Efeu - Die Kulturrundschau

Das Pathosbehaftete, Apodiktische der Manifeste

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04.11.2014. Die Welt begutachtet das Stadtplaner-Manifest "100 Prozent Stadt" und findet es reichlich selbstgefällig. Die NZZ zieht den Hut vor Mircea Cartarescus psychedelischem Meisterwerk "Die Flügel". Im Standard erklärt die Filmregisseurin Eszter Hajdu: Es gibt kein Romaproblem in Ungarn, sondern ein Neonaziproblem. Der Fotoblogger Eric Kim erklärt, was man von dem großartigen Garry Winogrand lernen kann, dessen Fotos gerade in Paris ausgestellt werden. Die Berliner Zeitung hört beim Jazzfest zwei Hippiemädchen und einen zugewachsenen Zausel phantastische Musik machen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 04.11.2014 finden Sie hier

Architektur

Im Mai 2014 hatte eine Gruppe aus Professoren und Stadtplanern in einer Kölner Erklärung gegen die "armselige" Stadtplanung in Deutschland protestiert, die nach wie vor auf Trabantenstädte außerhalb der eigentlichen Stadtkerne setze, und ein Umdenken gefordert. Dagegen wendet sich jetzt eine andere Gruppe mit dem Manifest "100 Prozent Stadt", die den Städtebau in Deutschland "lebendig, vielfältig und manchmal widersprüchlich" findet und überhaupt nichts ändern will. Dankwart Guratzsch reagiert darauf in der Welt mit Unverständnis: "Denn die städtebaulichen Mängel im wiedervereinigten Deutschland sind ja offenkundig. Dass die Leute scharenweise von den Außenbezirken in die letzten intakten Kieze drängen, wo es eng wird, hat natürlich nicht zuletzt mit einer konfusen Planung zu tun, die von elementaren Wohnbedürfnissen der "Betroffenen" nichts wissen wollte."

Die Entwürfe für die beiden neuen Verlagshäuser, die sich taz und Springer in den nächsten Jahren im ehemaligen Zeitungsviertel in Berlin gönnen, wollen Ulf Meyer von der FAZ nicht recht überzeugen: Man merke ihnen "den Modernisierungsstress der Internetära an, wo in Zeiten sinkender Auflagen die Printpresse nach unverwechselbarer architektonischer Identität sucht ... [Beide] tappen dabei links wie rechts in die uralte Transparenzfalle der Moderne."
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Literatur

In der NZZ zieht Andreas Breitenstein den Hut vor dem rumänischen Autor Mircea Cartarescu, der mit "Die Flügel", dem letzten Band seiner "Orbitor"-Trilogie, ein "überwältigendes psychedelisches Meisterwerk" veröffentlicht hat: "In der trostlosen Zeit der Transformation nach der absurden Ära von Hunger und Angst, Drill und Zwang unter Ceausescus Nationalsozialismus hat der Autor sein "totales Buch" begonnen. Man kann es als Versuch begreifen, jene gigantische innere Leere, die das Scheitern des kommunistischen Experiments hinterließ, demiurgisch mit Sinn zu füllen."

Besprochen werden unter anderem Roland Jahns "Wir Angepassten" (FR), Don Winslows "Missing. New York" (Tagesspiegel), Kenneth Mackenzies 1937 veröffentlichten Roman "Was sie begehren" (Tagesspiegel), Anthony Horowitz" neuer Sherlock-Holmes-Roman "Der Fall Moriarty" (Tagesspiegel), Étienne Bariliers Roman "China am Klavier" (Standard), Yanick Lahens" gerade mit dem "Femina"-Literaturpreis ausgezeichneter Roman "Bain de lune" (Standard) und Jonathan Crowns Roman "Sirius" (Welt).
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Film


"Jugdement in Hungary", Szenenfoto

Im Standard unterhält sich Bert Rebhandl mit der Regisseurin Eszter Hajdú über ihren Film "Judgment in Hungary", der auf der Viennale zu sehen war. Es geht um den Prozess gegen vier des Mordes an Roma angeklagte Männer: "Als ich vor 15 Jahren studierte, waren Roma unter meinen Kollegen. Wir gingen gemeinsam ganz selbstverständlich in Clubs, feierten. Heute wäre das unmöglich, denn der Rassismus betrifft nicht nur die armen, schlecht ausgebildeten Menschen auf dem Land, sondern trifft genauso Ärzte oder Anwälte. Diskriminierung der Roma ist übrigens nicht nur ein Problem in Ungarn. Und es gibt kein Romaproblem, sondern ein Neonaziproblem. Nicht die Roma müssen etwas gegen ihre Diskriminierung tun, sondern die Allgemeinheit."

