Efeu - Die Kulturrundschau

Richtiger Mann der Zukunft

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.03.2015. Chris Dercon, Leiter der Tate Modern in London, als Castorf-Nachfolger an der Berliner Volksbühne? Der Tagesspiegel kann sich das gut vorstellen. In der Zeit beklagt Wolfgang Ullrich die Trivialisierung der Kunst. Die taz feiert Oskar Roehlers karnevalesk verkleideten Film "Tod den Hippies - Es lebe der Punk!" Die NZZ unterhält sich mit der amerikanischen Autorin Rachel Kushner über Auslassungen und Leerstellen. Und: Pierre Boulez wird Neunzig! In der FAZ erinnert sich sein Schüler Jörg Widmann an seine erste Begegnung mit den Boulezschen Klanggewittern.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.03.2015 finden Sie hier

Musik

Pierre Boulez wird 90. Lebhaft erinnert sich dessen Schüler Jörg Widmann in der FAZ daran, welchen überwältigenden Eindruck die erste Begegnung mit der Musik des Komponisten auf ihn hinterließ. Rationales, ausgezirkeltes Kalkül? Von wegen: "Die Klänge wanderten, elektronisch transformiert, wie von Zauberhand durch den Raum, Klanggewitter, Klangkaskaden stürzten auf mich ein. Ein Farb-Rausch, ein unerhörter Exzess, ein Orgasmus aus Klängen und Farben, Freiheit, die Befreiung des Klanges selbst!" Weitere Geburtstagsgrüße schicken Manuel Brug (Welt), Wilhelm Sinkovicz (Presse), Ljubisa Tosic (Standard), Eleonore Büning (FAZ), Felix Schmidt (Zeit) und Reinhard J. Brembeck (SZ).

Hier ein Satz aus seiner zweiten Klaviersonate zum ganz schnellen Mitlesen! Aber nicht die reaktionären Kommentare bei Youtube lesen.



Frederik Hanssen (Tagesspiegel) hat von Daniel Barenboim erfahren, warum er Boulez für "einen richtigen Mann der Zukunft" hält: "Weil ein nicht-richtiger Mann der Zukunft entweder die Vergangenheit nicht kennt oder sich nicht für sie interessiert." Und fast alle kommen auf das Spiegel-Interview von 1967 zu sprechen, in dem Boulez die Sprengung der Opernhäuser gefordert haben soll. Im hier dokumentierten Originalgespräch liest es sich im Detail allerdings nicht ganz so stürmerisch.

Auf ihrem neuen Album "Asunder, Sweet And Other Distress" üben sich die Instrumental-Postrocker der kanadischen Band Godspeed You! Black Emperor nicht nur weiter in der hohen Kunst der Verweigerung, sondern ihre Musik zelebriert auch "die Zärtlichkeit ihrer Zerstörungswut", schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline. Beim Guardian kann man sich das Album anhören.

Besprochen wird ein Konzert mit Werken von Georges Aperghis (Tagesspiegel).
Archiv: Musik

Bühne

Chris Dercon, Leiter der Tate Modern in London, ist als Castorf-Nachfolger an der Berliner Volksbühne im Gespräch. Im Tagesspiegel-Kommentar bleibt Rüdiger Schaper diesbezüglich zwar vorsichtig abwartend, aber doch neugierig: Schließlich seien auch Castorf-Inszenierungen eher bespielte Installationen, da mache ein Kurator als Intendant Sinn. Schaper erweitert die Perspektive: "Wie würde sich eine solche Volksbühne zum HAU verhalten? Wäre sie übermächtige Konkurrenz oder entstünde ein neuer Theaterverbund? ... Was auch geschieht, die Castorf-Nachfolge setzt ein Zeichen. Sie betrifft alle anderen Bühnen, nicht allein in Berlin. Was sich hier ankündigt, ist eine Neuordnung der Theaterlandschaft."

Außerdem: Regisseur Uwe Eric Laufenberg, dessen "Elektra" am Sonntag in Wien Premiere hat, erklärt im Gespräch mit dem Standard, warum die Strauss-Oper immer noch höchst aktuell ist: Elektras "negative Kraftanballung, die unbedingt zur Explosion kommen will" erinnert ihn an den IS.

