Efeu - Die Kulturrundschau

Stets sublim statt subversiv

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26.07.2014. Die FAZ feiert den Maler Georg Bernhard Müller vom Siel, der erst im Wahnsinn zum Avantgardemaler wurde. Thomas Hettche warnt in der NZZ vor dem enzyklopädischen Anspruch der Literatur im digitalen Zeitalter. In der SZ erzählt der Theatermacher Christoph Nix vom Glück, in der Provinz arbeiten zu können. Sterben will die taz - vor Staunen und Verzückung über die erhabene Tanzmusik von FKA Twigs.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.07.2014 finden Sie hier

Kunst


Bild: Georg Müller vom Siel, ohne Titel, Foto von Sven Adelaide

In einer Ausstellung des Landesmuseums für Kunst und Kulturgeschichte in Oldenburg lässt sich derzeit nachvollziehen, wie der Maler Georg Bernhard Müller vom Siel in seiner zweiten Lebenshälfte in den Wahnsinn abdriftete und sein in der geschlossenen Anstalt entstandenes Spätwerk sich der Ästhetik der Avantgarden annäherte, erzählt Julia Voss in der FAZ: Sein "Ich ist in Unordnung geraten, und Müller vom Siel weiß es. Er versucht, ihm eine Ordnung zu geben, ein Oben, ein Unten, eine Mitte, eine Logik, einen Sinn. Mit Hunderten von Bildern baut er dem Wahnsinn, in den er hineinrutscht, ein Geländer. ... Er wird Avantgardemaler, ohne es zu wollen und ohne dass es jemand weiß."

Außerdem: Joachim Güntner schildert in der NZZ den Fall des Düsseldorfer Kunstberaters Helge Achenbach, der gerade wegen Betrugsverdachts im Gefängnis sitzt. Eva-Christina Kraus wird Direktorin des Neuen Museums Nürnberg, meldet die Welt. Am Rockaway Beach in New York gedenken die dort lebenden Künstler, darunter Patti Smith, mit einer Kunstausstellung des Hurrikans "Sandy", der hier vor zwei Jahren toste, berichtet Peter Richter in der SZ.

Besprochen werden zwei Zeichnungs-Ausstellung in Berlin-Pankow (taz), eine Ausstellung über Berliner Partyflyer der letzten 20 Jahre in der Berliner Galerie Xavier LaBoulbenne (FAZ).
Archiv: Kunst

Literatur

Was geschieht mit der Literatur im digitalen Zeitalter? Entwickelt sie sich zum unendlichen Text, an dem Autor und Leser ewig weiterschreiben? In der NZZ warnt Thomas Hettche vor diesem Anspruch, der letztlich ein enzyklopädischer sei: "Seite für Seite ins Unendliche wachsend, sehnt die Enzyklopädie sich seit je danach, die ganze Welt abzubilden. Das Problem aber dieser Sehnsucht ist ebenso alt wie das Lexikon selbst: Wäre es so unendlich wie die Welt, wäre es nicht mehr benutzbar. Borges hat diese Aporie immer wieder klaustrophobisch ausgemalt. Die Karte, die so groß ist wie das Land, legt sich wie ein Leichentuch über die Schöpfung und erstickt all das Leben, das sie doch abbilden will." Hettche schreibt diesen enzyklopädischen Anspruch unter anderem "technikaffinen literarischen Blogs" zu, aber sind es nicht gerade Autoren - Karl Ove Knausgard, Peter Kurzeck - die sich in jüngster Zeit an Echtzeit-Beschreibungen abgemüht haben?

Außerdem: Der Standard druckt die Laudatio von Karl-Markus Gauß für die russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja, die heute in Salzburg den "Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur" erhält. In der Welt unterhält sich Wieland Freund mit Stewart O"Nan über dessen neuen Roman "Die Chance". Die Welt hatte Recht und die anderen deutschen Feuilletons, die immer Suhrkamp gegen Barlach verteidigten, könnten mit ihrer "mehrjährigen Anti-Barlach-Haltung vor einer großen Niederlage" stehen, triumphiert Marc Reichwein nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs. In der FAZ meditiert Kurt Drawert über die Stadt Istanbul.

Besprochen werden unter anderem Oswald Wieners Roman-Experiment "die verbesserung von mitteleuropa" (NZZ), Rüdiger Görners Trakl-Biografie (die Fritz J. Raddatz in der Welt als "schlechterdings bewundernswerte Biografie" feiert), Lydia Mischkulnigs neuer Roman "Vom Gebrauch der Wünsche" (Standard) und George Packers Reportagensammlung "Die Abwicklung" (taz, mehr).

In der Frankfurter Anthologie der FAZ stellt die Lyrikerin Elke Erb ihr Gedicht "Ordne Etwas" vor:

"Ordne etwas, ordne den Fahrradschuppen. Er faucht. Hör.
Ein überirdischer Keller. Gehobener Stand. Sonnenbeschienen.
..."
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Bühne

Im Interview mit dem Standard erklärt Sven-Eric Bechtolf, Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele, warum er dieses Jahr den "Don Giovanni" inszenieren wollte und warum ihm die Kritik am Geschäftsgebahren des Burgtheaters auf die Nerven geht: "Unsere Arbeit ist elitär. Allein, dieses Wort darf heute natürlich nicht mehr verwendet werden. Aber selbstverständlich haben wir elitäre Ausbildungsstrukturen, die zu elitären Ergebnissen führen: Große Künstler brauchen große Lehrer und exzellente Hochschulen. Sie brauchen Vorbilder und Traditionen und Orte, an denen sie diese elitäre Kunst jedermann zugänglich machen können. Wenn man jetzt die Wiener Staatsoper, die Burg, die Salzburger Festspiele kaputt macht, dann ist das kein Umbau, sondern eine Vernichtung. Wenn diese Institutionen einmal zerschlagen worden sind, kommen sie nie wieder."

