Efeu - Die Kulturrundschau

Emporlese-Bibliothek

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19.06.2014. Allgemeines Lob für Stephen Knights Film "No Turning Back", na ja fast. Die Welt vermisst den Bertelsmann-Club jetzt schon. Tagesspiegel und Berliner Zeitung bejubeln das ungebrochene Charisma des im Rollstuhl dirigierenden Kurt Masur. In New York wird über die Entscheidung der Metropolitan Opera gestritten, die Video-Übertragung von John Adams' Oper "The Death of Klinghoffer" abzusetzen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.06.2014 finden Sie hier

Bühne

Allgemeines Erstaunen über die Meldung, dass die New Yorker Metropolitan Opera die Live-Übertragung von John Adams" Oper "The Death of Klinghoffer" abgesagt hat, hier in der New York Times. Die Met reagierte damit auf einen Vorschlag der Anti-Defamation League, die antisemitsche Ausschreitungen befürchtet. Die Oper handelt von der Entführung der Achille Lauro und der Ermordung des jüdischen Passagiers Leon Klinghoffer. Das Werk selbst sei aber nicht antisemitisch, so die League. In der Times äußert sich Komponist John Adams enttäuscht über die Absetzung der Übertragung: "Das wirklich Ironische und Traurige daran ist, dass der Inhalt dieser Oper heute noch relevanter ist als in ihrem Premierenjahr 1991." Kritiker und Free-Speech-Organisationen haben sich empört über die Absetzung geäußert.

Hier ein Ausschnitt aus der Oper:



Die Oper wäre in HD-Qualität in über 2000 Kinos in 66 Ländern übertragen worden. Die Töchter Klinghoffers haben sich laut Ha"aretz bei der Anti-Defamation League gegen die Oper selbst ausgesprochen: ""The Death of Klinghoffer" pervertiert den terroristischen Mord an unserem Vater und versucht ihn zu romantisieren, legitimieren und erklären", sagen Lisa und Ilsa Klinghoffer in einem ADL-Statement. "Die politische Einstellung von Komponist und Librettist wird deutlich in der gefährlichen Parallelisierung des Leidens des palästinensischen Volks und des kaltblütigen Mords an einem unschuldigen behinderten amerikanischen Juden.""

Außerdem: Hans-Klaus Jungheinrich bejubelt in der FR die virtuose "szenografische Einheit" und gewaltige "mehrdimensionale Optik" in Philip Glass" Oper "Echnaton"am Theater Heidelberg.
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Literatur

In der Welt schreibt Marc Reichwein einen Nachruf auf den Bertelsmann-Club und seine "Emporlese-Bibliothek": "Die Erfolgsgeschichte des Clubs stellt sich aus heutiger Sicht also wie das geistige Pendant zur Fress- und Konsumwelle der Wirtschaftswunderjahre dar. Der Leserhunger umfasste längst nicht nur literarische Werke, sondern auch Lexika, Nachschlagewerke und Ratgeber: "Das Einmaleins des guten Tons" gehörte zur Grundausstattung vieler Haushalte, die sich nach den Jahren der Nazi-Exzesse zivilisierte Umgangsformen nur zu gerne ins Regal stellten."

Felix Tota war für den Freitag beim Prosanova-Literaturfestival in Hildesheim, das er grundsätzlich charmant fand, auch wenn sich ihm die hiesige Gegenwartsliteratur nach der kürzlichen Debatte darum noch immer als kränkelnd darbot: "Von der geforderten Dringlichkeit oder dem Mut zum Mut war wenig zu hören, stattdessen wurden Texte beklatscht, die eine wurstfingerdicke Schicht Künstlichkeit auf sich trugen und in denen es um fast nichts ging als um ihre geschliffene Sprache. ... Die moderne Literatur ist altbackener, als sie glaubt."

Weiteres: Angelika Nguyen porträtiert im Freitag die in Kanada lebende, vietnamesische Schriftstellerin Kim Thúy. Besprochen werden zwei neue Bücher mit Künstler-Interviews (taz), Stefan Müller-Doohms Habermas-Biografie (Freitag - mehr) und Ismail Kadares Roman "Die Pyramide" (NZZ).
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Kunst

Samuel Herzog reist für die NZZ in der gleichnamigen Ausstellung in der Saatchi Gallery in London auf den Superkontinent Pangaea ("Ganze Erde") und vermisst vergangene Zeiten:"aber was die Saatchi Gallery uns hier vorführt, hat nichts mit jenen Vorstellungen zu tun, die dieser Begriff antreibt. Schade eigentlich, wäre doch die Frage ganz erfrischend, was es denn bedeuten würde, wenn wir nicht in einer zunehmend globalisierten Welt lebten, sondern in einer repangaeaisierten." (Bild: Christian Rosa: "Oh Fuck", 2013)

