Efeu - Die Kulturrundschau

Hormongestauter Cherub

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2014. Martin Kušejs Münchner "Faust"-Inszenierung bescherte der FAZ einen sex- und blutreichen Vampirreigen im Hamburger Rotlichtmilieu. Die SZ sah nur "Mein 'Faust'-Kampf". Die Welt liebt den Heavy Metal von Mastodon, auch wenn man dazu nicht das Haar werfen kann. Die taz kegelt im Geiste mit jungen Literatenköpfen. SZ und Berliner Zeitung sind hin und weg von einem Auftritt des Dichters Ko Un und von der Architekturbiennale.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 07.06.2014 finden Sie hier

Bühne


(Bild: Matthias Horn)

Einen ziemlich wuchtigen "Faust" gibt es am Münchner Residenztheater in der Inszenierung von Martin Kušej zu sehen: Von einem "vergnüglichen Dreistundenabend" mit "einem sex- und blutreichen Vampirreigen im Hamburger Rotlichtmilieu", der mit "frenetischem Beifall" bedacht wurde, berichtet etwa Kerstin Holm in der FAZ: "Wer (...) den Faust-Text bei der Vorstellung dabei oder im Kopf hat, erleidet genüsslich Schiffbruch." Welt-Kritiker Matthias Heine würde dem wohl zustimmen.

Nicht in den Applaus eingestimmt haben dürfte SZ-Theaterkritikerin Christine Dössel. Sie fand die Inszenierung "enervierend konzeptuell. Der berühmte Stoff (...) wird mit viel Ach und noch mehr Krach radikalisiert und auf Endzeitthriller gebürstet." Und zwar "krawallig absichtsvoll (...) Nach dreißig Jahren hat das Münchner Residenztheater jetzt endlich wieder einen "Faust"? Nun ja. Einen Faust-Schlag zumindest. Der Tragödie schwärzesten Teil. Martin Kušej proudly presents: Mein "Faust"-Kampf. Fuck you, Goethe!"

Die in England wegen ihrer Figur kritisierte Mezzosopranistin Tara Erraught ist genau richtig für die Rolle des Octavio im "Rosenkavalier", meint Manuel Brug, der sich die Glyndebourner Aufführung angesehen hat: "als hormongestauter Cherub und Kadetten-Putto neben seiner fast schon anorektisch überkontrollierten Bald-Ex-Geliebten. Ein sachlicher "Rosenkavalier" für das 21. Jahrhundert. So dirigiert ihn auch Glyndebournes neuer Musikdirektor Robin Ticciati am Pult des glänzenden London Philharmonic Orchestra. Der lässt Schmelz und Harmonie zu, setzt auf Flottheit und Akkuratesse: Hier wird nichts unters schnörklig-aufgepuffte Rokokobett gekehrt."

Weitere Artikel: Christine Wahl berichtet im Tagesspiegel vom Auftakt der Autorentheatertage in Berlin. Ebenso Stefan Grund in der Welt. "Alle Dinge haben ihre Zeit. Gerade im Tanz", meint Manuel Brug, der die Verlängerung des Vertrags für die Forsythe-Compagnie wenig sinnvoll findet.

Besprochen werden Oskar Schlemmers "Triadisches Ballett" (Bild) in München (NZZ), Schorsch Kameruns "Frankfurter Rendezvous" am Schauspiel Frankfurt (FR) und Damiano Michielettos Inszenierung von Mozarts "La Cenerentola" in Salzburg (SZ, FAZ).
Archiv: Bühne

Musik

Michael Pilz war im Stadion des Hamburger SV um Metallica, Slayer und Mastodon zu hören. Letztere residieren für ihn ganz klar auf dem zweiten Platz im Heavy-Metal-Himmel, erklärt er in der Welt: "Während ihr Schlagzeuger im Rückraum ominöse Takte trommelt, zu denen kein Mensch normal die Haare werfen kann, und der Bassist sämtliche Metren gerade sein lässt, lärmen die zwei zotteligen Gitarristen sorgfältig und kunstfertig die letzten Lücken zu. Brent Hinds, ein bis zum Scheitel tätowierter Hobbit, spielt eher Melodien und der walrossbärtige Bill Kelliher mehr Klangflächen. Aber so simpel ist das nie bei Mastodon. Man weiß auch nie genau, wer was gerade singt." Kostprobe?

(Via Mashable) Pianistin Valentina Lisitsa beweist, dass sich GoPro-Kameras nicht nur für Mountainbiker eignen:



Besprochen werden das neue Album von Clap Your Hands Say Yeah, das Jan Freitag von der Zeit eher Bauchschmerzen bereitet und ein Konzert von Mando Diao (Tagesspiegel).

