Efeu - Die Kulturrundschau

Vervollkommnung der Finessen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.10.2014. Der Freitag fragt: Hat David Finchers "Gone Girl" eine geschlechtertheoretische These? Die Welt fragt: Was wäre eine schlechte Trecartin-Arbeit? Die NZZ fragt: Ist die neue Musik am Ende? Kino-Zeit fordert eine feministische Filmkritik.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.10.2014 finden Sie hier

Film

Auf kino-zeit.de jubelt Sophie Charlotte Rieger über Emma Watsons feministische Grundsatzrede vor der UN und fordert dringend eine feministische Filmkritik ein: Denn die herkömmlichen Zuweisungen sind im Kino so fest verankert, dass das Publikum darin "keine Konstruktion, sondern Normalität [erblickt]. Und eben hier muss Filmkritik eingreifen, Diskurse offenlegen und hinterfragen. Denn wenn Frauen auf der Leinwand marginalisiert werden, als labiler, weniger zurechnungsfähig, dümmer inszeniert werden, ihnen also nicht der selbe Respekt entgegengebracht wird wie den männlichen Figuren, wie können wir dann erwarten, dass eine Gesellschaft, die mit diesen Erzählungen von Kindheit an gefüttert wird, für die Gleichberechtigung der Geschlechter einsteht?"



David Finchers perfider Beziehungsthriller "Gone Girl" bleibt Thema Nummer Eins in der Filmkritik (siehe auch hier). Elena Meilicke vom Freitag sieht in dem Film, trotz einiger Vorbehalte, "eine nicht uninteressante geschlechtertheoretische These" formuliert, "nämlich [die], dass das Frausein in unserer Kultur, anscheinend mehr und grundlegender als das Mann-sein, mit der Differenz des On und Off als Raum von Performance verbandelt ist. Weiblichkeit als Maskerade, hat eine englische Psychoanalytikerin das mal genannt."

Thomas Groh vom Perlentaucher packt angesichts der Abgründe, die Fincher hier komplex erzählt, die blanke Angst vor verkrallten Liebesbeziehungen: "Die Vorstellung der romantischen Paarbeziehung jedenfalls, wie sie Hollywood in der Regel auch heute noch ans Ende seiner zumindest gängigsten Konkretionen setzt, erfährt eine schöne Verschiebung ins nicht nur sacht Horrible. ... Das perfekte Paar, ganz Hollywood, steht auch hier am Ende der Erzählung. Zu einem Preis allerdings, der schaudern lässt. Zumindest in dieser Hinsicht handelt es sich bei "Gone Girl" um Finchers großen Anti-Hollywood-Film." Für Peter Uehling von der Berliner Zeitung offenbart sich in dem Film "eine Faulstelle (...) im Innersten des amerikanischen Staats und Traums". Weitere Kritiken in der Welt und bei critic.de.

Weitere Artikel: In der taz begeistert sich ein glückseliger Ekkehard Knörer für den auf DVD veröffentlichten Film "Hans Dampf" von Christian Mrasek und Jukka Schmidt (hier unsere Kritik), dem die Filmförderanstalten kein Geld mit auf den Weg geben wollten: "Siehste mal. Die haben wirklich keine Ahnung. Ist nämlich ganz wunderbar geworden." Auf ZeitOnline wehrt sich Regisseur Christoph Höhl im Gespräch mit Jan Freitag gegen die Vorwürfe, sein Film "Die Auserwählten" (besprochen im Freitag und in der NZZ) über die Missbrauchsverbrechen an der Odenwaldschule verletzte die Persönlichkeitsrechte einiger Opfer. David Steinitz war für die Print-SZ beim Filmfestival in San Sebastián, wo ihm insbesondere das spanische Kino imponierte. Online berichtet sein Kollege Paul Katzenberger.