Besprochen werden die Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin über den Ersten Weltkrieg (Freitag) und die Slevogt-Ausstellung im Landesmuseum Mainz (Tagesspiegel).
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Stichwörter: Herzog, Samuel, Pangäa, Pangaea

Musik

Christiane Tewinkel (Tagesspiegel) und Clemens Haustein (Berliner Zeitung) berichten von Kurt Masurs im Rollstuhl gehaltenen Dirigat eines Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters in der Berliner Philharmonie. Für Haustein gehört "zu den berührenden Erfahrungen dieses Abends, wie allein das ihm verbliebene Charisma diesem Dirigenten ausreicht, um sitzend, mit minimaler Bewegung von Händen und Armen, die Masur kaum auf Kopfhöhe halten kann, einem Vorbeugen des Oberkörpers, einem Zucken der dünn gewordenen Beine, einem Zuwenden des Kopfes mal zu den Geigen, mal zu den Celli - wie er auf diese Weise ein Orchester von annähernd hundert Musikern leiten kann."

In der SZ schreibt Jens-Christian Rabe über aktuelle Popveröffentlichungen. Jens Uthoff stellt in der taz den Thai-Folk der Paradise Molam International Band vor, die man sich in diesem Video genauer anhören kann:



Besprochen werden ein Auftritt von Billy Idol (Berliner Zeitung), eine konzertante Aufführung von Jules Massenets Goethe-Oper "Werther" an der Deutschen Oper Berlin ("sehr germanisch", meint Frederik Hanssen im Tagesspiegel) und das neue Album "Familiars" der Antlers (ZeitOnline).

Und der Jazzpianist und -komponist Horace Silver ist im Alter von 85 Jahren gestorben:

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Film

Viel Lob gab es bisher für Steven Knights Film "No Turning Back", der seine Geschichte in Echtzeit und allein im Innern eines Auto erzählt (siehe etwa Thomas Klein in der Berliner Zeitung). Ralf Krämer zählt in der Welt sogar eifrig mit, was sich alles auf langen Autofahrten erledigen lässt: "Ivan hat sich jedoch für den Kreisssaal entschieden und dirigiert Donal nun telefonisch durch alle noch zu erledigenden Aufgaben, während er mal kurz Ehefrau und One-Night-Stand auf den Leitungen zwei und drei zwischenparkt." Andreas Busche meldet in der taz allerdings sanft Zweifel an: Im Kern steckt hier am Ende eben doch nur der "älteste Konflikt des abendländischen Dramas, ein Vater-Sohn-Konflikt ... [Der] irisierende visuelle Minimalismus ist an eine enttäuschend eindimensionale Hauptfigur verloren... " Und auch Christoph Egger kann sich in der NZZ mit ähnlichen Argumenten den Lobliedern nicht ganz anschließen. Im Freitag bespricht Gerhard Midding den Film und stellt fest: "Einen Sexismus-Test wird "No Turning Back" nicht bestehen, aber man erfährt viel Interessantes über das Legen von Fundamenten."

Im Tagesspiegel ist Jan Schulz-Ojala so hingerissen von dem Film "Die unerschütterliche Liebe der Suzanne", dass er von der Regisseurin Katell Quillévéré sogleich mehr sehen will: "Vor vier Jahren hat Katell Quillévéré ihren ersten Film gedreht, er kam in Deutschland nicht ins Kino, aber wer von der wundersonderbaren "Suzanne" gekostet hat, ist bestimmt auch für "Ein starkes Gift" zu haben. Das von "Suzanne" macht die Welt bunt, schenkt ihr Musik und Schweigen und einen Schmerz, den man aushalten will, weil er gleich wieder in Glück umschlägt, Zukunft zum Beispiel." Gerhard Midding erfreut sich in der Welt insbesondere an der "heroischen Größe" französischer Frauen. Im Perlentaucher schlägt Lukas Foerster ähnlich lobende Töne an.

Außerdem: Thomas Groh empfiehlt in der taz eine Berliner Reihe mit Filmen des Splatterpioniers Herschell Gordon Lewis. Und Tim Slagman hat für den Freitag Filme im Flugzeug geschaut. Besprochen werden außerdem Matteo Oleottos "Zoran - Mein Neffe, der Idiot" (FR) und Matti Bauers Langzeitdokumentation "Still" (Berliner Zeitung). In der taz verfällt Helmut Merker den wilden Frauen des Hollywoodkinos der Pre-Hays-Code-Ära der Jahre 1930 bis 1934, an das das Berliner Arsenal Kino mit einer Filmreihe erinnert: "Den Spaß, sich danebenzubenehmen, die Lust, mit Sex und Gewalt zu provozieren, merkt man [diesen Filmen] an." Hier wird Barbara Stanwyck mit Nietzsche großstadtfest gemacht:


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