Efeu - Die Kulturrundschau

Ästhetische Zeremonie

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.08.2014. In der Welt wünschen sich Autorinnen eine neue Rolle der Frau im Literaturbetrieb. Joshua Oppenheimers "The Look of Silence" hat die Feuilletons in Venedig zutiefst verstört. Der Tagesspiegel findet bei Ulrich Seidl "Im Keller" nur Freaks. Außerdem huldigt er Robert Wilson. Und die NZZ schwelgt in Erinnerungen an die traurig-schöne Freundschaft zwischen Rainer Maria Rilke und Alice Bailly.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.08.2014 finden Sie hier

Literatur

In der Welt vom 21. August ärgerte sich Marlene Streeruwitz über Populismus, antidemokratisches Marketing und fehlende Geschlechterdifferenz bei der Vergabe des Deutschen Buchpreises. Kathrin Schmidt, selbst Buchpreis-Trägerin kann in der Welt allen Punkten zustimmen, gibt aber zu bedenken, dass "Radikalfeminismus", etwa eine "Longlist-Quote", nicht weiterhelfen: "Ich bin weder gutaussehend noch fotogen, zu dick, habe zu viele Kinder, bin maulfaul, smalltalkunfähig, nicht partytauglich. Und ich fühle mich wohl damit. Vielleicht ist das ebenso eine Art des Aufstandes, der Rebellion wie mein Fazit: Der Deutsche Buchpreis ist ungefähr so wichtig wie der abgerissene Kunststoffnippel am Stromeingang meines Schlichthandys? Da möchte ich mich nicht festlegen."

Ebenfalls in der Welt unterhält sich Wieland Freund mit der Autorin Meg Wolitzer über die Position der Frau im Literaturbetrieb, die sie mit einer Anekdote beschreibt: Sie "ist auf einer Party, ein Gast spricht sie an, und als er erfährt, dass sie Schriftstellerin ist, fragt er, ob er vielleicht schon von ihr gehört haben könne und was für Romane sie denn überhaupt schreibe? "Zeitgenössische", hat Meg Wolitzer damals geantwortet, "manchmal erzählen sie von Ehepaaren. Familien. Sex." Worauf ihr Gesprächspartner seine Frau herbeirief, die "solche Bücher" lese. Könnte ich vielleicht schon von Ihnen gehört haben? Viele Autorinnen, hat Meg Wolitzer gesagt, seien versucht zu entgegen: "Ja, in einer gerechten Welt.""

Weiteres: In der Sommer-Reihe der FAZ empfiehlt Andreas Bernard Adalbert Stifters auf 700 Seiten notorisch handlungsarmen Roman "Der Nachsommer": Dieser löst "das Versprechen der Literatur, in eine andere Welt einzutauchen, stärker ein als vielleicht jedes andere Buch." Zum 50. Todestag erinnern Hannes Höfer und Joseph Wälzholz an den Schriftsteller Werner Bergengruen, der heute vollkommen in Vergessenheit geraten ist, mit seinem Roman "Titulus" aber als Vater der Pop-Literatur gelten kann.

Besprochen werden Wolf Haas" neuer Brenner-Krimi "Brennerova!" (taz, SZ), Nino Haratischwilis "Das achte Leben (Für Brilka)" (SZ), André Acimans "Mein Sommer mit Kalaschnikow" (Zeit), Bodo Kirchhoffs "Verlangen und Melancholie" (FR) und eine Druckausgabe von Matthew Inmans Webcomic "The Oatmeal" (Tagesspiegel).
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Kunst





