Efeu - Die Kulturrundschau

Die Masken unserer Hoffnung

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23.04.2015. Nun also doch: Chris Dercon kommt an die Volksbühne, meldet der Tagesspiegel und prophezeit: Der Berliner Theaterkampf beginnt jetzt erst richtig. Ebenfalls im Tagesspiegel macht der 73-jährige Jürgen Flimm das ganz große Fass auf und bescheinigt dem Neuen schon mal, doch nur alte, angejahrte Moderne unters Volk bringen zu wollen. Die taz immerhin freut sich auf Abwechslung. Die nachtkritik bewundert das Faust-Event von Wilson/Grönemeyer am BE. Vielleicht wird die deutsche Literatur besser, wenn sie nicht mehr subventioniert wird, überlegt der Freitag. Der Standard porträtiert den ukrainischen Filmregisseur Sergej Loznitsa.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.04.2015 finden Sie hier

Bühne

Am 30. April wird Tim Renner verkünden, was Rüdiger Schaper jetzt schon im Tagesspiegel ausplaudert: Demnach soll Tate-Kurator Chris Dercon als Castorf-Nachfolger kommen, der Etat der Berliner Volksbühne deutlich aufgestockt und das Haus mit dem höheren Betrag das Tempelhofer Feld bespielen. Die Volksbühne wäre somit "das erste Theater mit Abfertigungshalle und Naherholungsgebiet. Renner sucht das große Wagnis und scheint zu hoffen, dass sich Geschichte wiederholen lässt. Anfang der Neunziger, als Castorf die Volksbühne übernahm, war sie eine heruntergespielte Bude, hässlich, ohne Zukunft. Wie Tempelhof." Und er orakelt: "Der Berliner Theaterkampf ist nicht vorbei, er beginnt jetzt erst richtig."

Da will sich auch Jürgen Flimm, Intendant der Berliner Staatsoper, nicht lumpen lassen und bläst im Tagesspiegel-Gastbeitrag zum großen Bocksgesang. Ausgemachte Sache für ihn: Kommt Dercon (dessen Werdegang Christiane Meixner hier darstellt), geht die Volksbühne, Castorfs Erbe und womöglich gleich der ganze gute Ruf des Berliner Kulturlebens baden, dann herrsche der blanke Event der Performancekultur, vor dem es Flimm merklich ekelt: "Es bleiben also Ödnis und Langeweile in diesen Factories und komplexe Mischformationen und ihre Agenturbetriebe. Das tummelt sich, von EU-Förderrichtlinien knapp unterhalten, von Kulturpolitikern schlechten Gewissens schwach unterstützt, auf dem nämlichen Markt. Nichts Neues im Westen, doch viel alte, angejahrte Moderne."

Eva Behrendt von der taz ist da merklich gelassener: Die Berliner Ensembletheater in Berlin schanzen einander ohnehin schon seit Jahren die Regisseure zu, da können neu gemischte Karten im Sinn der Abwechslung erstmal nicht schaden. Und ein Intendant Dercon wäre "weniger wegen des Berufsbilds Kurator als wegen der Inspirationsquelle Kunst ein interessantes Zeichen. ... Gerade das diskuranstoßende Gorki Theater hat von Langhoffs Kontakten in postmigrantische Künstlerkreise zweifellos profitiert."


"Faust" am BE. Foto: Lucie Jansch

Schon 2003 haben sich Robert Wilson und Herbert Grönemeyer für eine Inszenierung von Büchners "Leonce und Lena" zusammengetan, jetzt bringen sie am Berliner Ensemble beide Teile von Goethes "Faust" auf die Bühne. Peter Kümmel hat eine Voraufführung gesehen und berichtet in der Zeit: "Stummfilmhorror haust in den Gesichtern. In ihnen darf sich das Publikum wiedererkennen, denn die starren Harmoniefratzen sind auch die Masken unserer Hoffnung, heil durchs Leben zu kommen. Dass daraus nichts wird, dass Erstarrung nur eine frühe Form des Todes ist, verrät Wilson in jedem Augenblick. Sein Theater ist ein zierliches Spieluhren- und Schneekugeltheater, durch welches ein Angstblitz schießt."

In der nachtkritik spöttelt Matthias Weigel: "Was für ein Event! Was Claus Peymann, Intendant des Berliner Ensembles, dem zukünftigen Volksbühnen-Leiter vorwirft, findet natürlich regelmäßig an seinem eigenen Hause statt. Und zwar sehr erfolgreich: Theater als Event, Theater als Show, Theater als Unterhaltung - und auch Theater als Musical. Robert Wilson und Herbert Grönemeyer haben aus Goethes Faust I und II ein nahezu durchkomponiertes Musical nach Disney-Bauart gemacht. Geometrischer Formalismus trifft sentimentalen Deutschrock - und zwei Goethe-Texte, die unterschiedlicher nicht sein könnten."

