Efeu - Die Kulturrundschau

Teilweise altvaterisch und beflissen

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29.08.2014. Die österreichischen Feuilletons hoffen nach Alexander Pereiras Abschied auf frischen Wind bei den Salzburger Festspielen. Die art lernt von dem kambodschanischen Künstler Bou Meng, wie Kunst leben retten kann. Das Zeit Magazin plaudert lieber mit Mary Bauermeister über eine Ehe zu dritt. Dominik Grafs "Geliebten Schwestern" fehlen Nazis und Kommunisten für einen Oscar, befürchtet die Welt. Und die FR lernt von Goethe Toleranz und Völkerverständigung.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.08.2014 finden Sie hier

Bühne

In Zürich wurde Milo Raus "The Civil Wars" uraufgeführt, ein Stück in vier Akten, die unabhängig voneinander die Haltbarkeit des zivilisatorischen Anstrichs unserer Gesellschaft untersuchen. Volle Zustimmung von Christoph Fellman in der Nachtkritik: "Oft gleicht das Stück einer Sitzung, oder einer Séance. Und das ist nun packend und großartig, wie darin die Gespenster umgehen: vage Schemen von Kriegen, in die der Kontinent verwickelt war und ist. Die Brutalität des Kapitalimus, die den Familienbetrieb der Foucaults auslöscht. Die letzten Ausläufer des Migrationsdramas, die sich in den Quartieren und Kinderzimmern der französischen oder belgischen Vorstädte nochmals zur Katastrophe aufbäumen. Die Bewegtheit der Elterngeneration, der Achtundsechziger, die in einem Citroën am Baum zerschellte, die im Sumpf der Depression endete, oder die sich als Scharade herausstellte, schieres Theater von Mitläufern."

Und: "Entstanden ist ein schauspielerisches Feuerwerk, das die Conditio Humana im heutigen Europa beleuchtet", lobt Tim Neshitov "Civil Wars" in der SZ, "auch wenn Milo Rau diesmal an den gnadenlosen Ansprüchen scheitert, die er an seine Kunst stellt."

In der Presse hofft Barbara Petzsch bei den Salzburger Festspielen auf ein kurzes Gastspiel von Pereira-Nachfolger Sven-Eric Bechtolf und wünscht sich Innovation und neue szenische Fantasien für die Salzburger Festspiele: "Dazu muss man sich nur die Ruhr-Triennale, das Festival in Avignon oder auch den ImPulsTanz in Wien anschauen. Die multimediale, multikulturelle Performance, das Experiment mit und in neuen Räumen ist die Zukunft. Salzburgs Ästhetik ist teilweise zu altvaterisch und beflissen. Wer dem Publikum immer nachrennt, sieht nur dessen Hinterteil, so Festspielgründer Reinhardt."

Das Maxim-Gorki-Theater wurde im ersten Jahr der Intendanz von Shermin Langhoff zum "Theater des Jahres" gewählt: In der Berliner Zeitung gratuliert Ulrich Seidler sanft angespitzt.

Besprochen werden Alexandra Bachzetsis" beim Berliner "Tanz im August" gezeigte Yoga-Performance "Stages of Staging" (Tagesspiegel) und eine konzertante Aufführung von Donizettis "La Favorite" in Salzburg (FAZ).
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Kunst





Im Spätsommer denkt SZ-Kunstkritikerin Kia Vahland über Kunstgenuss und Landschaft nach. Die klassischen Landschaftsmaler sieht sie dabei gegenüber den heutigen Künstlern historisch im Vorteil: Letztere "stehen ratlos vor den widersprüchlichen Erwartungen des Publikums. Die (...) Kunst soll moralisch und selbstvergessen sein in einer Zeit, die selbst nur an Geld und Effizienz glaubt. ... Ein Leonardo, sogar noch ein Ludwig Richter, hatte es leichter: Er konnte den Geschmack der eigenen und künftiger Jahre prägen, anstatt die gesellschaftlichen Verhältnisse zugleich anprangern und verklären zu müssen." (Bild: Luwig Richter: "Abendandacht im Walde")

Manuel Meier spricht im art-magazin mit dem kambodschanischen Künstler Bou Meng, der die Herrschaft der Roten Khmer nur dank seiner Kunst überlebte: ""Die Kunst rettete mich. Die Roten Khmer ließen mich nur leben, weil ich Porträts von Pol Pot, Mao und Lenin malen konnte", erklärt der Künstler beim Besuch des ehemaligen Foltergefängnisses, dem heutigen Tuol-Sleng-Genozid-Museum. "Wenn die Bilder nicht lebensecht sind, stirbst Du", warnten sie ihn immer wieder."

Im Zeitmagazin spricht Anna Kemper mit der Künstlerin Mary Bauermeister über die Kunst und ihre Ehe zu dritt und mit dem Komponisten Karlheinz Stockhausen und den Wunsch, eine neue Gesellschaft aufzubauen: "Mir kam diese Diskrepanz zwischen der Vorstellung, wie man zu leben hat, und dem, wie die meisten wirklich lebten, heuchlerisch vor. Ich sah Ehen auseinanderbrechen. Die Nachkriegszeit, als die Frauen mit den amerikanischen Soldaten ausgingen, weil sie ein paar Zigaretten kriegten, während der Mann noch in Gefangenschaft war (...)"