Rudolf Koella betrachtet in der NZZ eingehend ein kubistisches Rosenstillleben der Genfer Avantgarde-Künstlerin Alice Bailly und erkennt darin, wie eng Bailly mit dem Dichter Rainer Maria Rilke bis zu seinem Tod im Jahre 1926 verbunden war. Eine tiefe und inspirierende Freundschaft verband die beiden, oft traf man sich im Rosengarten von Rilkes letztem Wohnsitz Schloss Muzot, Rilkes 24-teiliger Gedichtzyklus "Les Roses" entstand hier ebenso wie Baillys Rosenbilder, informiert Koella: "Eine spät erblühte Rose stellt auch Baillys 1924 entstandenes Bild "La dernière rose" dar, das, wie man aus ihrem Werkverzeichnis erfährt, im November jenes Jahres gemalt wurde - also nur kurz nachdem Rilke die Malerin in Lausanne aufgesucht hatte. Ob sie zu diesem Zeitpunkt wohl bereits ahnte, dass dies die letzte Begegnung mit dem schwerkranken Freund bleiben sollte? Hat sie das Bild wohl in eben diesem Bewusstsein gemalt, oder war es vielleicht sogar als ein letztes Geschenk an den verehrten Dichter gedacht?" (Bild: Alice Bailly: "La dernière rose", 1924. Quelle: SIK-ISEA, NZZ)

Für die FAZ besucht Lea Beiermann den neuen Frankfurter Komplex Gateway Gardens, der auf ökologisch verantwortliche Weise Arbeit und Lebensalltag miteinander zu verbinden versucht. In der SZ schreibt Gottfried Knapp den Nachruf auf den Maler Helmut Rieger.
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Musik

Nachdem Christian Werthschulte in der gestrigen taz angesichts der Blumfeld-Reunion ein doch eher langes Gesicht machte, melden sich nun auch die positiven Stimmen zu Wort: Jan Wiele von der FAZ ist sehr gerührt ob der "Nostalgie des Schmerzes", die hier auf der Bühne stattfindet, und Eckhart Nickel von der SZ wünscht sich vor lauter Begeisterung "einfach so" ein neues Blumfeld-Album. Im Tagesspiegel porträtieren Atila Altun und Maik Werther die nigerianische, in Berlin arbeitende Musikerin Asa.

Die NZZ widmet Gustav Mahler gleich zwei Artikel: Thomas Meyer spricht mit dem Mahler-Biografen Henry-Louis de La Grange über Mahlers späte Anerkennung und die Freundschaft zu Alma Mahler. Jens Malte Fischer schreibt über ein Mahler-Konzert in Amsterdam im Oktober 1939, bei dem eine Zwischenruferin das deutsche Nazi-Regime anklagte.

Besprochen werden Hans Zenders Buch "Waches Hören - Über Musik" (SZ), das neue Album der Sterne (Zeit) und ein von Bernhard Haitink dirigierter Schumann-Abend in Luzern (FAZ).
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Bühne

In Weimar wurde die Goethe-Medaille an Robert Wilson vergeben. Für den Tagesspiegel berichtet Rüdiger Schaper von der Verleihung. Außerdem dokumentiert die Zeitung Thomas Obereders Laudatio auf den Theaterautor, für dessen Werk er den Begriff der "ästhetischen Zeremonie" stark macht. "Robert Wilsons Zeremonielles schafft eine Welt ästhetischer Autonomie. Hier wird nichts nachgebildet oder verfremdet - was wir sehen, ist das Fremde, eine immer spezifisch andere Welt im Sinne der Goethe"schen "Weltliteratur". Wilson fasst in ihr die Menschen nicht an, die da spielen. Er zeigt sie als Typen, als Traumwesen, als purifizierte Erscheinungen, und er sieht viele von ihnen mit viel Humor."

Im Standard
trifft Andrea Schurian Helga Rabl-Stadler, Präsidentin der Salzburger Festspiele und Alexander Pereira zum letzten gemeinsamen Gespräch über Scheitern, Zukunft und gegenseitige Achtung. Pereira: "Es ist ja nicht so, dass wir uns persönlich hassen. Wir hatten Differenzen sachlicher Natur, wo ich das Gefühl hatte, nicht verstanden zu werden, und Helga, ich sei größenwahnsinnig."

