Efeu - Die Kulturrundschau

Weiße Puppen paradieren dort

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13.03.2015. In der NZZ besteht Mircea Cartarescu darauf, dass es nur ein Europa gibt. In der Welt erzählt der Oboist Albrecht Mayer, warum er sich bei Mozart und Strauss rar macht. Im Freitag erklärt Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow, warum er auf der Theaterbühne freier ist als auf der Konzertbühne. Die FAZ schlängelt sich an prächtiger italienischer Mode vorbei. Alle trauern um Terry Pratchett.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.03.2015 finden Sie hier

Literatur

Recht spöttisch fasst Richard Kämmerlings in der Welt Mircea Cărtărescus Dankesrede für den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung zusammen: "bescheidene Selbstkanonisierung" bescheinigt er dem Autor. Dabei war Cartarescu einfach nur wunderbar selbstbewusst, wie man in der NZZ nachlesen kann: "Ich bin kein Autor aus Osteuropa. Ich erkenne jenes Drei-Zonen-Europa, bestehend aus einem zivilisierten Westeuropa, einem neurotischen Mittel- und einem chaotischen Osteuropa nicht an, weder geopolitisch noch kulturell, noch religiös, noch sonst irgendwie. Mein Traum gilt einem vielgestaltigen, aber nicht schizophrenen Europa. Ich las Musil nicht, weil ich in ihm einen Wiederkäuer aus Kakanien vermutet hätte, sondern weil ich einen erzählenden Analytiker des europäischen Geistes in ihm sah. Es ist mir egal, in welchem Land André Breton gelebt und geschrieben hat. Keine Ahnung, wo sich Bulgakows Kiew auf der Karte findet. Ich suchte mir auch Catullus oder Rabelais, Cantemir oder Virginia Woolf nicht nach einer Landkarte heraus, um sie zu lesen..."

Schon dass der Lyriker Jan Wagner es mit seinen "Regentonnenvariationen" auf die Shortlist des Leipziger Buchpreises geschafft hat, war bemerkenswert. Dass er den Preis für Literatur nun auch tatsächlich gewonnen hat, ist für Christopher Schmidt (SZ) "eine Sensation" und vor allem ein "beglückendes und ermutigendes Signal" der Jury, die hier erstmals damit bricht, dass der Preis an einen Romancier geht. Auch Gerrit Bartels (Tagesspiegel) findet diese Entscheidung hervorragend: Hier werde ein "Virtuose der Form" gewürdigt. Auf ZeitOnline verneigt sich Wiebke Porombka vor Wagners Naturgedichten. Und in der Welt gratuliert Richard Kämmerlings. Der Sachbuchpreis ging an Philipp Ther und der Preis für die beste Übersetzung an Mirjam Pressler, die von Amos Oz auf die Bühne begleitet wurde, wo er ihr ein sehr schönes Kompliment machte: "Eine Übersetzung ist wie ein Geigenkonzert auf dem Klavier zu spielen. Und Mirjam Pressler ist eine großartige Pianistin."

Weitere Artikel: In der taz berichtet Andreas Fanizadeh, in der SZ Lothar Müller von der Auftaktveranstaltung zur Leipziger Buchmesse. Gerrit Bartels (Tagesspiegel) besucht den Israel-Stand auf der Buchmesse. Oliver Pfohlmann (Tagesspiegel) unterhält sich mit Andrea Bartl und Martin Kraus über deren Buch "Skandalautoren". Frank Schulz berichtet in der FAZ von einer Kreuzfahrt, die er zu Recherchezwecken für seinen neuen Roman "Onno Viets und das Schiff der baumelnden Seelen" angetreten hatte.

Terry Pratchett ist tot. In einem Nachruf auf den vielgeliebten Fantasyautor zitiert der Guardian AS Byatt, die ihm eine Liebeserklärung nachschickt: "No writer in my lifetime has given me as much pleasure and happiness. He could do knockabout for schoolboys (and girls) but he was also subtle and wise and very funny in the adult world. I loved him because almost all the characters he didn"t like slowly grew more real, more interesting, more complicated perhaps to his own surprise."

Nachrufe auf Pratchett schreiben außerdem Kai Biermann (ZeitOnline), Andrea Diener (FAZ), Kurt Kister (SZ) und Jens Balzer (Berliner Zeitung). Die SZ bringt Pratchett-Zitate. Und in dessen Geschichten sprach Gevatter Tod stets in Großbuchstaben, dazu passend einer der letzten Tweets von seinem offiziellen Account:


Besprochen werden Michael Wildenhains "Das Lächeln der Alligatoren" (Zeit), Julian Barnes" "Lebensstufen" (FR) und Ulrich Ziegers "Durchzug eines Regenbandes" (SZ).
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Musik

Im Interview mit der Welt erzählt der Oboist der Berliner Philharmoniker, Albrecht Mayer, warum er für sein Solo-Album in ganz Europa nach klassischen Konzertraritäten gesucht hat: "Mein Schicksal ist ja, dass jedes Orchester, wo ich gastiere, am liebsten die Konzerte von Mozart oder Strauss hätte. Das habe ich zehn Jahre mitgemacht. Dann musste ich mich rarmachen. Sonst wird es schnell fad. Dabei sage ich immer: Nehmt das Repertoire von Trompete, Horn, Klarinette, Bratsche und Flöte, dann haben Oboisten immer noch mehr als diese zusammen. Die Oboe war im 17. und 18. Jahrhundert neben der Geige das führende Soloinstrument, nur leider bekam sie nicht so viele qualitätsvolle Werke. Später kam kaum was - bis zur Pariser Schule, Anfang und dann bis Mitte des 20. Jahrhunderts, bis Vaughan Williams, Ibert, Strauss und Jean Françaix. Dem will ich mit meinem Namen und meiner Autorität und eben auch meiner Recherche abhelfen."