Besprochen werden der Science-Fiction-Film "Hüter der Erinnerung" (taz, Welt, SZ), Annekatrin Hendels Dokumentarfilm "Anderson" (taz), Faris Eslams und Oliver Waldhauers "Istanbul United" (Freitag), Chloe Hoopers "Die Verlobung" (FR), Karim Aïnouz" "Praia do Futuro" (ZeitOnline, SZ), Gary Shores Spielfilmdebüt "Dracula Untold" (Welt), Amos Gitais Film "Ana Arabia" (NZZ) und Alice Rohrwachers "Land der Wunder" (FAZ).
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Bühne


Quai Ouest, Foto: Alain Kaiser

"Ist die Neue Musik am Ende?", fragt vollkommen ratlos NZZ-Kritiker Peter Hagmann nach der Uraufführung von Régis Campos Oper "Quai Ouest" an der Opéra du Rhin in Straßburg: "Gibt es für eine klingende Kunst, die Ansprüche an ihre Faktur stellt und immer wieder in unbekannte Gefilde vorstößt, keine Perspektive mehr? ... Die scharfen Dissonanzen, die gezackten Verläufe der Singstimmen, die Fokussierung auf den Tritonus, auf das "Teufelsintervall" der übermäßigen Quart - solche Signaturen der Avantgarde scheinen verbraucht und nur mehr begrenzt verwendbar. Erst recht gilt das für Konsonanz und Kadenz als Verkörperungen der Tonalität - die zwar ein gewisses Daseinsrecht zurückerlangt hat, aber eigentlich nur noch als Kontrastfolie erscheinen kann. Wie nun aber neue Oper komponieren?"

Wir wissen nicht, das der junge Mann empfiehlt, aber Régis Campo macht eigentlich ziemlich witzige Musik:



Weitere Artikel: Der Freitag bringt eine Übersetzung von Laura Bartons Porträt des US-Dramatikers, Schriftstellers und Schauspielers Sam Shepard aus dem Guardian: "Ähnlich wie Clint Eastwood ist Sam Shepard tief mit der Mythologie und der großen Erzählung des US-amerikanischen Westens verbunden."

Besprochen werden Robert Borgmanns "Richard III."-Inszenierung in Stuttgart ("Ärgerlich, so ein Theater", findet Christine Dössel in der SZ) und Herbert Fritschs Inszenierung der Urfassung des Musicals "Feuerwerk" in Zürich (Welt).
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Literatur

Wolf Lepenies hat für die Welt Atlantisz gefunden: Es ist ein Verlag und sitzt in Budapest! Der Perlentaucher bringt einen Auszug aus Szilárd Borbélys phantastischem Roman "Die Mittellosen" (erscheint am Montag).

Besprochen werden Eva Horns "Zukunft als Katastrophe" (Freitag), Durs Grünbeins Gedichtband "Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond" (SZ) und Jörg Albrechts "Anarchie in Ruhrstadt" (FAZ).
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Musik

Maurice Summen rekapituliert in der taz nicht nur die irrwitzige Berg-und-Talfahrt, die der notorisch impulsive Prince in den vergangenen 25 Jahren in der vielleicht wechselhaftesten Karriere der Popmusikgeschichte hingelegt hat, sondern er hat sich gleich auch noch die beiden neuen Alben des Musikers angehört. Mit "Plectrumelektrum" hat er es nicht so, doch bei "Art Official Age" geht ihm spürbar das Herz auf: "Die Musik tönt wie Lady Gaga auf dem Rummelplatz und nimmt bollerig mit breit gedrückten Synthesizern die Borderline-Fäden der Zeit auf. Aber bei Prince klingt das alles nur wie kindisches Spiel! Auf die falsche Fährte gelockt, geraten wir durch einen geschickten Break wie durch ein Wurmloch hindurch in seinen unerschöpflichen, feingeistigen Klangkosmos."