Außerdem viel Musik fürs Wochenende: Electronic Beats kürt die besten Musikvideos des Monats.
Archiv: Musik

Film

Für die Welt bittet Hanns-Georg Rodek die Schauspielerin Nora von Waldstätten zu Tisch. Anlässlich des Kinostarts von Richard Linklaters "Boyhood" (hier unsere Kritik) führt Barbara Schweizerhof in der taz durch die Geschichte von Langzeit-Spielfilmen und -Dokumentationen. Regisseur Marcus H. Rosenmüller sieht in der Welt Parallelen in Linklaters Film zu seiner eigenen "Beste"-Trilogie. Alexander Menden hat für die SZ Stanley Kubricks Villa in Großbritannien besucht.
Archiv: Film

Literatur

In der SZ berichtet Jörg Magenau von der "Nacht der Poesie", mit der das Berliner Poesiefestival in der Akademie der Künste eröffnete. Insbesondere der Auftritt des koreanischen Dichters Ko Un hinterließ mit einer kraftvollen Rezitation bleibenden Eindruck: Es handelte sich dabei um Gedichte, "die alle Formen sprengen wollten und nur noch aus Lauten bestanden; Ko Un schrie und sang und flüsterte, er winselte, bog sich und heulte tatsächlich wie ein Wolf, als fände da eine Dämonenbeschwörung statt. Die Elemente brausten unmittelbar durch ihn hindurch. Der Dichter als Medium, als Schamane, schien mit anderen, unsichtbaren Welten Kontakt aufzunehmen." Auch Marten Hahn (Berliner Zeitung), der eigentlich zum Meditieren gekommen war, staunte nicht schlecht: "Endlich verstehe ich kein Wort."

Da dachten die jungen Schriftsteller beim Hildesheimer Jungliteraten-Festival Prosanova, sie könnten einfach mal so eine Runde Tischtennis spielen, schon steht die Kritik - hier in Gestalt des taz-Literaturkritiker Dirk Knipphals - bereit, die Sache auf ihren Symbolgehalt hin abzuklopfen: "Sie spielen Rundlauf, um möglichst viele Spieler zu integrieren. Entspannt sieht das aus. ... Genau das wird mit manchen Karrieren dieser Schreibnachwuchsleute passieren. Runde für Runde wird jemand aus dem Spiel herausfallen, am Schluss werden nur noch wenige den ersten Preis unter sich ausmachen. Den Literaturpreis oder den Spitzentitelplatz im Verlagsprogramm."

Weitere Artikel: Sandra Kegel berichtet in der FAZ vom Literaturfestival in Frankfurt, wo sich die Regisseure Wim Wenders und Edgar Reitz mit der Romantik beschäftigten. Klaus Nüchtern unterhält sich für die Welt mit der ungarischen Autorin Krisztina Tóth. Tobias Schwartz schreibt zum Abschluss der deutschen Ausgabe von Virginia Woolfs Gesammelten Werken.

Besprochen werden Marie NDiayes "Ladivine" (taz), Klaus Zeyringers Kulturgeschichte des Fußballs (Welt), Gertrud Leuteneggers London-Roman "Panischer Frühling" (Welt), Sven Reichardts Studie "Authentizität und Gemeinschaft" über linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren (Welt), Rüdiger Schapers Theatergeschichte "Spektakel" (Welt), Dietmar Daths Roman "Feldeváye" (Welt), Piers Bionys Buch über Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum" (Welt), Erich Loests Tagebuch "Gelindes Grausen" (FAZ) und Frank Möllers Biografie des Verlegers Joseph Caspar Witsch (SZ).

In der Frankfurter Anthologie der FAZ stellt Albert Ostermaier Bertolt Brechts Gedicht "Der Radwechsel" vor:

"Ich sitze am Straßenhang.
Der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
..."
Archiv: Literatur

Kunst



Viel Freude hat Nikolaus Bernau (Berliner Zeitung) beim Besuch der Architekturbiennale Venedig, die unter dem Motto "Absorbing Modernity 1914 - 2014" sogar noch zur Überraschung des Kurators Rem Koolhaas die These für obsolet erklärt, die architektonische Moderne habe regionale Unterschiede eingeebnet. "Eher scheint das Gegenteil zu stimmen: Unterm Dach einer internationalen Ästhetik - wie es sie mit Gotik, Renaissance, Barock, Klassizismus auch früher gab - haben sich Einzelidentitäten umso schärfer ausgebildet. ... Man mag Koolhaas und seine Attitüde des Welterklärers nervig finden: Diese Ausstellung ist einfach nur toll, bunt, ein Vergnügen, bei dem man sehr viel lernen kann."

SZ-Kritikerin Laura Weißmüller überfiel bei Koolhaas" detaillierter Schau über Decken, Türe und Rahmen das Gruseln, als sie sah, was sonst gut versteckt hinter eingezogenen Decken liegt, nämlich "die Labyrinthe aus Kabeln und Leitungen, die intelligenten Oberflächen, die wir zwar mühelos bedienen können, aber ohne zu kapieren, was dabei passiert; alles, was unsere moderne Welt am Laufen hält, uns aber unlesbar erscheint. ... Die Technologie, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg ständig selbst überholt, hat uns von den realen Dingen abgekoppelt. Kein Wunder, dass wir keine Beziehung mehr zu ihnen haben." In der NZZ berichtet außerdem Gabriele Detterer aus Venedig. (Bilder: Biennale)

Besprochen werden außerdem eine Steampunk-Ausstellung im Kunsthaus Bethanien in Berlin (taz), die Ausstellung "Nach Ägypten - Die Reisen von Max Slevogt und Paul Klee" im Albertinum in Dresden (Tagesspiegel) und die Ausstellung "Großgörschen 35" im Haus am Kleistpark in Berlin (Berliner Zeitung).
Archiv: Kunst