Hier ist Mayer mit Bach:



Weitere Artikel: Für die taz hört sich Christian Werthschulte durch zahlreiche neue House-Releases, die wie ein "Resonanzraum der Musikgeschichte" anmuten oder den in Detroit begründeten House "als Mittel für eine Fortschreibung von Jazz" nutzen. Für die NZZ hört Christoph Wagner Post-Jazz aus London und Oxford. Der Komponist Laurie Altman kombiniert Schönberg mit Duke Ellington und entzieht "diese Synthese (...) dem Jazz wie der Klassik", berichtet Reinhard J. Brembeck in der SZ.

Besprochen werden ein Auftritt von Ariel Pink (Berliner Zeitung), Madonnas Album "Rebel Heart" (NZZ), Isolation Berlins neue EP "Körper" (taz) und Charli XCXs "Sucker" (taz).
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Film


Godard-Star Anna Karina

Das österreichische Filmmuseum widmet Jean-Luc Godards erster Schaffensperiode (bis "Weekend") derzeit eine umfangreiche Retro. Andrey Arnold erinnert sich in der Presse, wie die eigene Zeitung 1960 auf "Außer Atem" reagierte: "In der Kritik zum Österreich-Start sah die Presse damals ein "gefährliches" Werk: Zwar zeige es "die Früchte des Zorns in verblüffender Echtheit und mit atemberaubender Spannung", sei aber in seiner Weltanschauung "eine Verherrlichung des Bösen und ein Trumpf der Negation, zu der wir energisch Nein sagen müssen". Das Publikum sagte Ja, und Godard wurde - ebenso wie seine Hauptdarsteller Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg - ein international gefeierter Star." Im Standard schreibt Dominik Kamalzadeh über die Retro.

Außerdem: In der Welt schreibt Hanns-Georg Rodek den Nachruf auf den Filmregisseur Richard Glatzer ("Still Alice"), der an ALS gestorben ist. Besprochen werden Andrei Swjaginzews "Leviathan" (Spex, Perlentaucher, mehr) und Matthew Vaughns "Kingsman: The Secret Service" (Tagesspiegel).
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Bühne

Der Theaterbetrieb bietet immer mehr Indie-Musikern ein neues Betätigungsfeld und Schutz vor den Härten des Marktes. Auch Dirk von Lowtzow von Tocotronic hat jetzt für René Pollesch eine Oper komponiert. Im Freitag-Gespräch mit Jürgen Ziemer erklärt er, wie es zu diesen Abwanderungsbewegungen in die alimentierte Hochkultur kommt: "Das Theater ist (...) deutlich weniger durchökonomisiert. Als Musiker gewinnt man da vielleicht auf eine paradoxe Art wieder Freiheit und kann im besten Fall seinen Horizont erweitern. Es kommt aber auf die Spielstätte an. Das Projekt von René und mir läuft ja nicht an der Staatsoper oder gar in Bayreuth. Die Volksbühne ist ein Ort, der schon lange Dinge miteinander vermischt. Deshalb kann ich in diesem Zusammenhang glücklicherweise auch der Popmusiker bleiben, der ich nun mal bin."

Weiteres: In der Berliner Zeitung berichtet Michaela Schlagenwerth vom "Return to Sender"-Festival im Berliner Hebbel am Ufer. Besprochen wird Michael Hampes Buch "Opernschule - Für Liebhaber, Macher und Verächter des Musiktheaters" (FAZ).
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Kunst

Mit seinen vier abstrakten, jetzt in Dresden ausgestellten Auschwitz-Bildern gelingt Gerhard Richter "eine vielschichtige Erzählung (...), gerade wo er das Verstummen abbildet", urteilt Catrin Lorch in der SZ. Besprochen werden die Larry-Sultan-Retrospektive im Kunstmuseum Bonn (FAZ) und die Björk-Ausstellung im Moma (NZZ).
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Design

Rose-Maria Gropp (FAZ) besucht die große Ausstellung im Maxxi Rom über italienische Mode der Jahre 1945 bis 1968. Auch die Architektur des Gebäudes wird gewinnbringend eingesetzt, meint sie: Es "schlängelt sich ein Laufsteg, wie ein Loop, in der oberen Etage des Gebäudes. Gesichtslose weiße Puppen paradieren dort, die schönsten Erzeugnisse italienischer Schneiderkunst sind ihnen übergezogen - auch eine Form von Demokratisierung. Also muss die Phantasie mitflanieren, samt ein wenig Adoration. Denn die Puppen auf dem imaginären Catwalk sind aus leichter Untersicht zu betrachten." (Foto: Germana Marucelli. Abito da sera, Linea Alluminio, autunno/inverno 1968-69. Paillettes su seta con motivi ideati con la collaborazione di Paolo Scheggi di cui si scorge sullo sfondo una parete dell"opera Intercamera Plastica. Archivio Germana Marucelli, Milano. Fotografia di Marcello Gobbi)
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