Efeu - Die Kulturrundschau

Kritik am Luxus im Gewand des Luxus

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21.05.2015. Die taz attestiert dem deutschen Theater Philosemitismus und wünscht sich Rainer Werner Fassbinder zurück. Okwui Enwezor erläutert der FR sein leicht perverses Kurationskonzept für die Kunstbiennale Venedig. Lukas Bärfuss denkt in Solothurn über die unterschiedlichen Zielgruppen von Politik und Literatur nach. Und die SZ vergisst aus Ergriffenheit über Achim Freyers Wiener Inszenierung von Salvatore Sciarrinos Oper "Luci mie traditrici" ihre Position im Universum.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.05.2015 finden Sie hier

Kunst

"Wenn es eine Aussage meiner Biennale gibt, die sich in einem Satz zusammenfassen lässt, dann die, dass ich das Apolitisch-Dekorative um jeden Preis vermeiden wollte", erklärt der Chefkurator Okwui Enwezor sein Konzept für die Kunstbiennale von Venedig im Gespräch mit Max Dax in der FR: "Ich bin angetreten, um den Besucher zu erschöpfen. Das hat etwas leicht Perverses. Zu viele einmalige Performances finden zu oft zur gleichen Zeit statt - und das permanent bis zum 29. November. Der fragmentierte Blick, die Unmöglichkeit, es alles zu erfassen, bedeutet, dass wir unserer Intuition folgen müssen. Vergessen wir nicht: Wir leben in einer Welt, und dazu zähle ich die Kunstwelt als ihr Abbild, in der wir die uns zumutbare Erkenntnis stets hübsch und konsumierbar verpackt vorgesetzt bekommen. Der Begriff des "Kuratierens" verkommt in diesem Kontext zu einem Handlanger."

In Venedig gibt es unter anderem auch einiges an moralischer Betroffenheitskunst zu sehen, berichtet Thomas Steinfeld in der SZ, der am ehrenvollen Ansinnen derselben zwar keinen Zweifel hat, ihr aber dennoch einen blinden Fleck attestiert: "So arbeitet eine Kunst, die mit erhobenem Zeigefinger auf Dinge weist, an deren schrecklicher Bedeutsamkeit sie partizipieren will, ihrer eigenen Geltung wegen und ohne dass es sie etwas kostete. Und so entsteht der Widerspruch einer Kunst der moralischen Geste, die ein allseits beklagtes Übel der Welt spektakulär noch einmal anklagt, ohne zu reflektieren, dass sie diesem Übel ihre großen Auftritte verdankt." Für die FR besichtigt Daniel Kortschak den Biennale-Beitrag Neuseelands.

Besprochen werden außerdem die Ausstellung "1945 - Niederlage, Befreiung, Neuanfang" im Deutschen Historischen Museum in Berlin (Freitag), die Ausstellung "ImEx-Kunstwende" in der Alten Nationalgalerie in Berlin (Berliner Zeitung), ein Bildband über die Geschichte der Speakers" Corner in London (Freitag), eine Ausstellung über Karl Wilhelm II. und dessen Gründung Karlsruhes im Badischen Landesmuseum (SZ) und die Ausstellung "GegenKunst" in der Pinakothek der Moderne in München (FAZ).
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Literatur

Mit den unterschiedlichen Zielgruppen von Politik und Literatur befasst sich der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss in dem Referat, mit dem er seine Diskussion mit dem Bundesrat Alain Berset zum Abschluss der Solothurner Literaturtage einleitete und das die NZZ dokumentiert: "Wir diskutieren heute in diesem alten Landhaus, das Menschen erbaut haben, von denen die letzte Erinnerung längst verblasst ist. Niemand unter uns war beim Bau dieses Hauses geboren - und hier entzündet sich die Leidenschaft des Dichters. Er versucht, mit den Toten ins Gespräch zu kommen, um ihre Geschichten zu hören und sie den Lebenden zu erzählen. Für den Politiker sind die Toten die meiste Zeit uninteressant. Sie haben schliesslich kein Stimmrecht... Manchmal aber ergreifen die Toten ungebeten das Wort, und hier beginnen für die Politik die Probleme. Sie wird deshalb immer versuchen, die Toten im Schweigen zu halten. Der Politiker weiß: Ihnen fehlt vielleicht die Präsenz und das Stimmrecht, aber gewiss nicht die Stimme."

In einer großen Würdigung Dantes, der vor 750 Jahren geboren wurde, begeistert sich der Schriftsteller Friedrich Christian Delius in der FAZ für den "frechsten Dichter aller Zeiten". Marie Luise Knott stellt im Tagesspiegel Ulf Stolterfohts Kleinverlag Brüterich Press vor, der sich nach Selbstauskunft auf "schwierige Lyrik zu einem sehr hohen Preis" spezialisiert hat. Gregor Dotzauer (Tagesspiegel) gratuliert dem Schriftsteller László Krasznahorkai zur Auszeichnung mit dem Man Booker International Prize 2015. Die Zeit druckt eine Rede, die Giovanni di Lorenzo auf der Turiner Buchmesse gehalten hat. Außerdem bringt die FAZ den letztes Text ihres am Dienstag gestorbenen Architekturkritikers Dieter Bartetzko: Es handelt sich um eine Rezension von Ulfrid Kleinerts Buch über die Königin von Saba.

