Efeu - Die Kulturrundschau

Das gottähnlichste Geschöpf

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.07.2014. Die Jury der Zeitungskritiker ist sich einig: Dieser Bachmann-Wettbewerb war ausgesprochen mau. In Le Monde solidarisiert sich Thomas Ostermeier mit den streikenden Intermittents in Avignon. Die Welt fühlte in Aix schon die ersten Erschütterungen der Revolution. In der SZ kritisiert der russische Regisseur Alexander Rodnyansky das offzielle neue Fluchverbot im Film: Fluchen ist Teil der russischen Kultur. Die NZZ bestaunt eine hinreißend selbstbewusste Eva in Guillaume de Marcillats "Disput von Kirchenlehrern über die Unbefleckte Empfängnis".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.07.2014 finden Sie hier

Literatur

Gestern ging der Literaturwettbewerb in Klagenfurt zu Ende. Sehr überrascht ist Kristina Maidt-Zinke von der SZ darüber, dass der literarische Quereinsteiger Tex Rubinowitz die Herzen der Jury am Ende für sich gewinnen konnte: "Bei seiner Lesung, es war die vorletzte im Programm, nervte er durch nervöses Nuscheln (...), lockerte aber die Stimmung in der Jury dergestalt, dass im Dickicht der ewig bierernsten Exegese plötzlich so etwas wie die Einsicht aufschimmerte, dass Komik, zumal dann, wenn sie melancholisch getönt und phlegmatisch dosiert ist, eine literarische Qualität sein kann. Dennoch war während der Debatte nicht abzusehen, dass Rubinowitz (...) das Rennen machen würde."

In der NZZ war Roman Bucheli sehr unzufrieden mit der Jury: "Die Jury liebte dieses Jahr zwar literarische Figuren im Krisenmodus. Bei den Mitteln der Darstellung aber zog sie das geschmeidig Konventionelle der im Sprachlichen nachgeformten krisenhaften Zuspitzung vor."

Gregor Dotzauer kritisiert im Tagesspiegel die literarische Andacht im Fernsehstudio selbst bei mittelmäßigen Texten: "Die falsche Ehrfurcht, die vor allem am Eröffnungsabend aus den Worten der Kärntner Honoratioren spricht, die hinter jedem Schriftsteller einen Sprachvisionär, Existenzdurchdringer und Gesellschaftskritiker wähnen, korrespondiert mit dem prätentiösen Kunstwillen vieler Autoren - und beides wiederum mit einer Tendenz zur grundsätzlichen Ironisierung. ... Es hätte [in diesem Jahr] gute Gründe gegeben, ein Preis-Moratorium zu verhängen."

Außerdem: Judith von Sternburg attestiert dem prämierten Text in der Berliner Zeitung erstklassige humoristische Qualitäten. Etwas ermattet klingt Fatma Aydemirs Einschätzung in der taz: "Ein guter Großteil [der Texte] war solide, aber wirklich Erfrischendes gab es selten. Thematisch dominierten die üblichen Motive der deutschsprachigen Literatur: Tod, Liebe, Zweiter Weltkrieg." Mit der Prämierung von Tex Rubinowitz kann sie aber bestens lebens. Christoph Schröder von der Zeit ärgert sich dagegen sehr: "Wer den Bachmannpreis in diesem Jahr bekommt, ist im Grunde wurscht. Jetzt bekommt ihn eben eine anarchische Spaßmacherfigur, 25.000 Euro noch obendrauf." Gar "verheerend" findet Standard-Autor Stefan Gmünder die Entscheidung der Jury: "Rubinowitz, der vom Auslassen des berüchtigten Autorenvorstellungsvideos über die bewusst gewählte Alltagssprache bis zum rotzigen Vortrag des Textes alles tat, um Erwartungen, die hier an Autoren und Literatur gestellt werden, eben gerade nicht zu erfüllen, wurde schließlich mit einem literarisch mediokren Text zu Tode umarmt." Sandra Kegel von der FAZ wundert sich überhaupt nicht über das Ergebnis: "Es [konnte] nur so ausgehen. Eine ernstzunehmende Alternative gab es nicht. So schlecht wie in diesem Jahr hat es um den berühmten Wettbewerb vielleicht noch nie gestanden." Auf der Website des Wettbewerbs gibt es Mitschnitte sämtlicher Lesungen und Jury-Diskussionen.

