Efeu - Die Kulturrundschau

Die Freuden des Kapitalismus

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27.03.2015. Yacht Rock erinnert die taz an Zeiten, als es noch perlende Pianos, folgenlosen Sex und jede Menge Genussgifte gab. Macht aus der Volksbühne ein Tanzhaus, schlägt die Welt vor. Innovative neue Literatur kommt künftig eher aus Indien oder China als aus Europa, glaubt Orhan Pamuk in der NZZ. Die taz bringt dem philippinischen Low-Budget-Regisseur Khavn De La Cruz ein Ständchen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.03.2015 finden Sie hier

Musik

Yacht Rock, auch schon wieder so ein neuer Begriff, unter dem alte Popmusik, deren Vertreter man vorher nicht zusammengestellt hätte, neu sortiert und kontextualisiert, erklärt Detlef Diederichsen anlässlich einer neuen Compilation in der taz. Gemeint ist damit der ziselierte, aber hochwertig produzierte Hedonismus-Rock - etwa von Fleetwood Mac, den Eagles oder Nicolette Larsen - aus den Siebzigern, der etwa auch das letzte Album von Daft Punk inspirierte. "Die Gemütslage war geprägt von bittersüßer Melancholie (in den besten Momenten), weinerlichem Selbstmitleid (in den mediokren Momenten) bis hin zu knallhartem Zynismus. ... Mit dem Abstand von dreißig Jahren kann man Yacht Rock heute retro-selig genießen. Zu ihrer Zeit aber feierte diese Musik zunächst vorsichtig, dann immer sorgloser die Freuden des Kapitalismus: Luxusleben im Sunshine State, üppige Versorgung mit materiellen Gütern, folgenloser Sex und Genussgifte - war das denn alles falsch? Nein, scheint einem das lasziv perlende E-Piano zuzuflüstern." Die Compilation folgt dieser Playlist von DJ Supermarkt, auf die wir bereits vergangenen August als Einführung in die Welt des Yacht Rock verwiesen haben.



Im großen SZ-Interview mit Reinhard J. Brembeck verteidigt Dirigent Christian Thielemann nochmals seine umstrittenen Äußerungen zu Pegida: "Wenn sich auf der Straße Menschen, in welcher Richtung auch immer, äußern, dann ist es gut zu fragen: Was ist denn da? Ich finde grundsätzlich, dass man Meinungen erst mal zur Kenntnis nehmen muss. Das ist nämlich Demokratie. Demokratie bedeutet, dass ich Meinungen, auch wenn sie nicht meine Meinung sind, zur Kenntnis nehme und versuche, mich damit ganz kühl auseinanderzusetzen." Thielemann bekundet außerdem, demnächst Mahler dirigieren zu wollen. Ein Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Berliner Philharmoniker?

Gibt"s jetzt auch wieder: Die Neunziger-Alternativrocker Faith No More rund um den seitdem als Experimentalmusiker reüssierten Sänger Mike Patton. Für Pitchfork hat sich Stuart Berman zum Gespräch mit der Band getroffen. Für Skug liest Curt Cuisin ein Buch über den Impro-Musiker Radu Malfatti. Rassisten wollen mit einer Petition verhindern, dass Kanye West beim Glastonbury Festival auftritt, meldet Klaus Walter in der SZ. Felix Schmidt, der seinerzeit das berühmte Spiegel-Interview mit den zu sprengenden Opern geführt hat, gratuliert in der Zeit, Hans-Jürgen Linke in der FR Pierre Boulez zum 90. Geburtstag.

Und der Tod von Karl Moik, Erfinder des "Musikantenstadl" lässt keinen unberührt: Nachrufe schreiben Jan Freitag (ZeitOnline), Frederic Schwilden (Welt), Andrea Diener (FAZ), Jan Feddersen (taz) und Bernd Graff (SZ).

Besprochen werden das neue Album von Chilly Gonzales (Pitchfork), das neue Album von Liturgy (Pitchfork), ein Konzert des Gesangsquartetts Adoro (Tagesspiegel), ein von Teodor Currentzis in Berlin dirigiertes Rameau-Programm (Tagesspiegel), Nick Höppners neues Album "Folk" (taz), ein Konzert von Van Morrison (FAZ) und das neue Album von Ringo Starr ("vielleicht sehr brauchbar", mutmaßt Jakob Biazza in der SZ).
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Bühne

Viel Gesumm und Gebrumm gibt es derzeit um den möglichen Castorf-Nachfolger Chris Dercon - vielleicht sogar eine Spur zu viel, meint Dirk Pilz im Kommentar der Berliner Zeitung: "Wie wäre es, über die Zukunft des Theaters, über den Spagat von Weiterentwicklung und Bewahrung, ausnahmsweise nicht anhand von Personalfragen zu diskutieren, nicht in bloßen Karriere- und Machtkategorien?"

Neiiiin, bitte nicht Chris Dercon, stöhnt in der Welt Manuel Brug. Er ist bestimmt ein guter Kurator, "aber was soll der mit einem Theater? Irgendwie hippe, freilich inzwischen meist dem Zeitgeist hinterherhechelnde Kuratoren gibt in der deutschen Hauptstadt längst im Überangebot. ... Warum nicht endlich den Mut zum Tanzhaus haben? Das kreative Potenzial gibt es in Berlin immer noch. Auch das dringende benötigte nationale Schaufenster für eine sehr internationale Kunstform, wie es London, Paris, selbst Essen haben, ist mehr als nur ein Desiderat. Publikum ist vorhanden. Zudem ist der Zuschauerraum der Volksbühne mit seinen ansteigenden Reihen und der großen Bühne dafür perfekt geeignet."

