Efeu - Die Kulturrundschau

Das Inbild eines schönen, zarten und subtilen Mannes

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31.01.2015. Als ein "Wunderwerk choreografierter Emotionsströme" feiert die NZZ Luc Bondys Pariser "Iwanow"-Inszenierung. Die Welt fragt deutsche Architekten, wie sie sich eigentlich ihre gesellschaftspolitische Rolle vorstellen. Die Berliner Zeitung wiegt sich bei der Transmediale zu den Klängen komplexer Algorithmen. Auf Critic.de wünscht sich Nino Klingler mehr Fokus in der Filmkritik. FR und FAZ trauern um den Fotografen der Berliner Nachkriegsjugend Will McBride.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.01.2015 finden Sie hier

Bühne


Micha Lescot und Marina Hands in Tschechos "Iwanow" im Pariser Théâtre Odeon. Foto: Thierry Depagne.

Als "Wunderwerk choreografierter Emotionsströme" preist Barbara Villiger Heilig in der NZZ Luc Bondys "Iwanow"-Inszenierung am Pariser Odéon- Theater mit einem offenbar umwerfenden Ensemble: "Ein Tableau mit Tiefenwirkung, durch das sich, während man zu Geige und Akkordeon stockbetrunken tanzt, die Krise unaufhaltsam ihren Weg bahnt - bis zum finalen Knall. Kein Abgesang auf die marode Gesellschaft würde perfekter zur heruntergekommenen heutigen Welt passen, in der wir vorläufig noch Party feiern: ein Zynismus, dem Luc Bondy sich entgegenstellt, indem er Tschechows Menschen samt ihren unbeantworteten Fragen - die auch unsere sind - von allen Seiten zeigt. Mit Ernst, Humor und einer geduldigen Unnachgiebigkeit, die ihresgleichen sucht."

Als "ganz großes Ereignis" bejubelt auch Gerhard Stadelmaier die Tschechow-Inszenierung in der FAZ.

Sehr ungnädig bespricht Georg-Friedrich Kühn in der NZZ die beiden jüngsten Berliner Opernproduktionen zu Schostakowitsch "Lady Macbeth von Mzensk" und Webers "Freischütz": "Hauptstadt-Oper? Man hat schon Besseres gesehen."

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Musik

Jens Balzer (Berliner Zeitung) badet geradezu in den Klangwelten, die der norwegische Produzent Lars Holdhus unter seinem Alias TCF bei der Transmediale schuf: "Alles fließt und ergibt sich auseinander; nach Angaben des Künstlers bringen seine Kompositionen komplexe Algorithmen im Allgemeinen zum Klingen sowie Ver- und Entschlüsselungstechniken im Besonderen; doch bricht sich die Selbstbezüglichkeit der Mathematik immer wieder an Referenzen aus dem Realen; unablässig scheint sich der Klangraum mit Natur- und Kulturgeräuschen, mit technik- und pophistorischen Zitaten zu füllen, ohne dass jemals etwas eklektisch wirkt. Das war toll!" Hier einige Kostproben.




Weiteres: Als "Meisterwerk der politischen Melancholie" feiert Michael Pilz in der Welt das neue Album "Niveau, weshalb, warum" der Hamburger HipHop-Hedonisten Deichkind: "Wer will schon kulturell als wertvoll anerkannt werden, wenn er auch lustig sein kann?" Für die Jungle World porträtiert Thomas Vorreyer den Tuareg-Musiker Mdou Moctar. In der SZ singt Reinhard J. Brembeck ein Loblied auf sich politisch positionierende Musiker im Klassikbetrieb. In der taz erstattet Doris Akrap Bericht von ihren Transmediale-Erlebnissen. Im Freitag berichtet Madeleine Richter vom Berlin Ska City Festival.

Besprochen wird das neue Album "Shadows In The Night" von Bob Dylan (Standard, Spex, mehr).
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Architektur


Albert Speer: Gerichtskomplex, Riad, Saudi-Arabien, 2005

In der Welt ruft Frank Maier-Solgk die deutschen Architekten dazu auf, sich Gedanken über ihre gesellschaftspolitische Rolle zu machen, bevor sie sich für Staatsbauten in Saudi-Arabien einspannen lassen. Eine ökologische Fassade reicht ihr nicht: "Was die Architektur betrifft, so bleibt Gerbers Nationalbibliothek ein Gebäude mit getrennten Lesesälen für Frauen und Männer, und Albert Speers 2005 eröffnetes monolithische Gerichtsgebäude wird als repräsentatives Monument eines Systems wahrgenommen, das Strafen verhängt, die der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen widersprechen. Verkehrt eine Architektur, die seit der Moderne ihre Arbeiten immer wieder als politisches Statement verstanden hat, ihre Sprache so in ihr Gegenteil?"