Besprochen werden Jan Gehlers Dresdner Inszenierung einer Bühnenadaption von Wolfgang Herrndorfs Roman "Bilder deiner großen Liebe" (SZ), Bianca Anne Braunesbergers Tanzsolo "The Stupidity of Human Being" im Wiener Schikanederkino (Standard) und Tilmann Köhlers Berliner "Macbeth" (Zeit).
Archiv: Bühne

Kunst

In ihrem mit missionarischem Eifer betriebenen Bemühen, immer neue Zielgruppen zu erschließen, betreiben die Museen eine Trivialisierung der Kunst, schreibt der Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich in der Zeit: "Das Unbehagen, das eine schwierige, schroffe und rätselhafte Kunst auslöst, wird abgebaut, indem man all diese Eigenschaften durch Aktionismus überspielt und so tut, als sei Kunst letztlich doch ganz einfach und verlange keine Zugangsvoraussetzungen. Kunstvermittlung ist insofern vor allem Anästhesie. Sie dimmt alles auf eine vage Atmosphäre von Kreativität herunter."

Vermutlich könnten die New Yorker Kunstkritiker das unterschreiben. Sie streiten derzeit um Klaus Biesenbach, Star-Kurator des MoMA, der die Kunstwelt mit "zeitgeistigem Schick" - zwölf Auftritte von Kraftwerk, die Übernachtung von Tilda Swinton in einer Glassbox, Marina Abramovics Langzeitperformance und die hart kritisierten Björk-Ausstellung - verärgert, berichtet Swantje Karich in der Welt.


Robert Longo: Studio View 2014

taz
-Kritikerin Ophelia Abeler lässt sich beim Besuch des Atelier von Robert Longo Baseball erklären. Auch die Bilder des Künstlers streift ihr Blick: "Longo liefert eine ungewöhnliche Definition von Abstraktion, die angesichts seiner minutiösen Arbeitsweise aber vollkommen schlüssig ist. Der Künstler ist durch das Übersetzen von Fotografie und Malerei in Kohlezeichnungen hypersensibilisiert für Muster, Texturen und feinste Graustufen; sein Blick muss mikroskopisch geworden sein im Lauf der Jahre."

Weiteres: Nach Wien hat jetzt auch Paris eine große Velázquez-Schau - allerdings mit etwas anderem Schwerpunkt, berichtet Stefan Brändle im Standard. Die Pariser zeigen Velázquez vergleichend, in Zusammenhang mit seinen Zeitgenossen. "Im Hamburger Bahnhof sind Pärchentage", annonciert Welt-Redakteur Marcus Woeller eine Ausstellung, die Gemälde der amerikanischen Künstler David Reed und Mary Heilmann zu Paaren zusammenhängt.

Besprochen werden eine Velázquez-Ausstellung in Paris (FR), die Ausstellung "La Toilette - Naissance de l"Intime" im Musée Marmottan in Paris (SZ) und die Ausstellung mit Rokoko-Kunst in der Kunsthalle der Hypo-Stiftung in München (FR),
Archiv: Kunst

Architektur

In der FAZ bringt Rainer Schulze einen Zwischenbericht zum Wiederaufbau der Frankfurter Altstadt. Schon aus statischen Gründen kann diese nicht originaltreu werden, aber man nähert sich der Geschichte doch so gut es geht an, notiert er: "Die Frankfurter Häuser sind keine Attrappen ... Anders als in Dresden, wo hinter barocken Prachtfassaden Hotels und Geschäfte mit modernen Grundrissen entstanden sind, wird in Frankfurt kein unehrlicher Fassadismus gespielt. ... Mit Hilfe der kleinteiligen Parzellierung soll die verwinkelte Atmosphäre der Altstadt wieder zum Leben erweckt werden."

Die Ausstellung "Wien. Die Perle des Reiches. Planen für Hitler" im Architekturzentrum Wien wagt einen ersten Schritt zur Erforschung der Nazi-Pläne zur Umgestaltung der Stadt, berichtet Ralf Leonhard in der taz.
Archiv: Architektur

Literatur

Bernadette Conrad hat sich für die NZZ in Los Angeles mit der amerikanischen Autorin Rachel Kushner getroffen, deren neuer Roman "Flammenwerfer" in der New Yorker Kunstszene der 70er Jahre spielt, mit einer Heldin, die keinen Namen hat, sondern einfach nach der Stadt genannt wird, aus der sie kommt: Reno. "Schnell sind wir im Gespräch bei der Bedeutung von Leerstellen und Auslassungen. Kushner, die von sich sagt, dass sie immer mehr mit Künstlern unterwegs gewesen sei als in einer Literaturszene, ist auch in der Kunst fasziniert von Leerstellen. Was "fehlt", hat eine eigene Intensität. "Wie Roman Signer", sagt Kushner, "das sind Gesten voller Kraft und konsequent auf Vergänglichkeit ausgerichtet.""