Weitere Artikel: Detlef Kuhlbrodt (taz) sieht beim Dokumentarfilmfestival in Leipzig nicht nur einen seiner "Fußballkumpel" auf der Leinwand, sondern auch Filme über den Maidan und die Revolution in der Ukraine. Martina Knoben (SZ) war ebenfalls in Leipzig und berichtet von dort, dass sich namhafte Filmemacher wie David Attenborugh und Werner Herzog dafür interessieren, Dokumentarfilme für das Virtual-Reality-System Oculus Rift zu drehen. Susan Vahabzadeh (SZ) plaudert mit Diane Keaton über deren neuen Film "Das grenzt an Liebe". Und Marco Koch bietet im Filmforum Bremen wieder einen Überblick über aktuelle Ereignisse in der deutschen Filmblogosphäre.

Besprochen wird Mike Leighs Künstlerbiografie "Mr Turner" (ZeitOnline) und Christopher Nolans Science-Fiction-Epos "Interstellar" (Welt, FAZ).
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Design

Erstaunlich wenig Manifeste sind Laura Weissmüller (SZ) beim Besuch der zweiten Istanbuler Designbiennale, die unter dem Titel "The Future Is Not What It Used To Be" noch bis Dezember stattfindet, untergekommen: "Offenbar ist die Zeit für neue Ideen und Programme zwar reif, aber der alte Typ Manifest mag nicht mehr recht passen. Zum einen sicherlich, weil sich eine individualisierte Gesellschaft dagegen sperrt, unter schlichten Programmen versammelt zu werden. ... Zum anderen dürfte sich aber auch das Pathosbehaftete, Apodiktische der Manifeste überlebt haben."
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Stichwörter: Designbiennale Istanbul

Bühne


"The Turn of the Screw". Foto: Opernhaus Zürich

Hochzufrieden ist Michelle Ziegler in der NZZ mit einer Zürcher Inszenierung von Benjamin Brittens Oper "The Turn of the Screw". Das liegt auch an Wolfgang Gussmanns Drehbühne, auf der ein Gebäudeteil mit drei Wänden steht: "Innen- und Außenräume gehen ineinander über. Die Einrichtung ist schlicht: weiße Stühle, ein weißes Sofa, ein weißer Flügel, ein weißes Puppenhaus. Da sich die Bühne bald schneller, bald langsamer dreht, wechselt für den Zuschauer die Perspektive beständig. Sein Blick auf das Geschehen verändert sich wie jener des Lesers der Novelle. Mit einfachen Kostümen im Stil der fünfziger Jahre und starkem Lichteinfall (Lichtgestaltung: Franck Evin) ergeben sich immer wieder ungemein starke Bilder, die an Edward Hopper erinnern. In dieser kühlen Umgebung können sich die Figuren nirgends zurückziehen. Wie Puppen sind sie unsichtbaren Kräften ausgesetzt."

Außerdem: Peter Laudenbach erinnert im Tagesspiegel an die Manöver, mit denen Heiner Müller 1989 dem Enthusiasmus über die Wende den Wind aus den Segeln nahm. Künstlerische Differenzen gab es in München, wo es zwischen Hans Neuenfels und Anna Netrebko über die Interpretation der "Manon" knallte: Netrebko sagte jetzt ab, Kristīne Opolais springt für sie ein, meldet Manuel Brug in der Welt.

Besprochen werden Patrick Kinmonths Inszenierung von Detlev Glanerts Adaption von Stanislaw Lems Science-Fiction-Klassiker "Solaris" an der Oper Köln, die Gerhard Rohde von der FAZ trotz guter Leistungen von Dirigent, Schauspielern und Bühnenbild nicht überzeugen konnte: "eine traditionelle Literaturoper, deren Formen sich inzwischen weitgehend erschöpft haben".
Archiv: Bühne

