Efeu - Die Kulturrundschau

Ich lebe noch

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28.05.2015. Die taz erkundet mit Rüdiger Suchslands neuem Film das deutsche Kino von Caligari zu Hitler. Der Tagesspiegel hört anstrengungslose diskursive Popmusik von Jamie XX. Die NZZ lernt aus Astrid Lindgrens Kriegstagebüchern, dass sie lieber "Heil Hitler" rufen, als von den Russen besetzt würde. Und Nora Bossong skizziert in der Zeit den Schock, den Jan Wagners Lyrikbestseller "Regentonnenvariationen" bei den Kollegen ausgelöst hat. Und: Volker Weidermann belebt das Literarische Quartett neu.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.05.2015 finden Sie hier

Film


Links: Institut für Sozialforschung, Frankfurt a.M. Fotograf: unbekannt. Copyright: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a.M. Rechts: Siegfried Kracauer. Fotograf: unbekannt. Copyright: Deutsches Literaturarchiv Marbach

Mit dem Dokumentarfilm "Von Caligari zu Hitler - Das deutsche Kino im Zeitalter der Massen" erkundet der Filmkritiker Rüdiger Suchsland mit dem Filmtheoretiker Siegfried Kracauer im Gepäck die Weimarer Republik im Spiegel ihres Kinos. Schon wegen der Fülle an historischem Material handelt es sich dabei um "eine faszinierende Dokumentation", meint Andreas Busche in der taz. Hundertprozentig überzeugt ist er allerdings nicht: Der Film "ist zu sehr Kracauers Thesen verhaftet, setzt dessen Methode dafür aber nicht konsequent um. Doch das eigentliche Problem scheint zu sein, dass die Filmforschung heute viel weiter ist, als Suchsland in seinem Umgang mit dem historischen Material zugesteht." Auf kino-zeit.de schreibt Harald Mühlbeyer über den Film.

Weitere Artikel: Mit Roger Fritz" 1969 entstandenem und danach gründlich in Vergessenheit geratenem Film "Mädchen mit Gewalt" hat das DVD-Label Edition Deutsche Vita "einen faszinierenden Querschläger der deutschen Filmgeschichte" ausgegraben, staunt Ekkehard Knörer in der taz. Dominik Kamalzadeh berichtet im Freitag von seinen Entdeckungen in Cannes (mehr zum Festival hier). In ihrer Bilanz der Filmfestspiele von Cannes attestiert Katja Nicodemus in der Zeit dem 68. Jahrgang "überraschendes Mittelmaß". Für die SZ spricht Matthias Grundmann mit Lars Eidinger über dessen Rolle in Stina Werenfels" Film "Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern". Ursula Scheer schreibt in der FAZ, Matthias Heine in der Welt zum Tod der Schauspielerin Elisabeth Wiedemann.

Besprochen werden Brad Peytons Katastrophenfilm "San Andreas" (Perlentaucher), George Ovashvilis "Die Maisinsel" (Perlentaucher, critic.de, Filmgazette), Ingo Haebs Voyeurfilm "Das Zimmermädchen Lynn" (Filmgazette, Filmlöwin, Welt), Ryan Goslings Regiedebüt "Lost River" (taz, critic.de, kino-zeit, Welt), Isabel Coixets Culture-Clash-Tragikomödie "Learning to Drive" (NZZ) und Simon Curtis" Film "Woman in Gold" (NZZ).
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Literatur

Aldo Keel liest für die NZZ die jetzt in Schweden herausgegebenen Kriegstagebücher der Astrid Lindgren. Die zu Kriegsbeginn 32-Jährige war damals noch keine Schriftstellerin, sondern gut situierte Ehefrau, Mutter zweier Kinder und Briefzensorin des Nachrichtendienstes. Ihre Tagebücher enthalten zum Teil auch illegale Abschriften und Exzerpte der zensierten Briefe, erzählt Keel: "Mit Hitlers Rhetorik war sie vertraut, und sie wunderte sich, "dass nicht alle Welt begreift, dass einer, der derartige Reden schwingt, ein psychisch defekter Mensch sein muss". Nach dem Überfall auf Finnland erscheinen ihr aber die Sowjets als eigentliche Bedrohung. Ein geschwächtes Deutschland würde nur eines bedeuten: ". . . dass die Russen über uns herfielen. Dann würde ich lieber den Rest meines Lebens "Heil Hitler" rufen" - für den Sachbuchautor Per Svensson eine zeittypische schwedische Reaktion."