Stefan Grund porträtiert in der Welt den jungen Intendanten Markus Müller, der vom Staatstheater Oldenburg ans Staatstheater Mainz wechselt und sich die Rettung der Stadttheater zur Aufgabe macht.

Besprochen werden Katie Mitchells in Berlin an der Schaubühne aufgeführtes Stück "The Forbidden Zone", das zuvor bereits in Salzburg zu sehen war (Berliner Zeitung), und Lemi Ponifasios bei der Ruhrtriennale aufgeführte Choreografie "I am" (Nachtkritik).
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Film

Die Kritikerinnen und Kritiker verteilen sich großzügig auf das Programm der Filmfestspiele in Venedig. Joshua Oppenheimers Dokumentarfilm "The Look of Silence" über die Massaker an den Kommunisten im Indonesien der 60er Jahre (mehr) geht den meisten sehr nahe: Anke Westphal von der Berliner Zeitung bescheinigt dem Film, "ein Monument schwierigster Arbeit an der Vergangenheit wie an der Gegenwart [zu sein], dabei von würdiger ästhetischer Form, weil er den in diesen Verhältnissen selbstredend gefährdeten Frager nicht einfach mitfühlend begleitet, sondern zutiefst verbunden in einer Wahlgemeinschaft."

Cristina Nord macht in der taz leisen Zweifel geltend: "Spricht "The Look of Silence" zu drastisch von der Brutalität? Verschreibt sich der Film möglicherweise so sehr der "Atrocity Exhibition", dass er den Reflexionsprozess, nach dem er verlangt, zugleich torpediert?" Trotz aller Bewunderung für den Film zielt Sophie Charlotte Rieger auf filmosophie.com in eine ähnliche Richtung: "Wir sind schockiert von so viel Unmenschlichkeit, von so viel Schmerz auf Seiten der Betroffenen, von so viel blindem Gehorsam, Verdrängung und Irrsinn der Täter. Doch liegt in dieser Darstellung nicht auch ein Funken Elendsvoyeurismus?"

Christiane Peitz vom Tagesspiegel hat sich Ulrich Seidls Dokumentarfilm "Im Keller" angesehen, für den der berüchtigte Regisseur nach dem Fall Fritzl einen Blick in österreichische Keller geworfen hat. Doch die Kritikerin hat dabei ihre Vorbehalte: "Welchen Erkenntnisgewinn bringt es, neben dem Nazi im Hitler- und Hakenkreuz-Devotionalienkeller etwa eine Prostituierte im winzigen Käfig eingepfercht zu sehen. Alles Freaks oder wie? Seidls Horrorfilm haftet etwas Berechnendes an."

Für die SZ hat Susan Vahabzadeh am Lido unter anderem die Filme "99 Homes" und "Anime Nere" gesehen. Ihr SZ-Kollege Tobias Kniebe porträtiert Drehbuchautor Mardik Martin, der das Script für Fatih Akins im Wettbewerb gezeigten "The Cut" geschrieben hat. In seiner Venedigkolumne für die FAZ möchte Dietmar Dath Kim Ki-Duk am Ärmel ziehen, bevor dieser in einem Shampoo-Werbeclip landet, nur um nach einigen sich anschließenden Lektionen in Sachen Filmmusik im Nieselregen zum Hotel zu begeben, während in einer Pizzeria David Bowie Breitwand-Sozialrealismus heraufbeschwört.

Außerdem: In der Jungle World berichtet Krsto Lazarević vom Filmfestival in Sarajewo. Der Filmhochschule der Stadt steht mittlerweile Béla Tarr vor, mit dem sich Claudia Lenssen für die taz unterhalten hat. Außerdem bringt die FAZ die Übersetzung von John le Carrés ursprünglich in der New York Times erschienenen Erinnerungen an Philip Seymour Hoffman.
Archiv: Film