Tom Rob Smiths Bestseller "Kind 44" mit Tom Hardy (Kino-Zeit, SZ), die Agentinnenkomödie "Spy: Susan Cooper Undercover" mit Melissa McCarthy (Filmlöwin, Kino-Zeit, critic.de) und George Incis Komödie "Hirschen - Da machst" was mit" (Kino-Zeit, SZ).

Außerdem zwei Videos: Das Deutsche Filmmuseum hat die Aufzeichnung der Frankfurter Diskussionsveranstaltung "Orte des Kinos: Filmkunst und Filmerbe im Kino, im Netz oder im Museum?" online gestellt:



Und für das Blog der Berliner Festspiele hat Perlentaucher-Kritiker Jochen Werner den kleinen Interviewfilm "Begegnungen mit Rainer Werner Fassbinder" gedreht, in dem sich Juliane Lorenz von der Fasbinder Foundation und der Regisseur Christian Braad Thomsen an ihre Zeit mit dem deutschen Filmemacher erinnern:

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Architektur

Oliver Elser (FAZ) besucht den neuen Bau des Bundesinnenministeriums: Handelt es sich dabei um "eine architektonische Machtgeste? Seine Jurakalk-Fassade rattert unerbittlich dahin, das schon. Aber es gibt kein hohles Pathos, dafür Klarheit und feingearbeitete Details."

Laura Weißmüller (SZ) besucht die Ausstellung "das prinzip coop" über Hannes Meyer im Bauhaus Dessau.

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Literatur

Mit fast zwei Millionen Euro finanziert der Bund ein Projekt zur Comicforschung in Potsdam. Was bei Fans zunächst für Freude sorgte, habe in Wahrheit einen bitteren Beigeschmack, meint Thomas Hummitzsch im Tagesspiegel: Nicht nur hält er das Forschungsziel für wenig zielführend - analysiert werden sollen die Augenbewegungen bei der Lektüre -, auch der Fokus auf gediegenere "Graphic Novels" bringe keine Aufwertung für die Form als solche mit sich: "Es verhält sich mit diesem Begriff ein wenig wie mit den wassertragenden Besen in Goethes "Zauberlehrling". Die Geister, die mit hoffnungsvoller Absicht gerufen wurden, wird die Szene nun nicht mehr los. Denn auf dem großen Rest der grafischen Literatur abseits der "Graphic Novel" lastet mehr denn je das Vorurteil, dass es sich um "Kinderkram", "Splatterliteratur" oder einfach nur um "Schund" handelt."

In "Tagtigall", der Lyrikkolumne des Perlentauchers, macht sich Marie Luise Knott von Jan Wagner und Nora Bossong angeregte Gedanken darüber über das Verhältnis zwischen Lyrik und ihrer Zugänglichkeit: Soll sie sich ins Zentrum wagen? Oder doch lieber am Rand ihren Status als hermetischer Eremit pflegen? Doch "Zentrum oder Rand, was besagt das schon. Hauptsache es gibt das Kleine und das Große Ungewisse."

In der SZ gratuliert Franziska Augstein dem Schriftsteller Gerhard Zwerenz zum 90. Geburtstag. Besprochen werden neue Krimis von Xavier-Marie Bonnot und Davide Longo (Perlentaucher), eine von Jeff und Ann VanderMeer herausgegebene Anthologie mit feministischen Science-Fiction-Storys (Tor), Volker Hages 68er-Roman "Die freie Liebe" (Freitag), Greg Iles" Thriller "Natchez Burning" (taz), Lukas Bärfuss" Essays "Stil und Moral" (FAZ) sowie Dominique Manottis Krimi "Abpfiff" und Merle Krögers "Havarie" (FR).
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Kunst

Pipilotti Rist darf ihre kommende Ausstellung in Hannover mit einem 11-seitigen Starschnitt ihrer Person im Zeit-Feuilleton bewerben. Nur ein paar Werbeflächen hat sie übrig gelassen und mit dieser Geste "die Kostbarkeit und Objekthaftigkeit" der Zeitung betont, verkünden Katja Nicodemus und Christof Siemes im einzigen Text des Feuilletons. Christos und Jeanne-Claudes Sammlung "Wrapped Reichstag" kommt nach Berlin, meldet Nicola Kuhn im Tagesspiegel.

Besprochen werden Nicolai Howalts Ausstellung "Light Break" im Braunschweiger Museum für Photographie (taz), die Ausstellung "Hamster Hipster Handy" im Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt am Main (NZZ), eine Annemirl Bauer gewidmete Doppelausstellung in Cottbus und Berlin (Tagesspiegel) und Eve Arnolds Fotoband "Magnum Legacy" (SZ).
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Musik

Voller Entzücken berichtet Thomas Hübener (Spex) von seinem Hörerlebnis bei Felix Labands "Deaf Safari", das im Rückgriff auf diverse Partikel der afrikanischen Soundkultur "die ganz große hauntologische Fourth-World-Rakete" abfeuere. "Vor popistischer Simplizität und Hooklines, die sich verbildete musikalische Virtuosen aus Furcht um ihren Ruf gewiss versagen würden, schreckt Laband nicht zurück. Angst vor Affirmation ist ihm fremd. Damit hebt er sich wohltuend vom gerade im Dark-Ambient-Techno-Genre grassierenden kitschromantischen Brauch ab, durch ein wenig blubberndes Gedräue Antinaivität, brüchigen Weltbezug und Tiefsinn zu simulieren - was so wenig überzeugend ist wie ein Isolde-Ohlbaum-Autorenfoto darin, Augenblicke schriftstellerischer Vergeistigtheit einzufangen. Laband dagegen erträgt Schönheit auch als ungebrochene." Hier kann man sich das Album anhören:



Außerdem: John Freeman (The Quietus) spricht mit Beth Jeans Hughton, die sich gerade als Du Blonde neu erfindet. In der Berliner Zeitung schildert Steven Geyer Xavier Naidoos Werdegang vom Popliebling zum Verschwörungstheoretiker.

Besprochen werden Holly Herndons "Platform" (The Quietus), Jon Brooks" "Walberswick" (The Quietus), das neue Album von Franz Ferdinand und den Sparks (Standard) und Thomas Brinkmanns "What You Hear (Is What You Hear)" (The Quietus).
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