Weitere Artikel: Im ausführlichen Tagesspiegel-Gespräch mit Dagmar Dehmer und Ulf Lippitz berichtet die Autorin Chimananda Ngozi Adichie unter anderem von den Beschwerlichkeiten, mit einem nigerianischen Pass zu reisen. Becketts "Deutsche Tagebücher" waren "eindeutig nicht zur Publikation vorgesehen", in der NZZ freut sich Florian Bissig dennoch über die Veröffentlichung, die ab 2016 auch auf Deutsch bei Suhrkamp vorliegen wird. Die FAZ hat nun auch Dietmar Daths langen Text über Dave Eggers Roman "The Circle" online gestellt.

Besprochen werden neue Comics über Rassismus in den USA (Tagesspiegel), Zeina Abiracheds Comic "Ich erinnere mich" (Tagesspiegel), Mawils Comic "Kinderland" ("fetzt urst ein", jubelt Jana Sotzko in der Jungle World) und Gonçalo M. Tavares" "Joseph Walsers Maschine" (SZ).
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Bühne

In Frankreich streiken die "Intermittents du spectacle", also die unregelmäßig engagierten Theater- und Bühnen-Techniker und -Künstler, die zwischen ihren Engagements vom französischen Arbeitsamt bezahlt werden und einen recht großen Posten in den Sozialausgaben des Landes ausmachen. Das Festival von Avignon drohte ins Wasser zu fallen. In Le Monde äußert sich der in Frankreich hoch verehrte Thomas Ostermeier im Interview mit Nicolas Truong: "Ich fühle mich mit der Bewegung der französischen Intermittents solidarisch. Sie müssen entscheiden, ob sie streiken, um in den Verhandlungen Druck auszuüben. Der Status des Intermittent ist in der europäischen Kulturlandschaft einmalig. Die Idee, die Berufe der Bühne zu schützen, wo man in der Tat unregelmäßig arbeitet, ist eine Ausnahme. Sie muss verteidigt werden."

Beim Festival in Aix wurde - nach einer Abstimmung - nicht gestreikt. Aber eine Minderheit konnte die Aufführungen massiv stören. Als Händel streckenweise mit einer Radauspur übertönt wurde, fühlte Welt-Korrespondent Joachim Lange, der sonst nicht viel Interesse für die Intermittents aufbrachte, dann doch ein leichtes Prickeln: "Als die Musiker dem Lärm tapfer ihren Händel abtrotzten, stellte sich so eine Art Versailles-Gefühl ein: drinnen eine Oper aus der Zeit weit vor der Revolution, die Türen fest geschlossen und draußen der Lärm immer lauter. Nun, es war dann doch noch nicht der Untergang des Abendlandes, nur ein Vorgeschmack darauf, wie der klingen könnte."

Im FAZ-Gespräch mit Eleonore Büning weist Bariton Christian Gerhaher Fragen nach seiner momentanen Popularität weit von sich: "Das ist alles übertrieben. Ich bin nur gerade in Mode." Dann aber räumt er doch ein: "Es gibt wirklich so eine Art Killerinstinkt, ein autoerotisches Gefühl, dass man"s plötzlich weiß und sich selbst sagt: "Ha, ich bin toll!" So etwas braucht man nämlich auch, nur mit Zweifeln geht"s nicht."

Und, ist er toll?



Außerdem: Im Interview mit der Presse erklärt die britische Regisseurin Katie Mitchell, warum die deutsch-jüdische Chemikerin Clara Immerwahr die Hauptperson ist in ihrer Salzburger Inszenierung des Erster-Weltkrieg-Stücks "The Forbidden Zone". Jan Böttcher erkundet für die Zeit und mit dem Audiowalk "Brave New Work" des Zürcher Theaterkollektivs "Neue Dringlichkeit" die Gegend und das Milieu der Kreativ-Arbeiter rund um den Berliner Rosenthaler Platz.