Der enorme Erfolg von Jan Wagners Gedichtband "Regentonnenvariationen" hat die Lyrikwelt aufgeschreckt, berichtet die Schriftstellerin Nora Bossong in der Zeit. Viele Lyriker hatten sich behaglich in ihrer nichtkommerziellen Nische eingerichtet: "Was aber passiert, wenn plötzlich ein Gruppenmitglied aus der Rolle des Außenseiters herausfällt? Wenn ein Dichter um einen der vordersten Plätze der Spiegel-Bestsellerliste konkurriert? Wenn die Aussage "Lyrik verkauft sich nicht" revidiert werden muss zu der Einsicht: "Meine Lyrik verkauft sich nicht"?"

Das Literarische Quartett wird neu beatmet: Spiegel-Literaturkritiker Volker Weidermann soll es moderieren und zusammen mit Christine Westermann, Maxim Biller und einem wechselnden Gast über Neuerscheinungen diskutieren, meldet turi2. Im Gespräch mit Iris Radisch (Zeit) enttäuscht Weidermann die Erwartung, er werde darin als Wiedergänger Marcel Reich-Ranickis auftreten: "Ich heiße anders, ich sehe anders aus, ich war nicht im Warschauer Getto, ich habe eine andere Stimme, ich bin ein paar Jahre später auf die Welt gekommen, und ich lebe noch."

Weitere Artikel: Zum 150. Geburtstag von William Butler Yeats sucht Elsemarie Maletzke für den Reiseteil der Zeit die Lebensstationen des irischen Dichters auf.

Besprochen werden Kojo Laings "Die Sonnensucher" (Freitag), Uwe Kolbes Gedichtband "Gegenreden" (FR), Annemarie Webers neuaufgelegter Roman "Roter Winter" aus dem Jahr 1969 (SZ, mehr) und diverse Bücher über Erotik und Literatur (FAZ).
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Kunst

Für die taz hat Ingo Arend die Biennale im kurdischen Städtchen Mardin besucht, die weniger auf große Namen setzt als auf "Poesie und Ästhetik". Dieser Schwerpunkt mache "Mardin zu einer sehenswerten Alternative zu den Biennalen, die mittlerweile im Mainstream einer vorhersehbaren Politkunst ersticken". (Bild: Mardin-Musuem)

Weitere Artikel: In der taz erzählt Simone Schmollack, wie sie zufällig Ai Weiwei traf, der womöglich in Bälde seine erste chinesische Ausstellung seit 22 Jahren eröffnen wird. Tilman Spreckelsen besucht für die FAZ das neue Europäische Hansemuseum in Lübeck, das es "offensichtlich nicht darauf anlegt, uns auf unlautere Weise zu überwältigen". Auch Till Briegleb atmet in der SZ auf: Bei dem neuen Museum handelt es sich glücklicherweise um "keinen Erlebnispark für Mittelalter-Fans." Stephen Speicher hat unterdessen für die SZ den neuen Räumlichkeiten des Münzkabinetts in Dresden besucht, dem die Präsentation seiner Ausstellungsstücke "bemerkenswert gut gelungen" sei. Freddy Langer (FAZ) und Catrin Lorch (SZ) schreiben zum Tod der Fotografin Mary Ellen Mark, die ZeitOnline mit einer Strecke würdigt.

Besprochen werden die Retrospektive Emile Bernard in der Kunsthalle Bremen (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Alltag Einheit" des Deutschen Historischen Museums in Berlin (FAZ)
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Architektur

Nicola Kuhn vom Tagesspiegel besucht in der nach Sanierung wiedereröffneten Berlinischen Galerie eine Ausstellung über die Berliner Architektur der Sechziger Jahre. Thomas Mauch weist in der taz auf ein Kolloquium über Nazi-Architektur hin, das kommendes Wochenende in Berlin stattfindet. Besprochen wird der Katalog "African Modernism" zur Ausstellung "Architektur der Unabhängigkeit" im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein (Freitag).

