Efeu - Die Kulturrundschau

Das Potenzial des Nebensächlichen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.09.2014. In der Welt beschreibt Martin Walser, wie ihm die Lektüre des jiddischen Schriftstellers Sholem Yankev Abramovitsh die Augen für die Wirklichkeit jüdischen Lebens geöffnet hat. Bibiana Beglau ist die rechtmäßige Schauspielerin des Jahres, stellt die Nachtkritik fest. Die Berliner Zeitung erliegt dem unbehaglichen Gesamtklang von Aphex Twins neuem Album "Syro". Und es gibt jede Menge Glückwünsche für Sophia Loren und Leonard Cohen, die an diesem Wochenende achtzig werden.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.09.2014 finden Sie hier

Bühne

Mit Martin Kušejs Inszenierung von Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" beginnt am Residenztheater München die neue Spielzeit. Petra Hallmayer von Nachtkritik erlebte dabei zwar keinen "großen Theaterabend", doch findet sie zahlreiche schlagende Belege dafür, dass die Kritiker von Theater Heute mit ihrer Entscheidung, Bibiana Beglau zur "Schauspielerin des Jahres" zu küren, absolut richtig lagen: "Sie faucht giftig, brüllt und keift lustvoll ordinär als tyrannische Verführerin und ewige Vatertochter Martha, deren Sehnsüchte und deren Kinderwunsch unerfüllt blieben, senkt im nächsten Augenblick die Stimme mit würgender Traurigkeit. Sie buhlt tief verletzend und verletzt um ihren Mann, sackt nach ihrem misslungenen Akt mit Nick in sich zusammen zur Elendsgestalt, richtet sich abrupt wieder herrisch auf, um auf diesem herumzutrampeln." Weitere Besprechungen in SZ und FAZ. (Bild: Bibiana Beglau (c) Andreas Pohlmann.)

Weiteres: Die hiesigen Bühnen zeigen "den Kampf um das glücklichste Dasein, die schönsten Körper, die besten Plätze an der Sonne - und auch um das längste Leben", stellt Zeit-Theaterkritiker Peter Kümmel beim Blättern in den aktuellen Spielplänen fest. Die NZZ druckt die Abschiedsrede, die Johanna Wokalek am 4. September im Wiener Burgtheater für dessen im Juli verstorbenes Ehrenmitglied Gert Voss gehalten hat. In der Welt berichtet Thomas Hahn ziemlich hingerissen von der in Paris aufgeführten konzertanten szenischen Aufführung von Jacques Demys Musical "Les Parapluies de Cherbourg" (mit einem Hintergrund von Sempé!), und Kai Luehrs-Kaiser geht mit der Mezzospranistin Elīna Garanča in Berlin-Mitte Spanferkel essen. Besprochen wird eine von René Jacobs dirigierte Aufführung von Mozarts "Entführung aus dem Serail" in Kempten (SZ).
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Film


Sehr ambivalent bespricht Cristina Nord in der taz Christian Petzolds neuen Film "Phoenix", der kommende Woche in die Kinos kommt: "In seiner Konstruktion ist "Phoenix" ein beeindruckend kluger Film, dem man zudem hoch anrechnen muss, dass er einen harten, die Deutschen nicht schonenden Blick auf den Nationalsozialismus wirft. Anders als so viele Geschichtsmovies der letzten Jahre sucht Petzold nicht nach irgendwie anständig gebliebenen deutschen Figuren... Wenn "Phoenix" aller Klugheit zum Trotz ein gewisses Unbehagen auslöst, dann liegt dies in dem Kontrast begründet, der sich zwischen der künstlichen Anordnung und der Kontrolliertheit des Films ergibt... Es ist, als lähmte das Bedürfnis, alles richtig zu machen, den Film." Für kritiken.de hat sich Peter Osteried mit dem Regisseur unterhalten.

Weitere Artikel: Der russische Filmregisseur Juri Kara hat für die Dauer der westlichen Sanktionen einen Boykott von Hollywood-Produktionen angeregt, meldet hgr in der Welt. Für kino-zeit.de wirft Kirsten Kieiniger eine ersten Blick vorab auf das 14. Dokumentarfilmfestival "Flahertiana" in Perm. Im Tagesspiegel gratuliert Christian Schröder, in der Welt Barbara Möller und in der FAZ Dieter Bartetzko Sophia Loren zum 80. Geburtstag (ZeitOnline bringt eine Bilderstrecke). Besprochen wird Gustav Deutschs Experimentalfilm "Shirley - Visionen der Realität" (FR, critic.de, unsere Besprechung hier).
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Kunst

"Welcher Reichtum", staunt Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung über die von Mariana Castillo Deball als Konzeptkunst kuratierte Ausstellung "Parergon", für die sie selten zugängliche Schätze aus Berliner Archiven im Hamburger Bahnhof zusammengesucht und deren Geschichten recherchiert hat. "So entsteht quasi ein Bühnenbild, vor dem nun die musealen Dinge (...), aber auch banale Dinge wie eine alte Bahnsteigbank oder ein bei einem Unfall verbogener Tenderrad-Satz aus dem Technikmuseum, "ihre Biografie" erzählen, wie Deball es ausdrückt. ... Mit all den schönen, kuriosen oder rätselhaften Dingen, diesen Zeugen vergangener Zeiten, choreografiert Deball in der imposanten Bahnhofshalle ein so ausladendes wie im Einzelnen zugleich minimalistisches "Bühnenstück" - über das Potenzial des Nebensächlichen."


(Bild: Installationsansicht Hamburger Bahnhof ; Foto (c) Thomas Bruns.)