Anlässlich der Veröffentlichung von Daniel Kehlmanns Frankfurter Poetikvorlesung hat sich Freitag-Autor Konstantin Ulmer mit dem Schriftsteller unterhalten. Warum ihn die irrsinnigen und irrsinnig populären Peter-Alexander-Filme der fünfziger und sechziger Jahre mit der Gruppe 47 wenigstens in Ansätzen versöhnt haben, erklärt er dabei auch: "Wenn man sich ansieht, in was für einem Klima die gearbeitet haben, dann muss man diesen Leuten sehr dankbar sein. Sie haben dafür gesorgt, dass Deutschland ein weniger neurotisches und irres Land geworden ist, als es das in den 50er Jahren war, denn sie haben das Land mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Für die in jeder Geste sichtbare Neurose der Verdrängung steht Peter Alexander mit seinen Filmen." Vergessen wir dabei nicht, dass es sich bei Peter Alexander um einen Österreicher handelt!

Weiteres: In der Zeit spricht Henning Mankell mit Susanne Mayer über seine Lungenkrebserkrankung, und auf der Glauben & Zweifeln-Seite schreibt Thomas Hürlimann über das "Lazarus-Erlebnis" nach seiner Prostatakrebs-Operation.

Besprochen werden Peter Handkes neues Stück "Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße" (Ronald Pohl bescheinigt dem Lesedrama im Standard einen "Zug ins Großartige und Epochale, der sogar für Handke ungewöhnlich ist"), Philipp Felschs "Der lange Sommer der Theorie" (Freitag, mehr), J.R.R. Tolkiens "König Arthurs Untergang" (FR), Oskar Roehlers autobiografisch eingefärbter Roman "Mein Leben als Affenarsch" (SZ) und Anke Stellings "Bodentiefe Fenster" (ZeitOnline). Mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr.

Archiv: Literatur

Film


Alexander Scheer in Oskar Roehlers "Tod den Hippies - Es lebe der Punk!"

Mit seinem neuen Film "Tod den Hippies - Es lebe der Punk", in dem Oskar Roehler seine Punk-Adoleszenz in der West-Berliner Subkultur der frühen Achtziger behandelt, dringt der Regisseur erneut "tief ins Neurosengewebe der deutschen Gesellschaft vor", schreibt Thomas Groh in der taz mit großer Freude am anarchischen Charakter des Films. Für ihn hat sich Roehler mit einer ganze Reihe von Filmen zum Chronisten der BRD-Mentalitätsgeschichte gemausert: Doch "alle seine Geschichtsfilme - auch dieser - haben etwas karnevalesk Verkleidetes und damit sehr Schrilles, Künstliches an sich. Der antinostalgische Effekt ist enorm: Geschichte ist bei Roehler kein für Retrosehnsüchte aufbereitetes, am schönen Schein orientiertes Genussgesamtpaket, sondern bleibt stets als etwas Gemachtes mit Brüchen kenntlich."

Auch Michael Angele vom Freitag dürfte an diesem Film seinen Spaß gehabt haben: Zumindest "hat [er] den Eindruck, dass in Westberlin von der Subkultur mehr Amphetamin gesnieft wurde als von den deutschen Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg." In der FAZ bespricht Bert Rebhandl den Film. Für die SZ hat sich Fritz Göttler mit Roehler unterhalten.

Weitere Artikel: Josef Lommer berichtet auf critic.de von der Diagonale in Graz.In der taz empfiehlt Thomas Groh eine Berliner Filmreihe zum Hollywoodkino der 90er Jahre. Jan-Schulz Ojala (Tagesspiegel) unterhält sich mit dem Regisseur Jean-Paul Rouve über dessen (von Daniela Sannwald besprochene) Komödie "Zu Ende ist alles erst am Schluss". Thomas Knauf (Freitag) schreibt zum Tod des Dokumentarfilmemaches Albert Maysles.

Besprochen werden Lukas Moodyssons Punk-Coming-of-Age-Film "Wir sind die Besten!" (Perlentaucher, critic.de), Gianfranco Rosis Dokumentarfilm "Sacro GRA - Das andere Rom" (Perlentaucher, ZeitOnline, SZ), François Ozons "Eine neue Freundin" (taz, Welt, SZ), die Bruno Apitz-Verfilmung "Nackt unter Wölfen" (Zeit), Gerd Schneiders Kinodebüt "Verfehlung" (Welt), Manfred Neuwirths Dokumentarfilm "Aus einem nahen Land" (Standard) und Matthias Schweighöfers "Nanny" (Berliner Zeitung).
Archiv: Film