Besprochen werden Barbara Köhlers Foto- und Gedichteband "Istanbul, zusehends" (SZ), Carolin Callies Gedichtband "fünf sinne & nur ein besteckkasten" (NZZ), Jon Bauers Debütroman "Steine im Bauch" (NZZ) und László Krasznahorkais Erzählungsband "Die Welt voran" (FAZ).
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Bühne

Dmitrij Belkin (taz) bekundet zwar, kein Interesse daran zu haben, Fassbinders latenten Antisemitismus, wie er sich etwa in dessen umstrittenen Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" von 1974 niederschlug, zu verteidigen. Aber im Vergleich zum heutigen Philosemitismus auf dem Theater und im Fernsehen fehlt ihm einer wie Fassbinder dann doch. Dieser habe "auf dramatische Ambivalenzen des deutsch-jüdischen Verhältnisses nach dem Holocaust hingewiesen... Im heutigen Deutschland wird den Juden fast ausschließlich die Opferrolle zugeschrieben. Künstlerisch betrachtet gibt es die Rolle des Juden als vollwertige Schauspielrolle, mit allem, was zu den menschlichen Komödien und Tragödien dazugehört, nicht. Sie sind ausgeschlossen. Im medialen philosemitischen Brei tauchen sie bestenfalls auf als diffuse Schatten, als gefürchtete Statisten."


Salvatore Sciarrinos "Luci mie traditrici" in der Inszenierung von Achim Freyer bei den Wiener Festwochen. (Foto: Monika Rittershaus)

Überaus ergriffen berichtet Helmut Mauró in der SZ von Achim Freyers Wiener Inszenierung von Salvatore Sciarrinos Oper "Luci mie traditrici": "Immer wieder hat man den Eindruck, der Komponist greife einem tief ins Unbewusste. Mit Musik im herkömmlichen Sinn hat das nichts mehr zu tun, Sciarrinos Klangkunst ist davon so weit entfernt wie die Erde von der Milchstraße, und doch berührt sie das innerste Wesen von Musik. Sciarrino schafft einen akustischen Reiz, der unmittelbar ins Fühlen und Denken vordringt." Da positioniert man die Erde auch schon mal außerhalb der Milchstraße.

Besprochen werden ein von Anselm Weber inszenierter "Besuch der alten Dame" am Theater Bochum ("Was für eine langweilige, gedankenarme Aufführung", stöhnt Martin Krumbholz in der SZ), Christoph Marthalers Liederabend "Isoldes Abendbrot" am Theater Basel (NZZ), Thomas Ostermeiers Uraufführungsinszenierung von Yasmina Rezas "Bella Figura" an der Berliner Schaubühne (Zeit) und Eric de Vroedts Bochumer Inszenierung von Judith Herzbergs "Leas Hochzeit" ("als würden sich Botho Strauß und George Tabori zum Federball treffen", schreibt Andreas Rossmann in der FAZ).
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Musik

Mit schwärmerischer Lust lässt sich Thomas Groß (Zeit) durchs "Halbseidenuniversum" des Austropop-Nachwuchses in Wien treiben. Ein Modell für die Berliner Philharmoniker? Im Tagesspiegel stellt Corina Kolbe das Orchester Spira Mirabilis vor, das in Selbstorganisation und Eigenverantwortung auf einen Dirigenten verzichtet. Beim dreitägigen Festivalkongress "upgrade" in Donaueschingen wurde diskutiert, wie sich neue Musik besser vermitteln ließe, berichtet Tobias Gerber in der NZZ. In der Zeit nimmt Ulrich Stock Abschied von B. B. King. Für The Quietus unterhält sich Sand Avidar mit der Musikerin Danielle de Picciotto, die ihr Leben in der Berliner Undergroundszene für ein Nomadenleben eingetauscht hat. Hier ihr aktuelles Video:



Besprochen werden das experimentelle Black-Metal-Album "The Ark Work" von Liturgy ("permanente Anstrengung, Zumutung, Überwältigung", frohlockt Jens Uthoff in der taz beglückt), neue Alben von Róisín Murphy (The Quietus) und Paradise Lost (The Quietus) sowie ein Konzert von Ian Anderson (FR).
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Film



Endspurt in Cannes. Bislang berichten die Kritiker von einem eher durchwachsenen Jahrgang. Auch Paolo Sorrentinos neuer Film "Youth", der mit Michael Caine und Harvey Keitel gleich zwei gediegene alte Herren der Schauspielkunst vorweisen kann (in die sich Wenke Husmann von ZeitOnline denn auch fast verliebt), lässt die meisten enttäuscht zurück. Für Joachim Kurz (kino-zeit.de) markiert dieser Film "einen Stillstand oder gar einen Rückschritt im Schaffen" des Regisseurs. Der Film wirke "auf Dauer recht eitel und selbstverliebt, als pures l"art pour l"art, als erstarrter Ästhetizismus, der in jeder Szene die eigene Genialität unter Beweis stellen will." Auch Daniel Kothenschulte (FR) hat, wie auch ein Großteil der internationalen Kritik (hier im Überblick), allenfalls laue Freude an dem Spektakel: Ihm mangelt es, wie stets bei Sorrentino, an der Subversion. "Er ist ein Populist in seiner Kritik am Luxus im Gewand des Luxus, wozu für ihn auch moderne Kunst gehört." Wesentlich mehr Freude hatte Kothenschulte dafür am "sensationellen" neuen Pixarfilm "Inside Out", von dem sich auch Joachim Kurz (kino-zeit.de) "emotional berührt" zeigt.


