Efeu - Die Kulturrundschau

Mehrere Meter Gender-Literatur

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.12.2014. Das art-magazin streift mit Gregor Schneider durch Goebbels Geburtshaus, das als "gemütliche Wohnoase" zum Verkauf angeboten wurde. Der Berliner Zeitung wird beim Anblick von Sean Scullys Bildern in Shanghai ganz schwindelig zu Mute. Die Feuilletons lassen sich einstimmig von Dostojewskis "Brüdern Karamasow" in den Berliner Sophiensälen verzaubern. Der Standard erkundet die Geschichte der Zeitreise in der Science-Fiction-Kultur. Und die Welt lässt sich von Gaby Hauptmann das Verhältnis von Mann und Frau am Rande des Feuilletons erklären.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.12.2014 finden Sie hier

Bühne


Sebastian Blomberg und André Jung in "Karamasow". Foto: Arwed Messmer.

Die Zahl der Szenen, die es aus Dostojewskis Roman "Die Brüder Karamasow" in Thorsten Lensings in den Berliner Sophiensälen aufgeführte Bühnenadaption geschafft haben, ist zwar trotz vier Stunden Laufzeit überschaubar. Doch Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung begeistert sich ohnehin vor allem für die schauspielerischen Details dieser Aufführung. Wie André Jung zwar menschenartig, aber dennoch voll überzeugend einen Hund spielt etwa: "Verwandlung ohne Lüge", jubelt der Kritiker. Großes Lob auch für die Leistungen der anderen Schauspieler: "Der Unterschied zwischen Schauspieler und Figur wird nicht versteckt (...) Sie bleiben, wer sie sind, aber es vollzieht sich doch in den Handlungen, Sprechweisen und Texten eine Annahme des lebendigen Wesens, das Dostojewskij den Figuren eingehaucht hat. Nein, es handelt sich nicht um Magie. Es ist ein pures Spiel mit offenen Karten. Ein Machen ohne Vormachen."

Auch Eva Biringer (Nachtkritik) staunt über die Leistungen der Schauspieler, denen es gelingt, "durch minimale Körpersprache, noch vor der eigentlichen Sprache, maximal komplexe Figuren zu erschaffen." Die Moral der Inszenierung stimmt sie allerdings skeptisch: "Kinder und Tiere sollen der Schlüssel sein zum Paradies?" In der SZ bespricht Mounia Meiborg die Aufführung.

Sehr wenig Freude hatte Nikolaus Merck (Nachtkritik) an der von Jürgen Kuttner zusammengestellten Jubiläumsrevue zum hundertjährigen Bestehen der Berliner Volksbühne. Was hätte man da nicht auf die Beine stellen können, stöhnt er. "Stattdessen gab, wie zu erwarten, Jürgen Kuttner den Dampfplauderer. ... Der Phantomschmerz an diesem Abend ist gewaltig. ... Man kann nur hoffen, dass die Geburtstagsfeier zum 50. Jahr von Frank Castorfs Intendanz in 2042 besser gelingen wird." Außerdem berichten die Berliner Zeitung, der Tagesspiegel und die FAZ von dem Abend.

Weitere Artikel: Bei Thomas Freyers in Dresden aufgeführtem Stück "mein deutsches deutsches Land" handelt es sich zwar nicht um Dokumentartheater, doch für "plausibel" hält Michael Bartsch (Nachtkritik) die Darstellung der Vorgänge rund um den Nationalsozialistischen Untergrund dennoch. In der Welt stellt Stefan Grund die junge Schauspielerin Anna Drexler vor, die in Schnitzlers "Das weite Land" ihr Debüt am Deutschen Theater in Berlin geben wird. Im Interview mit dem Standard spricht der Dirigent Johannes Kalitz über Olga Neuwirths "American Lulu", die am Sonntag Premiere in Wien hat.

Besprochen wird zudem Hans-Werner Kroesingers "Exporting War" am HAU in Berlin (Tagesspiegel).
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Musik

Die von Felix Kubin herausgegebene Compilation "Science Fiction Park Bundesrepublik" dokumentiert den im Zuge von Punk am Vorabend der Neuen Deutschen Welle entstandenen, mit primitiven Mitteln hantierenden Tape-Underground der frühen 80er, erklärt Timon-Karl Kaleyta im Freitag: "Einige der hier versammelten Stücke [sind] schlicht unhörbar, aber darum geht es nicht. Die naiven Arrangements und dadaistischen Texte haben eine eigene Anziehungskraft und sind nicht selten wahnsinnig komisch ... Wir sehen den ästhetischen Urboden, auf dem später sowohl Helge Schneider als auch die Hamburger Schule ihr Feld bestellen werden." Hier eine Hörprobe:


Weiteres: Für die FR plaudert Max Dax mit H.P. Baxxter. Auf ZeitOnline kann Daniel Gerhardt dem neuen Album "A Better Tomorrow" des Wu-Tang Clan allenfalls positiv abgewinnen, dass es überhaupt zustande gekommmen ist. Eric Pfeil schreibt im Poptagebuch für den Rolling Stone eine Lobeshymne auf George Jones.
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Literatur