Musik

Als die WDR Big Band samt Sänger Kurt Elling auf dem Jazzfest Berlin säuselige Jazz-Coverversionen von Poprock-Klassikern zum Besten gab, hagelte es so erzürnten Publikumsprotest wie seit den bewegten siebziger Jahren nicht mehr, berichten Christian Broecking in der SZ und Stefan Hentz im Tagesspiegel. Markus Schneider (Berliner Zeitung) wunderte sich unterdessen über Sinn und Zweck einer Fats-Waller-Hommage und staunte umso mehr über Mats Gustaffsons "irrsinniges" Fire!Orchestra, das offenbar sehr manisch in den Archiven der Populärmusik wühlte: "Es knurpselten diverse Keyboards und Analogsynthies, boten zwei Hippiemädchen und ein zugewachsener Zausel abwechselnd wunderbar freie Summer-of-Love-Gesänge und abstrakte Vokalgeräusche, drei Bässe und ein paar Trommler spielten sture, langsame Stonerrock-Mantren oder eintönige Punklinien, eine Pedalsteelgitarre ließ heftige Feedbacks streunen, und zwölf Bläser mischten in verschiedenen Formationen und Tutti Free-Jazz-Sätze und seltsam zärtliche Wogen darüber, darunter und hinein." Dieses Video bietet einen Eindruck von den Livequalitäten:



Weitere Artikel: Die Bandphilosophie von A bis Z des trashigen Hamburger Künstlerkollektivs HGich.T hat für die taz Clara Baum aufgeschrieben. In der SZ bespricht Bernd Graff neue Popveröffentlichungen, darunter das neue Album von Pianos Become the Teeth. Andreas Hartmann (Tagesspiegel) war bei der Geburtstagsparty des Elektro-Duos Mouse on Mars. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung bekundet Ärzte-Schlagzeuger Bela B. seine Vorliebe für Vinyl und Plattenläden. In der SZ bleibt Michael Stallknecht sehr skeptisch gegenüber der These des Dokumentarfilms "Written by Mrs Bach", Anna Magdalena Bach, die Ehefrau von Johann Sebastian Bach, habe einen entscheidenden Anteil an den Kompositionen der Werke ihres Mannes (mehr dazu im New Yorker).

Besprochen werden Rüdiger Eschs Buch "Electri_City" über die Geschichte der elektronischen Musikszene Düsseldorfs (taz) und Bob Dylans "Basement Tapes" (Berliner Zeitung).
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Kunst


Garry Winogrand, New York um 1962. The Garry Winogrand Archive, Center for Creative Photography, The University of Arizona. © The Estate of Garry Winogrand, courtesy Fraenkel Gallery, San Francisco

Im Jeu de Paume in Paris ist derzeit eine großartige Ausstellung des amerikanischen Fotografen Garry Winogrand zu sehen. Gezeigt werden wie aus der Hüfte geschossene Straßenfoto aus dem New York der 50er und 60er Jahre, der amerikanischen Provinz und Kalifornien in den Siebzigern und Achtzigern. Viele der Fotos hatte Winogrand nie abgezogen, nur auf den Kontaktabzügen die besten markiert. Der Fotoblogger Eric Kim überlegte 2012, was man von Winogrands Straßenfotografie lernen könne. Eine Lektion: Schieß schnell, zögere nie und lächle, wenn du fotografierst. "Garry Winogrand arbeitete meist mit einer 28 Millimeter Linse, das heißt, er musste sehr nahe an seine Subjekte heran. Darum war Winogrand nicht wie Henri Cartier-Bresson, der immer versuchte, sich unsichtbar zu machen, er war vielmehr ein aktiver Part der Aktion und tauchte in die Menge ein. (Hier kann man sehen, wie er es machte.) Mason Resnick, der Winogrand oft bei der Arbeit zusah, sagte: "Unglaublich, dass die Leute nicht reagierten, wenn er sie fotografierte. Es überraschte mich, denn Winogrand versuchte nie zu verbergen was er tat. Viele bemerkten es kaum, niemand schien sich zu ärgern. Winogrand war in der Energie seiner Subjekte gefangen und lächelte und nickte den Leuten andauernd zu, während er schoss. Es war, als sei seine Kamera sekundär und sein Hauptziel sei die Kommunikation, der schnelle, aber persönliche Kontakt, während die Leute vorbeigingen.""

Weiteres: Brita Sachs (FAZ) war bei der Präsentation von Erwin Panofskys jahrzehntelang verschollener Habilitation, die Horst Bredekamp als "historiographisches Ereignis ersten Ranges" feierte.

Besprochen werden die Duchamp-Ausstellung im Centre Pompidou ("sehr korrekt ... kuratiert", meint Sophie Jung in der taz), eine Ausstellung mit Werken von Hans Memling in den Scuderie del Quirinale in Rom (NZZ), eine Ausstellung im Salzburg-Museum, die Werke von Wilhelm Leibl und August Sander gegenüberstellt (Standard) und Martin Wimmers Buch über Stadionbauten (NZZ).
Archiv: Kunst