Theaterintendant Christoph Nix erzählt in der SZ von seinem großen Glück, nach gegängelten Jahren in Kassel das Theater Konstanz zwar fernab der Metropolen-Hotspots, aber mit umso größerer künstlerischen Freiheit leiten zu können und dabei auch das Publikum für sich zu gewinnen: "Wir haben über 100000 Zuschauer. Was kümmert uns da Zürich oder Berlin oder gar der Deutsche Bühnenverein? Manchmal träumen wir noch von der Großstadt, aber dann hören wir zum Beispiel, dass der große Intendant Friedrich "Friedel" Schirmer vom Schauspielhaus Hamburg wieder ans Theater Esslingen geht und Dominique Mentha glücklich ist, von Wien nach Luzern gegangen zu sein, dann sind wir uns hier sicher: Bald gibt es ein "deutsches Theatertreffen am Bodensee", und dagegen ist das Berliner Theatertreffen dann tiefe Provinz."

Weitere Artikel: Beim Festival in Avignon wurden auch jüngste arbeitsrechtlichen Einschnitte für Schauspieler und andere auf Zeit beim Theater beschäftigte Prekär-Arbeiter thematisiert, berichtet Jörg Winterfeldt in der Berliner Zeitung. Andrea Schurian annonciert im Standard die Uraufführung von Marc-André Dalbavies" Oper "Charlotte Salomon" bei den Salzburger Festspielen: "Die letzte Note seiner Oper schrieb der Meister musikalischer Farbnuancierungen zwei Tage vor Probenstart." Sebastian Baumgartens "Tannhäuser"-Inszenierung, die die Bayreuther Festspiele eröffnen sollte, musste schon nach 20 Minuten aus Sicherheitsgründen abgebrochen werden, meldet die Presse: Es habe "zweimal geknallt und Stöcke seien aus einem beweglichen Käfig des Bühnenbildes gebrochen". Eleonore Büning (FAZ) sieht die Festspiele gleich ganz im Niedergang: keine aufregenden neuen Inszenierungen, kein kleiner Hakenkreuzskandal, kein handfester Streit, statt dessen trashige alte Inszenierungen und quengelnde Regisseure. Kein Wunder, dass es noch Karten gibt!

Besprochen wird eine von den Pet Shop Boys konzipierte, in London aufgeführte Hommage an Alan Turing (FAZ, Guardian), zwei Bücher über die Geschichte der Salzburger Festspiele (Presse), Meg Stuarts "Skizzenbuch" beim Impulstanz in Wien (Presse, Standard), eine Ausstellung zum 150. Geburtstag von Richard Strauss im Theatermuseum Wien (Presse) und die Uraufführung eines Opernfragments von Erich Zeisl in München (Welt).
Archiv: Bühne

Film

Toby Ashraf berichtet für die Jungle World vom Filmfestival in Odessa, wo ihm deutlich wird, dass man "in Zeiten des Krieges (...) Filme anders [sieht]."

Besprochen wird Gareth Evans" Martial-Arts-Film "The Raid 2" (Welt).

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Musik

Viel Freude hat Christian Werthschulte von der taz am Debütalbum der seit vergangenem Jahr von allen Trendsettern herumgereichten Musikerin FKA Twigs, die für ihre Kunst in den kalten Wave-Klängen der frühen Achtziger plündern geht: "Das Selbst ist bei FKA Twigs aus den feinsten Zutaten zusammengesetzt: ein wenig Siouxsie Sioux, ein Schuss Frida Kahlo und ganz viel Cocteau Twins - stets sublim statt subversiv. Wenn das die Zukunft ist, dann ist es eine, in der Menschen mit offenen Mündern vor dem Gesamtkunstwerk FKA Twigs stehen und vor Staunen und Verzückung sterben."

Na dann, water me:



In Tansania wurde die einst für die Demokratisierung des Landes sehr wichtige lokale Hiphop-Variante Bongo Flava unter dem Einfluss eines großen Medienkonglomerats zu weichgespültem Dudelfunk, berichten Uta Reuster-Jahn und Klaus Raab in einem resignativen Hintergrundartikel in der SZ: "In den Bongo-Flava-Songs, die heute bei Clouds FM laufen, geht es nicht wie einst um HIV-Aufklärung oder die Mängel des Gesundheitssystems, sondern um Liebe und Lifestyle. ... Die Musik (...) hat ihr utopisches Potenzial verloren. Es gibt kaum noch Straßenjungen, die Tag und Nacht an ihren Texten feilen. Die ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft kreativ zu verwirklichen versuchen. Der tansanische Hip-Hop ist kaputt."

Außerdem: In seinem Poptagebuch beim Rolling Stone denkt Eric Pfeil über die aus der Mode gekommene Kunst, Mäppchen und Jacken mit Bandlogos vollzukritzeln, nach. Claudia Lagler hört für die Presse bei der Ouverture spirituelle der Salzburger Festspiele ein Konzert des Gambisten Jordi Savall mit Musik vom Balkan.

Besprochen wird eine Beethoven-CD des Trio Zimmermanns (Harald Eggebrecht jubelt in der SZ unter anderem über die vielfältigen "Klangfarbnuancen und trialogischen Details").
Archiv: Musik