Die Schriftstellerin Gaby Hauptmann plaudert im Gespräch mit der Welt über ihre Freundschaft zu Martin Walser und das Erfolgsrezept ihrer Bücher: "Romane mit Sex und über Beziehungen. In denen es lustig zugeht und erotisch. Die Frauen durch ein Leben begleiten, das nicht viel mit dem von Gaby Hauptmann zu tun hat. Sie verraten mehr über das Verhältnis von Mann und Frau als mehrere Meter Gender-Literatur, weil sie aus der Mitte des bundesrepublikanischen Lebens geschnitten sind, nicht aus deren feuilletonistischen Rändern."

Weiteres: In der SZ macht sich Lothar Müller Gedanken über den Anonymus in der Literatur. Außerdem präsentieren zahlreiche taz-Redakteure und -Autoren ihre Lieblingsbücher des Jahres - hier der Überblick.

Besprochen werden u.a. Marcel Beyers neuer Gedichtband "Graphit" (Standard), Christoph Steinbachers Gedichtband "Tief sind wir gestapelt" (Standard), Ulf Erdmann Zieglers "Und jetzt du, Orlando!" (Zeit), Neuauflagen von "Der Schwan mit der Trompete" und "Aladin und die Wunderlampe" (taz), Denise Minas Krimi "Das Vergessen" (FR), Hans-Magnus Enzensbergers "Tumult" (FAZ, mehr) und Jonathan Franzens "Kraus-Projekt" (SZ, mehr).
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Film

Tim Caspar Boehme (taz) kämpft bei den "ausladenen Kampfhandlungen", die Peter Jackson im dritten und abschließenden Teil seiner "Hobbit"-Verfilmung in den Mittelpunkt des Geschehens rückt, mit der Müdigkeit und ist am Ende doch erleichtert, als Bilbo Beutlin am Ende wieder ins grüne Auenland darf.

Für die FAZ hat sich Bert Rebhandl den Gangsterfilm "The Drop" angesehen, der James Gandolfini in seiner letzten Rolle zeigt. Dabei wurde er durchaus wehmütig: "Dieses Genre [steht] schon ganz im Zeichen der Vergänglichkeit, und Michael R. Roskam erinnert uns mit seinem melancholischen Film an die Zeiten, als Geschichten noch an Straßenecken geschrieben wurden, und starke Figuren den Schatten der Anonymität suchten."

Im Standard wirft Alois Pumhösel einen Blick auf die Geschichte der Zeitreise in der Science-Fiction-Kultur und bemerkt: "Einmal ist es da, um lehrreich andere Zeiten auszumalen, dann stehen wieder Zeitreiseparadoxien selbst im Zentrum: Was passiert, wenn man zurückreist und seinen Großvater tötet?"
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Kunst



Unter strenger Geheimhaltung ist die antike Skulptur des Ilissos aus dem British Museum als Leihgabe für eine Ausstellung in der St. Petersburger Eremitage verschifft worden. Gina Thomas findet diese Geste in der FAZ sensationell: Das "Petersburger Museum [verkörpert] die Ideale der Aufklärung, die das gemeinsame europäische Erbe geprägt haben. In diesem Sinne ist auch die Reise des Ilissos zu sehen, zumal vor dem Hintergrund der neuerlichen Spannungen zwischen Moskau und dem Westen."

Keine Reproduktion kann die Wirkung von Sean Scullys Bildern vermitteln, meint Julia Grass in der Berliner Zeitung: "Verstehen kann man das erst, wenn man selbst die Augen zusammenkneifen musste um den Schwindel zu unterdrücken, der einen angesichts der "Backs and Fronts" überkommt - einer riesigen Komposition aus vertikalen und horizontalen Streifen in grellen Farben auf zusammengezimmerten Leinwänden. Auch der Name seiner Serie "Wall of Light" (...) macht erst Sinn, wenn man sie wirklich vor sich sieht. ... Erst dann nimmt man die Pracht der Farben richtig wahr, wird aus Senfgelb ein Kornfeld und aus Rot die Terrakotta-Wand eines Hauses in der Toskana." Alleiniger Wermutstropfen: Zu sehen sind Scullys Bilder derzeit in einer großen Retrospektive im fernen Shanghai.

Weitere Artikel Im Interview mit Sandra Danicke vom art-magazin spricht Gregor Schneider über seine Erfahrungen und Pläne mit dem von ihm gekauften Geburtshaus Goebbels". Philipp Meier gönnt sich in der NZZ einen Abstecher nach Miami zur 12. Art Basel, bewundert Werke von David Hockney, Anselm Kiefer oder Georg Baselitz und zeigt sich insgesamt begeistert.

Besprochen werden ein Bildband über die Wittelsbacher (SZ) und eine Retrospektive des Werkes der aus Italien stammenden Architektin Lina Bo Bardi in der Münchener Pinakothek der Moderne (NZZ).
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