Kleine Geschichte, aber toller Moment: Szene aus Jia Zhang-Kes "Mountains May Depart."

Außerdem lief Jia Zhang-Kes neuer Film "Mountains May Depart", der die Filmkritik sehr für sich einnahm. Was für eine "furiose" Rückkehr ins Kino für den von der chinesischen Obrigkeit gegängelten Regisseur, freut sich etwa Joachim Kurz auf kino-zeit.de: Und was "für ein großartiger, humanistischer und emotionaler Film, der in seinen kleinen Geschichten mehr von China zu vermitteln weiß, als viele andere Filme." Große Begeisterung auch auf critic.de, wo Michael Kienzl den Film für "eine Symphonie" hält: Dieser sei "weniger an geschlossenen Erzählsträngen interessiert als am virtuosen Spiel mit Motiven, ihrer Wiederholung und Variation." Jan Schulz-Ojala (Tagesspiegel) findet den kapitalismuskritischen Gestus des Films sehr imponierend. Cristina Nord (taz) bezeugt neben "jeder Menge toller Momente" noch einen charmant irritierenden Vorführfehler, bei dem ein Standbild und ein Schwenk einander durchkreuzten: "Interessant jedenfalls, dass ein DCP - also das Speichermedium für den Film - und der digitale Projektor auf eine Weise kooperieren, die dem menschlichen Willen eine Nase dreht." Internationale Stimmen zum Film auf KeyFrame Daily.


Hübsche Nostalgie: Meisterregisseure unter sich.


Außerdem lief der Dokumentarfilm "Hitchcock/Truffaut" des Filmkritikers Kent Jones über die legendären Gespräche der beiden Meisterregisseure, die als Grundlage für den Filmbuchklassiker "Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?" dienten. Bei der Pressevorführung musste sich die anstürmende Presse beinahe schon stapeln, wie wir von David Steinitz in der SZ erfahren. Der Film biete allerdings "wenig Neues, dafür viel hübsche Nostalgie." Auf KeyFrame Daily sammelt David Hudson internationale Stimmen.

Weitere Besprechungen von der Croisette in den laufend aktualisierten Berichterstattungen von kino-zeit.de, critic.de, epdFilm, film-dienst, KeyFrame Daily und Negativ Film. Für ein schnelles Stimmungsbild ist dieser Kritikerspiegel von critic.de sehr brauchbar. Und Katrin Doerksen begleitet das Festival weiterhin mit der Fotokamera.

Außerdem: Fabian Tietke (Freitag) berichtet von der Formenvielfalt bei den Kurzfilmtagen in Oberhausen. Den Berliner Kinogängern empfiehlt Thomas Groh (taz) eine Vorführung von Dario Argentos exzessivem Horrorklassiker "Suspiria" im Brotfabrikkino am morgigen Freitag. In der Zeit schreibt René Aguigah zum Ende von Mad Men.

Und Neues aus dem regulären Kinobetrieb: Besprochen werden Mark Reeders "B-Movie: Lust und Sound in West-Berlin 1979-1989" (Perlentaucher, critic.de, ZeitOnline), Jean-Gabriel Périots "Une jeunesse allemande" (Perlentaucher, Freitag, taz), Alonso Ruizpalacios" "Güeros" (unsere Berlinale-Kritik), Brad Birds neuer Science-Fiction-Film "A World Beyond" mit George Clooney (NZZ, Welt, Tagesspiegel), Stina Werenfels" "Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern" (critic.de, Filmlöwin), Michael Winterbottoms "The Face of an Angel" (Berliner Zeitung, taz), "Hedi Schneider steckt fest" von Sonja Heiss (NZZ), der Dokumentarfilm "Parcours d"amour" von Bettina Blümner (NZZ) und Eran Riklis" "Mein Herz tanzt" (SZ).
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Architektur

Allen Schauwerten zum Trotz: "Protz ist nicht das Programm... Demut und Erfindung halten sich die Waage", meint Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel beim Durchschreiten des neuen, von Rem Koolhaas gestalteten Gebäudes der Fondazione Prada in Mailand. Christian Thomas (FR) und Swantje Karich (Welt) schreiben zum Tod des FAZ-Architekturkritikers Dieter Bartetzko. Für die FAZ begutachtet Rainer Schulze die Pläne für das Frankfurter Romantikmuseum - nicht ohne sich darüber zu grämen, nie erfahren zu können, was sein gerade verstorbener Kollege über diese wohl zu sagen gehabt hätte.
Archiv: Architektur