Weiteres: Jana Juvan berichtet im Freitag von einem Theaterabend mit Flüchtlingen im ehemaligen Berliner Stummfilmkino Delphi, nach dem sie sich "total leer" gefühlt hat. In der FR erzählt Enno Stahl, wie es gelang, das verloren geglaubte Stück "Oithono oder Die Tempelweihe" aus der Feder von Mathilde Franziska Anneke ausfindig zu machen.

Besprochen werden in Berlin aufgeführte Choreografien von Trisha Brown (Tagesspiegel), ein Tanzabend des Nederlands Dans Theaters (geradezu berauscht kommt Isabelle Jakob aus der Vorführung: "Besser geht"s nicht", schwärmt sie in der NZZ), und John von Düffels "Bakchen (Pussy Riot)" am Theater Ulm (SZ).
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Film


Szene aus "Polustanok" (The Train Stop, 2000) von Sergej Loznitsa

Im Standard stellt Dominik Kamalzadeh die Filme des ukrainischen Regisseurs Sergej Loznitsa ("Maidan", 2014) vor, dem das Crossing Europe Festival in Linz eine Retrospektive widmet: "Die Achtsamkeit für das, was Bilder an Wirkkraft mit sich bringen, wie für die rigide Komposition derselben kennzeichnet auch seine selbst gedrehten Arbeiten. Die 30-minütige Miniatur "Artel" (2006) führt zu Fischern ans Weiße Meer, wo Loznitsa die Anstrengung, eine offenbar ellenlange Eisdecke durchzubrechen, aus leicht distanzierter Position, dafür in voller Länge betrachtet. In "Polustanok" (The Train Stop, 2000) filmt er hingegen wartende Menschen in einem Bahnhof als schlafendes Volk, das von den Geräuschen der Station mysteriöserweise unbehelligt bleibt. Diesem Prinzip einer zurückgefahrenen Parteinahme bei gesuchter Nähe zu den Protagonisten bleiben auch Loznitsas Spielfilme verpflichtet."


Widersprüchlich, aber reizvoll: Christoph Waltz und Amy Adams in Tim Burtons "Big Eye".

Tim Burtons
neuer Film "Big Eyes" über die Lebensgeschichte der Künstlerin Margaret Keane, deren Ehemann ihre Bilder jahrelang als die eigenen ausgab, konnte Perlentaucher-Kritiker Rajko Burchardt trotz kleinerer Schwächen überzeugen: "Dass Margaret Keanes Bilder ohne die einfallsreichen Anstrengungen des bald auch gewalttätigen Walter womöglich nie eine Öffentlichkeit gefunden hätten, macht "Big Eyes" als Emanzipationsgeschichte natürlich einigermaßen untauglich. Tim Burton bekommt diesen Widerspruch auch nicht aufgelöst, vielmehr wird der Film durch ihn erst besonders reizvoll." Der Freitag bringt eine Übersetzung von Mark Kermodes Kritik aus dem Guardian: Burton sei "mit "Big Eyes" sein reifster Film seit "Big Fish" (2003) gelungen." Außerdem gibts Besprechungen im Standard und der NZZ.

Bei der Retrospektive des Festivals Visions du Réel in Nyon bot sich die Möglichkeit, die Filme des Regisseurs Vincent Dieutre kennenzulernen, freut sich Cristina Nord in der taz: "Eine gute Gelegenheit, zu verfolgen, wie der Pariser Filmemacher Entlegenes zusammenbringt, kombiniert und kontrastiert und dabei Bereiche fürs Kino erschließt, die normalerweise Buchautoren vorbehalten sind."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek staunt in der Welt über die Betreiber von 2000 deutschen Provinzkinos, die sich gerade mit dem Disneykonzern anlegen, der den Kinos schlechtere Verleihbedingungen aufzuzwingen sucht. Peter Nau legt den Berlinern in der taz den Besuch von Peter Pewas" Film "Straßenbekanntschaften" (1948 ) im Kino Arsenal wärmstens ans Herz: Der Film führe an die "Grenze zwischen Unter- und Halbwelt, wie sie für jene spezielle Kundschaft, die damals in den Bordellen anzutreffen war, kennzeichnend ist: gespenstische Existenzen, die von der allgemeinen Unordnung und vom Dunkel der Nacht profitieren." Sehr ausführlich schrieb vor einiger Zeit auch Herbert Spaich (SWR) zu Pewas" Filmen.