"Besprochen wird die David Adjaye gewidmete Ausstellung im Haus der Kunst in München (SZ).
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Literatur

Großes Leseglück beschert Ludger Lütkehaus in der NZZ die Neuausgabe von Murasaki Shikibus japanischem Klassiker aus dem Jahr 1000 "Die Geschichte vom Prinzen Genji": "Die Umgangsformen und Sitten dieser Periode sind im Prinzen Genji zur Vollkommenheit gediehen. Er ist das Inbild eines schönen, zarten und subtilen Mannes. Er ist in fast allen Betten zu Hause, aber immer mit Stil, kein erotischer Boudoir-Rambo."

Weitere Artikel: Gregor Dotzauer gratuliert im Tagesspiegel dem japanischen Nobelpreisträger Kenzaburo Oe zum Achtzigsten. Richard Kämmerlings ärgert sich in der Welt weiterhin über die Suhrkamp-Chefin Ulla Berkewicz und ihren "hohen Dauerton" in dem von ihr ausgerufenen "Krieg des Kapitals gegen den Geist". Ebenfalls in der Welt unterhält sich Paul Jandl mit Franz Schuh über dessen neues Buch "Sämtliche Leidenschaften". Die SZ bringt eine Erzählung von T.C. Boyle.

Besprochen werden Bernd Stieglers Buch über Arthur Conan Doyle und die Fotografie (FR), Jochen Distelmeyers "Otis" (taz, FAZ), Teresa Präauers "Johnny und Jean" (taz), Stephan Thomes "Gegenspiel" (Zeit), T.C. Boyles "Hart auf Hart" (Berliner Zeitung), Yankev Glatshteyns Jugendbuch "Emil und Karl" (NZZ) Christopher Isherwoods Romane "Leb wohl, Berlin" und "A Single Man" (NZZ), Tom Drurys Roman "Das stille Land" (Welt), Heinrich August Winklers "Geschichte des Westens" (Welt). Teju Coles "Jeder Tag gehört dem Dieb" (SZ) und Dieter Kühns "Die siebte Woge" (SZ, FAZ).
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Kunst

Zum Tod des Fotografen und Malers Will McBride erinnert Ingeborg Ruthe in der FR daran, wie verliebt er in das Berlin der Nachkriegszeit war: "Sein Kamera-Blick war ausschließlich subjektiv, dann, wenn er die Ruinen der zerbombten Stadt, aber auch den Wiederaufbau fotografierte, die erwachende Lebenslust, die Liebenden, Tanzenden, Feiernden in den Clubs, die konsum- und ungestüm lebenshungrige Nachkriegsgeneration von West-Berlin und gelegentlich auch die im grauen Osten der Stadt. In der FAZ nennt ihn Freddy Langer "einen Weltverbesserer, der alles Übel als persönliche Niederlage verstanden hat".

Weiteres: "Missglückt" findet Sandra Danicke die dritte Frankfurter Kunstmesse in der FR: "Der Fairness halber sei erwähnt, dass nur weniges wirklich hanebüchen ist, das meiste ist unteres Mittelmaß." Anne Philipp geht mit Christian Rosa essen, dem "kommenden Superstar in der Kunst", wie sie wohl aus gut unterrichteter Quelle weiß. Meike Laaf (taz) führt durch die Ausstellungen der Transmediale, die sich schwerpunktmäßig mit Big Data befassen. Nachrufe auf Will McBride schreiben Christian Schröder (Tagesspiegel), Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung), Freddy Langer (FAZ) und Ulf Erdmann Ziegler (taz). Besprochen wird eine Ausstellung mit Fotografien von Judy Linn im Haus am Kleistpark (taz).
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Film

Die Filmkritik verliert ihr Zentrum, beobachtet Nino Klingler in einem ausführlichen Essay auf critic.de: Einerseits mehren sich die Orte, zu denen Film vordringt und an denen Filmkritik praktiziert wird, andererseits diffundiert filmkritische Öffentlichkeit zum Eckgespräch. Für Klingler liegt "eine der Kernaufgaben zukünftiger Filmkritik" darin, "sich ab und an zu synchronisieren, um gemeinsam mit mehr Wucht auf allen verfügbaren Kanälen ein deutlich umrissenes Problem zu bearbeiten." Eine Chance dafür sieht er in der (critic.de-nahen) "Woche der Kritik", die ab kommender Woche parallel zur Berlinale in Berlin stattfinden wird.

Gerhard Midding (epdFilm) hat bereits große Lust auf die Technicolor-Retrospektive der Berlinale: Sie "führt vor, dass Technicolor den Farben eine Präsenz verlieh, deren Wucht den Betrachter auch heute noch überwältigt. Seine lodernden Töne waren nicht von dieser Welt, waren leuchtender, greller und aufrüttelnder als alles, was die Wirklichkeit zu bieten hat."

Anke Sterneborg (epdFilm) würdigt das Schaffen von Alejandro González Iñárritu, dessen neuer Film "Birdman" diese Woche im Kino gestartet ist. Rüdiger Suchsland berichtet auf ArteChock vom Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken. Rolf Lautenschläger spricht in der taz mit dem Berliner Kinomacher Hans-Joachim Flebbe.
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