Besprochen wird die Ausstellung "Mission: Postmoderne - Heinrich Klotz und die Wunderkammer DAM" im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt (FAZ).
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Musik

Sehr ernüchtert kommt Christian Werthschulte vom ersten Konzert der Blumfeld-Reunion-Tour zurück. Das Material ist schlecht gealtert, bedauert der taz-Kritiker: "So wird das Comeback von Blumfeld zu einem Moment restaurativer Nostalgie - was haben wir damals doch gedacht, geliebt und gehofft."

Heute vor 20 Jahren erschien Oasis" erstes Album "Definitely Maybe", berichtet die Presse und schreibt einen Abgesang auf die Arbeiterklasseband, nicht ohne leise Hoffnung auf ein Comeback: ""Für 500 Millionen Pfund oder 500 Millionen Kondome", scherzt Noel Gallagher. Es ist also wohl unwahrscheinlich. Andererseits: "Es wird geschehen, wenn es geschieht. Falls die Musikgötter wollen, dass es geschieht", sagt Liam Gallagher kryptisch."

Weitere Artikel: Nach Claudio Abbado und Pierre Boulez sucht das Lucerne Festival einen neuen Dirigenten, berichtet Marco Frei in der Welt und überprüft Sir Simon Rattles Eignung. Für Electronic Beats berichtet Mark Smith vom Berlin Atonal Festival. Im Freitag unterhält sich Christine Käppeler mit Frank Spilker von den "Sternen". Und beim Rolling Stone schreibt Eric Pfeil wieder Poptagebuch.

Besprochen werden The Bugs neues Album "Angels & Devils" (taz) und Kate Bushs großer Comeback-Auftritt (The Quietus).
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Film

Bei den Filmfestspielen in Venedig lief Joshua Oppenheimers neuer Dokumentarfilm "The Look of Silence", in dem sich der Regisseur nach "The Act of Killing" (unsere Kritik) neuerlich mit dem Massaker an den Kommunisten in Indonesien befasst, diesmal allerdings aus der Opferperspektive. Thomas Steinfeld von der SZ fand den Film enorm beeindruckend: "Von großer Poesie sind die Bilder (...) und sie sind es auch, wenn sie Beton, Insekten oder nächtlich dahinbrummende Lastwagen zeigen. Von großer Unerbittlichkeit aber sind die Nachforschungen, die der Agent des Gewissen vorantreibt. Gemeinsam nehmen sie den Zuschauer in Geiselhaft, lassen ihm kein Entkommen mehr und enthüllen, Blick für Blick, Frage um Frage, ein in Blut getauchtes Land des Schreckens." David Hudson sammelt auf Fandor Hinweise auf internationale Besprechungen.

Um die pensionierten Bildungsbürger der Oscar-Jury für einen deutschen Film zu gewinnen, sollten schon Nazis oder Kommunisten auftreten, glaubt Hanns-Georg Rodek in der Welt. Dominik Grafs "Geliebte Schwestern" werden es deshalb vermutlich schwer haben, denn "es ist eine Herausforderung an die Oscar-Entscheider: seht her, ein deutscher Film, ganz anders, als ihr das gewohnt seid. "Die geliebten Schwestern" sind feinsinnig statt politisch. Es geht um die Freude am Briefeschreiben statt um die Bewältigung von Vergangenheit."

Weitere Artikel: Stefanie Bolzen trifft in der Welt den von seinen PR-Leuten streng überwachten "Games of Thrones"-Autor George R. R. Martin und erfährt zumindest, dass er bei den kommenden Drehbüchern nicht mehr mitarbeiten wird. Für die taz schaut Cristina Nord bei den Filmfestspielen in Venedig Bergsteigerabenteuer aus dem Jahr 1916.

Besprochen werden Rick Ostermanns "Wolfskinder" (Jungle World, kritiken.de, FR, Tagesspiegel) und Volker Schlöndorffs "Diplomatie" (Tagesspiegel, critic.de, FR, Zeit).
Archiv: Film

Literatur

In der FR rät Jürgen Wertheimer zur erneuten Lektüre von Goethes "West-östlichen Divan" - nicht zuletzt aus Gründen der Völkerverständigung und Mehrung von Toleranz: "Ein freies, offenes Kunstwerk der frühen Moderne? Vielleicht, jedenfalls ein sich öffnendes, ein sich in die Zukunft öffnendes, vom Autor gewolltes, mehrfach erweitertes, weitergedachtes Werk. ... Wieder und wieder beschwört Goethe (...) die Figur des frei herumvagabundierenden, entfesselten Reisenden, der die Scheuklappen seiner Vorurteile abstreift und in "kindlicher Neugier" morgen- und abendländische Erfahrungen sammelt."

Weitere Artikel: Die NZZ gratuliert Lukas Hartmann, Autor historischer Romane, zum Siebzigsten. Der Wagenbach-Verlag zieht Verena von der Heyden-Rynschs Buch über Aldo Manuzio wegen einiger Nähen zu einschlägigen Wikipedia-Artikel zurück, meldet Lothar Müller in der SZ. Die FAZ dokumentiert die Dankesrede des Literaturwissenschaftlers Peter von Matt zum Erhalt des Goethepreises der Stadt Frankfurt am Main.

Besprochen werden André Kubiczeks "Das fabelhafte Jahr der Anarchie" (Berliner Zeitung), Judith Hermanns "Aller Liebe Anfang" (FAZ, mehr), Felix Hartlaubs "Aus Hitlers Berlin 1934-1938" (Tagesspiegel), Sherko Fatahs "Der letzte Ort" (SZ) und die Autobiografie des Berghain-Türstehers Sven Marquardt. (NZZ, mehr)
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