Besprochen werden die Uraufführung der Eötvös-Oper "Der goldene Drache" in Frankfurt (Welt), das von ehemaligen Junkies beim Bonner Hauptbahnhof öffentlich aufgeführte Stück "Bonnkrott - Eine Stadt tanzt" (taz) und Christian Stückls Oberammergauer "Sommernachtstraum"-Inszenierung (Cornelia Fiedler bezeugt in der SZ "ungesteuerte Triebhaftigkeit, entlarvende Wortgefechte und hemmungslose Prügeleien, in denen vor allem die Frauen überzeugen").
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Film

In der SZ spricht David Steinitz mit Alexander Rodnyansky, dem Produzenten des beim Filmfest München gerade ausgezeichneten, russischen Films "Leviathan", der nun, da in Russland das Fluchen in Filmen ausdrücklich verboten wurde, Verleihschwierigkeiten in seiner Heimat kriegen könnte: "Wir überlegen, die Schimpfwörter mit einem Störgeräusch weg zu piepsen, wie es manche amerikanische TV-Sender machen. Dann hört man zwar kein Fluchen - aber jeder weiß sofort, dass geflucht wurde. ... Das Fluchen ist Teil der russischen Kultur, das ist es immer gewesen. Unsere großen Klassiker aus der Literatur und auch aus dem Kino - da wird wie verrückt geflucht. Das zu unterdrücken ist vollkommener Unsinn."

Karl Hafner hat beim Filmfest München für den Tagesspiegel neue deutsche Filme gesehen. Diese "arbeiten sich ab an der Erotik. Billig aber geht hier gar nichts. Ständig schießen die Gedanken quer, spielt die Psyche verrückt, steht der Körper im Weg, dabei könnte doch alles so einfach sein, frei und unverkrampft."

Besprochen wird die Installation "L"Âge d"Or" auf der Mathildenhöhe in Darmstadt, wo diverse Künstler Szenen aus Luis Buñuels gleichnamigem Skandalfilm nachspielen (taz).
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Musik

Für die Zeit unterhielt sich Christoph Dallach mit dem Bossa-Nova-Musiker Marcos Valle.

Besprochen werden ein Berliner Konzert von Massive Attack (Welt, Berliner Zeitung), ein Auftritt des österreichischen "Volks-Rock"n"Rollers" Andreas Gaballer (taz), eine unter Claudio Abbado eingespielte Bruckner-Aufnahme (Tagesspiegel), Jack Whites neues Album "Lazaretto" (FAZ) und eine aufwändige, von den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle eingespielte und auf dem neuen eigenen Plattenlabel veröffentlichte Schumann-Aufnahme (dem schwer beeindruckten FAZ-Kritiker Jan Brachmann rückt "die Zartheit und Frische dieser Musik fast mit Duft- und Geschmacksqualität auf den Leib").
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Kunst


(Bild: Guillaume de Marcillat: "Der Disput von Kirchenlehrern über die Unbefleckte Empfängnis", 1529. Jörg P. Anders / Gemäldegalerie, SMB / BPK)

In der NZZ liefert Christa Bürger eine wunderbare Bildinterpretation von Guillaume de Marcillats "Disput von Kirchenlehrern über die Unbefleckte Empfängnis", das gerade aus dem Depot der Berliner Gemäldegalerie geborgen wurde und, so Bürger, "einen Ausblick über sich selbst hinaus in den weiten Denkraum der Renaissance" eröffnet: Evas "linkes Auge blickt auf die verbotene Frucht, als entdeckte sie darin sich selbst. Sie weiß auf einmal und wird es fortan immer wissen, dass sie das gottähnlichste Geschöpf ist von allem Geschaffenen, ein Ich, das sich selbst gegenwärtig ist. Es ist ihre Geschichte, die erzählt wird in den großen versiegelten Büchern, auf die sich neben ihr, aber ihr den Rücken zuwendend, Anselmus und Cyrillus stützen, die Geschichte von ihrem "Fall"."

Besprochen wird die Ausstellung "Krieg und Wahnsinn" im Militärhistorischen Museum in Dresden (Welt).
Archiv: Kunst