Besprochen werden Gerd Kroskes Dokumentarfilm "Striche Ziehen" (taz, Perlentaucher), ein neuer Dokumentarfilm über Helge Schneider ("lässig", schreibt Thomas Groh in der taz), Rosa von Praunheims "Härte" ("ein schöner, empfindsamer Film", schwärmt Katja Nicodemus in der Zeit, taz), Alex Garlands Science-Fiction-Film "Ex Machina" (Tagesspiegel, NZZ, Standard, Presse, Welt, siehe auch unsere gestrige Kulturrundschau), Robert Bramkamps Experimentalfilm "Art Girls" (Freitag), Keren Yedayas Inzest-Drama "That Lovely Girl" (SZ) und Joss Whedons neuer "Avengers"-Film (ZeitOnline, Standard, Welt).
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Musik

Die Nu-Metal-Band System of a Down engagiert sich dafür, dass die Türkei den Völkermord an den Armeniern eingesteht, berichtet Julian Trauthig in der FAZ. Moritz von Uslar geht für die Zeit mit Tocotronic-Frontmann Dirk von Lowtzow spazieren.

Besprochen werden das neue Album von Blur (Standard, Welt), das neue Calexico-Album (Pitchfork), Liturgys "Ark Work"-Album (The Quietus) und ein Konzert von Spandau Ballet (FR).
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Literatur

Über das kapitalismuskritische Berliner Symposium "Richtige Literatur im Falschen?" hörte man von den Kritikern bislang vor allem gelangweilte Verlautbarungen (siehe hier und hier). Im Freitag berichtet Katja Kullmann nun in aller Ausführlichkeit von der Konferenz, den Unsicherheiten und Abwägungen der teilnehmenden Literaten und den Diskussionen. Ihr Fazit: Eine kapitalismuskritische Literatur, bei der nicht nur Privilegierte Unterprivilegierte vorführen, sei wünschenswert, müsse aber populär geschrieben sein und einen deutlichen "Wirklichkeitsbezug" aufweisen, der sich mit bequemen Stipendien nicht erzielen lasse: "Literatur, die unter demselben Zeit- und Gelddruck entsteht, dem die meisten anderen Menschen unterliegen, läse sich womöglich heißer, schärfer, eindringlicher, gehetzter und angespannter, mithin viel gegenwärtiger als Werke, die aus der "Kulturproduktionsbürokratie" (Jörg Fauser) gefüttert sind. Vor allem wäre diese Literatur eines: näher dran am Stoff."

Außerdem: In Berlin wurden bei einer Lesung neue E-Books von und über Flüchtlinge vorgestellt, berichtet Sophie Sumburane im CulturMag. Im Logbuch Suhrkamp berichtet Andreas Maier Neues aus seinem "Jahr ohne Udo Jürgens".

Besprochen werden César Airas "Wie ich Nonne wurde" (Freitag), Safeta Obhodjas" "Die Bauchtänzerin" (CulturMag), Claude Simons "Der Fisch als Kathedrale" (CulturMag), Michel Buselmeiers "Ende des Vogelgesangs" (CulturMag), Philipp Felschs "Der lange Sommer der Theorie" (CulturMag), Édouard Louis' "Das Ende von Eddy" (Zeit), David Whitehouses "Die Reise mit der gestohlenen Bibliothek" (SZ), Jürgen Theobaldys "Rückvergütung" (FAZ) und eine arte-Doku über Kurt Tucholsky und die Zwanziger (FR, hier in der Mediathek).
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Kunst


Leonardo da Vinci, penna e inchiostro, forato per spolvero; Veneranda Biblioteca e Pinacoteca Ambrosiana

Dass die Mailänder Expo mit einer großen Schau Leonardo da Vincis eröffnet, beruht auf "einem gewaltigen Missverständnis", meint Hanno Rauterberg in der Zeit. Sicher, da Vinci war ein Tüftler und Forscher. "Immer aber ist da eine Verhaltenheit, ein Zaudern, in dem, was er zeichnet und denkt. Und das ist das eigentlich faszinierende an Leonardo: dass er die Wirklichkeit zersägt und bloßlegt, dass er ein Männerbein kleinhackt und einen Mutterbauch aufschneidet, weil er allein aus der Introspektion zur Inspiration zu gelangen scheint. Dass er aber dennoch, der Wahrheit messend auf der Spur, jede Form der Vermessenheit meidet. Darin vor allem unterscheidet er sich von den Exponauten der Gegenwart, die alles für machbar und alles Machbare für richtig halten."

Weitere Artikel: Gottfried Knapp (SZ) schreibt zum Tod des Galeristen Otto van de Loo.

Besprochen werden Sebastiao Salgados "Genesis"-Ausstellung im C/O Berlin (FR), die Ausstelung "1945 - Niederlage, Befreiung, Neuanfang" (" Diese Ausstellung wird allein durch die faszinierenden Objekte vor dem Skandal gerettet", ärgert sich Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung), die Emile-Bernard-Retrospektive in der Kunsthalle Bremen (NZZ) und Alicja Kwades Ausstellung "Die bewegte Leere des Moments" in der Schirn in Frankfurt (Freitag).
Archiv: Kunst