Weitere Artikel: In der SZ schreibt Kito Nedo, im Freitag Stefan Heidenreich über die wirtschaftlichen Hintergründe der Berlin Art Week und die Situation der Galerien in der Stadt. Annegret Erhard berichtet in der NZZ von der ersten Ausgabe der Art International in Istanbul. Im Tagesspiegel führt Birgit Rieger über die Art Berlin Contemporary. Frederik Hanssen vom Tagesspiegel erfreut sich an den kunstvollen Mosaiken in der Villa del Casale auf Sizilien. Konstanze Crüwell besucht für die FAZ das wiedereröffnete Hessische Landesmuseum.
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Literatur

In der Literarischen Welt abgedruckt ist die Rede Martin Walsers, der vor wenigen Tagen in Boblingen den großen jiddischen Schriftsteller Sholem Yankev Abramovitsh würdigte: "Ich merke, wenn ich jetzt Abramovitsh lese, dass mich das ungeeignet macht für alles, was ich jetzt tun oder sein müsste. Ich erlebe ein Nicht-mehr-infrage-Kommen für das sogenannte Hier und Heute. Eine vollkommene Eingenommenheit. Von ihm. Ich kann nichts dagegen tun, in mir dominiert die Mitteilung, dass wir dieses Volk umbringen wollten und zu Millionen umgebracht haben. Und dieses Volk ist mir jetzt, erst jetzt, wirklich bekannt geworden. Durch Abramovitsh."

Weitere Artikel: Andreas Kilb berichtet für die FAZ vom Berliner Literaturfestival, wo er unter anderem Lesungen von Brian Brett und der syrischen Schriftstellerin Samar Yazbeb, mit der sich Verena Mayer für ein Porträt in der SZ getroffen hat, besuchte. Ulrike Baureithel notiert im Tagesspiegel die Äußerungen diverser Schriftsteller zum Festival-Schwerpunktthema "Kulturen des Vertrauens". Im Tagesspiegel schreibt die Schriftstellerin Paola Soriga über die alltäglichen Belastungen des italienischen Prekariats. In der Literarischen Welt unterhält sich Holger Heimann mit der finnischen Starautorin Sofi Oksanen über Russland. In der NZZ entwirft Aldo Keel ein Stimmungsbild der finnischen Literatur vor der Frankfurter Buchmesse.

Besprochen werden eine Ausstellung über Goethe, Marianne und den "West-östlichen Divan" im Goethehaus in Frankfurt (FR), Jochen Schimmangs Essayband "Grenzen Ränder Niemandsländer" (Tagesspiegel), Scholastique Mukasongas "Die Heilige Jungfrau vom Nil" (taz), Ulla-Lena Lundbergs "Eis" (taz), Thomas Melles "3000 Euro" (taz), Michael Pollans "Kochen. Eine Kulturgeschichte der Transformation" (Welt), Richard Overys Geschichte des Bombenkriegs (Welt), Seths Comic "Vom Glanz der alten Tage" (Tagesspiegel) sowie David Wagners und Jochen Schmidts "Drüben und drüben" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Auch Jens Balzer von der Berliner Zeitung, berüchtigter Freund musikalischer Drastik, ist äußerst angetan von "Syro", Aphex Twins erstem regulären neuen Album seit 13 Jahren: "Hektisches Herumgebolze wird in kuschelweiche Basspolster gebettet, Blubber- und Stolpergeräusche verbinden sich in physikalisch unmöglicher Art; zwischendurch hört man gequälte Zombies urksen, ächzen und kreischen. All das erzeugt (...) einen äußerst unbehaglichen Gesamtklang. ... [Doch] der Irrsinn, den diese Musik verströmt, ist vollständig entsubjektiviert." Für Pitchfork hat sich Philip Sherburne in aller Ausführlichkeit mit dem Klanghexer unterhalten. Mehr zu "Syro" hier in unserer Kulturrundschau vom 17. September.

Weitere Artikel: Am Versuch von Alt-J, mit ihrem neuen Album sexy zu klingen, hat Daniel Gerhardt von Zeit Online trotz ansonsten passabler Leistungen wenig Freude. Philipp Krohn schreibt in der FAZ über den Songwriter Billy Bragg, der Häftlingen das Gitarrenspiel näherbringt. In der SZ schreibt Oliver Hochkeppel, in der NZZ Ueli Bernays den Nachruf auf den Jazzmusiker Kenny Wheeler. Und alle gratulieren Leonard Cohen zum 80. Geburtstag: Sabine Vogel in der Berliner Zeitung, eine ganze Reihe Autoren und Autorinnen in der taz, Arne Willander in der Welt, Sylvia Staude in der FR, Kurt Kister in der SZ und Rose-Maria Gropp in der FAZ.

Besprochen werden ein Auftritt von Laibach in Norwegen (The Quietus), das neue, mit einem Gastauftritt von Lady Gaga versehene Album von Tony Bennett (SZ), das neue Album von Esben and the Witch (Spex) und ein Tributalbum an J.J. Cale (FR).
Archiv: Musik

Design


BC architects, Library of Muyinga, Burundi. Photo © BC architects and studies

Domus stellt die erste Bücherei in Muyinga (Burundi) vor. Erbaut wurde sie vom Brüsseler Büro BC architects, das sich einige Mühe gab, den Bau der einheimischen Architektur anzupassen und auch den kleinsten Lesern echten Lesekomfort zu anzubieten: "Die doppelte Raumhöhe zur Straßenseite hin bot die Möglichkeit, einen speziellen Ort für Kinder zu schaffen. Ihr Raum besteht aus einer hölzernen Sitzecke auf dem Boden, die gemütliches Lesen für die Schule erleichtert. Darüber schwebt wie ein Hochpaterre eine riesige Hängematte aus Sisal, in der die Kinder mit ihren Büchern träumen können."
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