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Bühne


"Edward II. - Die Liebe bin ich"

Die Wiener Uraufführung von Ewald Palmetshofers Drama "Edward II. - Die Liebe bin ich" in der Inszenierung von Nora Schlocker weckte keinerlei Liebe bei den Rezensenten. "Ein Königsdrama aus dem Abo-Bastelheft", stöhnt Ronald Pohl im Standard. Norbert Mayer von der Presse findet immerhin den Anfang toll, "mit überraschenden Bildern, atemberaubend eigener Sprache. Aber mit der Zeit gerät die Aufführung in eine ermüdende Endlosschleife". Und Gerhard Stadelmaier urteilt in der FAZ: "keine Vergegenwärtigung eines alten Skandals, sondern die Veralterung, also Kostümierung eines gegenwärtigen sauren Kitsches."

Außerdem: Lukas Hermsmeier annonciert in der Welt ein "beispielloses transmediales Experiment", Angela Richters Überwachungstheater "Supernerds" mit Musik von Malakoff Kowalski.

Besprochen werden außerdem Christoph Winklers im Ballhaus Ost in Berlin aufgeführte Choreografie "La Fille" (Berliner Zeitung), Glucks Oper "Iphigénie en Tauride" mit Cecilia Bartoli bei den Pfingstfestspielen in Salzburg (NZZ), Thomas Tcherniakovs Inszenierung von Alban Bergs "Lulu" an der Bayerischen Staatsoper (Zeit), eine von Rolando Villazón inszenierte "La Traviata" (FR) und die laut Eleonore Büning (FAZ) "zwischen niederer Bildungshuberei und höherem Blödsinn" changierende, von Calixto Bieito inszenierte Uraufführung von Héctor Parras Oper "Wilde" in Schwetzingen.
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Musik

Kamasi Washingtons "The Epic" (mehr) ist das eine gefeierte Album der Saison, "In Colour" von Jamie XX das andere - und zwar völlig zu recht, meint Andreas Hartmann im Tagesspiegel: "Das Erstaunliche an Washington wie an Jamie XX ist, dass beide sich mit Vergangenem beschäftigen, ohne dass sich gleich das Wörtchen "Retro" aufdrängt. ... Wie souverän Jamie XX (...) diskursive Popmusik produziert, die dennoch an keiner Stelle angestrengt wirkt, ist atemberaubend. Der 26-Jährige verzahnt sein musikalisches Material so spannungsreich wie derzeit kaum ein anderer." Die Spex hat das Album im Stream.

In der Zeit zeigt sich Christine Lemke-Matwey enttäuscht, dass mit Christoph Eschenbach erneut eine "Galionsfigur des Musik-Jetsets" mit dem Siemens Musikpreis ausgezeichnet wird: "Tourneen mit zwei verschiedenen Orchestern zur gleichen Zeit, transatlantische Einspringer über Nacht, Auftritte ohne Proben, alles kein Problem. Die Begabung, das Gedächtnis, die Inspiration werden es schon richten. Und richten es auch, irgendwie, tun dies aber keineswegs so bedeutsam oder spezifisch, dass man begriffe, warum ausgerechnet ihm am 31. Mai im Münchner Herkulessaal nun der Siemens Musikpreis verliehen wird."

Außerdem: Danny Riley (The Quietus) plaudert mit dem hedonistisch-experimentellen Disco-Party-Orchester Golden Teacher (hier einige Hörproben). Und Sand Avidar lässt auf The Quietus 35 Jahre Einstürzende Neubauten Revue passieren.

Besprochen werden das neue Album von Hot Chip (Freitag), Thomas Brinkmanns "What You Hear (Is What Your Hear)" (Pitchfork), Gabriel Ledoux" "Le vide parfait" (Skug), Philipp Kienbergers Luzid Chaos" Debüt "It"s All About Breaking the Wall" (Skug), das von Yannick Nézét-Séguin dirigierte Berliner Konzert des Philadelphia Orchestras (Tagesspiegel) und ein von Joshua Rifkin in Regensburg dirigiertes Monteverdi-Konzert ("ein Wunder", jubelt Reinhard Brembeck in der SZ).
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