Sehr beeindruckend findet Patrick Wildermann (Tagesspiegel) die Schauspielerin Judith Rosmair, die in der Performance "Curtain Call!" in den Berliner Sophiensälen eine sehr eigenwillige Interpretation der "Anna Karenina" performt: Darin gibt sie "eine Schauspielerin am Rande des Nervenzusammenbruchs. Auf der kargen Podesterie im Hochzeitssaal der Sophiensäle liegt sie auf dem Rücken und versucht zur Ruhe zu kommen. Ringt mit fiebrigen Tolstoi-Fantasien und Schlaflosigkeit. Das Theater: ein Albtraum. Wie im Zeitraffer wirft sie sich ins Kostüm, Fellmütze und -stiefel, führt Streitgespräche mit der unsichtbaren Regie."

Weiteres: Rüdiger Schaper (Tagesspiegel) meldet den Tod der Schauspielerin Bärbel Bolle. Besprochen werden das an der Oper Neukölln aufgeführte Stück "Grimm!" (Berliner Zeitung) und das in Berlin aufgeführte Udo-Jürgens-Musical "Ich war noch niemals in New York" (Tagesspiegel, Berliner Zeitung).
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Literatur

Die literarischen Innovationen werden in Zukunft aus Ländern wie Indien und China kommen, meint Orhan Pamuk in der NZZ im Gespräch mit Angela Schader: "In diesen Ländern bildet sich eine schnell wachsende Mittelklasse heraus, die Bücher liest. Der Roman und seine Genres - kommerzielle Literatur, historische Romane, Liebesgeschichten und so weiter - sind in diesen Ländern vergleichsweise neu; und die Literaturschaffenden schreiben für eine Generation mit gewandeltem Bewusstsein, die sich mehr Freiheiten wünscht, die stark durch politische Ideen und Hoffnungen motiviert ist. Diese Menschen haben eine Wut, eine Energie im Leib, und für sie hat Literatur direkt mit dem gesellschaftlichen Wandel, mit dem Ausdruck einer neuen Individualität zu tun."

Weiteres: Oleg Jurjew (Tagesspiegel), Kristina Maidt-Zinke (SZ) und Andreas Platthaus (FAZ) gratulieren Harry Rowohlt zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden die beiden Krimis "Black Star Nairobi" von Mukoma wa Ngugi und "Prime Cut" von Alan Carter (Perlentaucher), Scott Snyders und Sean Murphys Comic "The Wake" (Tagesspiegel) und Norbert Scheuers "Die Sprache der Vögel" (Zeit).
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Kunst

Nach Auseinandersetzungen um die umstrittene Skulptur "Not Dressed for Conquering" ist das Museu d"Art Contemporani de Barcelona nun direktorlos, meldet Brigitte Werneburg in der taz. Für den Tagesspiegel porträtiert Anna Pataczek den japanischen Künstler Koki Tanaka. Viel Spaß hatte NZZ-Rezensentin Michelle Ziegler bei der Eröffnung des Festivals Archipel in Genf, das jede halbe Stunde eine andere Veranstaltung zeigte. Ebenfalls in der NZZ gratuliert CEl. Hess Talhof Kusmierz zum DAM-Architekturpreis. Die FAZ bringt eine Strecke mit New York damals und heute. Maria Becker besucht für die NZZ eine Ausstellung mit zehn Picassos aus der Sammlung des Kunstmuseums Basel im Museo Nacional del Prado in Madrid. (Bild: Sitzender Harlekin (Arlequin assis), Pablo Picasso, 1923, Kunstmuseum Basel, permanente Leihgabe der Stadt Basel seit 1967)

Besprochen werden Harun Farockis und Antje Ehmanns Ausstellung "Eine Einstellung zur Arbeit" im Haus der Kulturen der Welt in Berlin (Jungle World), eine Retrospektive der Architekturfotografin Hélène Binet in der Accademia di Architettura von Mendrisio (NZZ) und die Charlotte-Salomon-Ausstellung im Kunstmuseum Bochum (FAZ).
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Film


Bizarre Perspektiven: Khavn De La Cruz" "Ruined Heart". Bild: Rapid Eye Movies.


taz-Rezensent Andreas Busche kann den philippinischen Tiefst-Budget-Regisseur Khavn De La Cruz, dessen neuer Film "Ruined Heart - Another Love Story between a Criminal and a Whore" diese Woche ins Kino kommt, nur bewundern: "An formalen Konventionen hat Khavn bislang wenig Interesse gezeigt. [Sein Film] ist ein schönes Beispiel für die rohe Energie seines Kinos, das sich selbst die Smartphone-Ästhetik auf souveräne Weise zu Eigen macht. Der Hauptdarsteller Tadanobu Asano fungiert in "Ruined Heart" zeitweilig auch als Kameramann. Während der Verfolgungsjagden durch die Slums von Manila führt er die Digitalkamera in Armeslänge vor sich, was die Action in bizarre Perspektiven rückt."

Außerdem: Bei der Diagonale in Graz begab sich Patrick Holzapfel (kino-zeit.de) auf die Suche nach dem Realen. Für ZeitOnline spricht Martin Schwickert mit dem Regisseur Francois Ozon über dessen (von Schwickert auch besprochenen) Film "Eine neue Freundin".

Besprochen werden Oskar Roehlers "Tod den Hippies! Es lebe der Punk!" (FR, Welt, mehr), der Dokumentarfilm "Das andere Rom - Sacro GRA" (Tagesspiegel, kino-zeit.de, Perlentaucher) und Tim Johnsons Animationsfilm "Home" (Kinderfilmblog, SZ).
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