Weitere Artikel: Im Freitag ärgert sich Jörg Augsburg, dass sich mit U2 gerade die demonstrativsten Globalisierungskritiker unter den Popstars an den global perfide handelnden Apple-Konzern für eine Allianz herangeschmissen haben. Für den Freitag resümiert Michael Jäger das Musikfest Berlin. In der SZ spricht Wolfgang Schreiber mit Daniel Barenboim, der erstmals Puccini dirigiert. Jonathan Fischer porträtiert für die SZ den britischen Popstar Sami Yusuf, dessen Songs über die Liebe zu Allah sich in den muslimisch geprägten Communities der westlichen Metropolen rasend gut verkauft.

Besprochen werden ein Konzert des Ensemble Modern unter Martin Grubinger (FR), eine CD mit Operetten-Arien, gesungen von Jonas Kaufmann (Welt), das neue Album von Alt-J (taz) und das neue Album "Taiga" von Zola Jesus (ZeitOnline).
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Kunst



In der Welt wünschte sich Kolja Reichert eine etwas differenziertere Diskussion über die Ausstellung des amerikanischen Künstlers Ryan Trecartin in den Berliner Kunst-Werken. Dessen 3D-Filme haben eine ganz neue Bewegung eingeleitet, so Reichert: "Eine Kunst, die auf Augenhöhe mit Trash-TV und Internet operiert und deren Folgen für Identität und Gemeinschaft, für Bild und Kunst behandelt. Eine Kunst, für die sich über die letzten zwei Jahre der Begriff "Post Internet Art" etabliert hat." Doch ist für Reichert "die Bandbreite der Reaktionen auf Trecartins und Fitchs Arbeit bisher bedenklich eintönig: blinde Begeisterung oder ratlose Ablehnung. Noch fehlen der Kritik die Kategorien. Was wäre eine schlechte Trecartin-Arbeit? Macht es einen Unterschied, ob ein Film fünf Minuten länger oder kürzer ist?" (Video oben: Trecartins Film "A Family Finds Entertainment" von 2004)


Ron Mueck, Untitled (Man in a sheet), 1997

Christian Thomas (FR) staunt beim Besuch der Ausstellung "Die große Illusion" im Frankfurter Liebieghaus über die Detailversessenheit und Meisterschaft der großen Skulpturenmeister und deren täuschend echt wirkender Werke: "Die hyperrealistische Skulptur hat ihre Heldengeschichte. Sie zeigt die Kulturgeschichte der "Großen Illusion" als eine Geschichte der Vervollkommnung der Finessen. ... Atemberaubend dieser Realismus, aber auch beklemmend, wie vieles, wo es um fleischfarbene, haarfeine Mimesis geht, bis in die Nasenlöcher, um eine nicht allein unangenehm porentiefe, sondern erschreckend anatomische."

In einer sehr schönen Besprechung der Courbet-Ausstellung in der Fondation Beyeler beschreibt Maria Becker in der NZZ die Landschaftsbilder Courbets als erste Vorboten der abstrakten Malerei: "Die Substanz der Farbe wird bei Courbets Landschaften als Material benutzt, aus dem sich der Gegenstand konstituiert. Er verbrauchte sie kiloweise, spachtelte mit dem Palettmesser und mit Bürsten auf die Leinwand, oft in mehreren Lagen, die das Darunter und das Darüber sichtbar belassen. Fels, Schnee, Laub und Wasser sind als taktile Massen zur Erscheinung gebracht. Die Malerei fungiert als analoges Medium zur natürlichen Substanz."

Weitere Besprechungen: In der Berliner Zeitung lässt sich Nikolaus Bernau von David Chipperfields in der Neuen Nationalgalerie in Berlin errichtetem Kiefernwald verrätseln. In der FAZ rät Tilman Spreckelsen dazu, die finnische Malerin Helene Schjerfbeck in der Schirn zu entdecken: Diese Ausstellung ist "schon jetzt ein Höhepunkt des finnischen Gastlandauftritts im Rahmen der bevorstehenden Buchmesse". Gottfried Knapp schreibt in der SZ den Nachruf auf den Architekten Peter C. von Seidlein.
Archiv: Kunst