Efeu - Die Kulturrundschau

Bittere Ursuppe

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.04.2014. Die Presse begibt sich beim Donaufestival in einen Gottesdienst der tieferen Frequenzen. Im Standard wirbt György Dalos für die Literatur 0steuropas. Die SZ mokiert sich über  die FAZ, die nach vierzig Jahren die Rezeptionsgeschichte von Lenz' "Deutschstunde" umschreiben will. Die Welt mokiert sich über die Zeit, die einen Literaturbegriff noch aus den Fünfzigern pflegt. Die Welt ist total enttäuscht von den Pixies: Truck Stop von heute.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.04.2014 finden Sie hier

Bühne



Durchgefallen: Bernhard Langs bei den Schwetzinger Festspielen uraufgeführte Oper "Re:igen" nach Arthur Schnitzler. Der "Reigen" ist halt keine Pornoschau, erinnert Marco Frei in der NZZ: "Die unterschiedlichen Methoden, einen Menschen auf die Matratze zu locken, waren gewiss erheiternd, auch erhellend. Allerdings ist Schnitzlers 'Reigen' eben keine Flirtstudie, sondern eine unbestechliche, schonungslose Gesellschaftsanalyse. Einen derartigen Weitblick ließen weder Bühne noch Musik erkennen, obwohl es gute Ideen gab." In der FAZ klagt Gerhard Rohde: "Ringelpiez, Peepshow und Disco. Schade um die Musik."

Ebenfalls durchgefallen: Irina Brooks Inszenierung von Donizettis "Der Liebestrank" an der Deutschen Oper Berlin ("schlaff" und "kraftlos" die Inszenierung, kritisiert Peter Uehling im Tagesspiegel, "unerträglich brav und scheu" die musikalische Interpretation von Roberto Rizzi Brignolis, ärgert sich Udo Badelt in der Berliner Zeitung. Und in der Welt ätzt Manuel Brug: "Die einst so wagemutige Deutsche Oper Berlin scheint unter dem immer risikofreier agierenden Intendanten Dietmar Schwarz ihrem heimlichen Ziel wieder ein Stückchen näher: Deutschlands bestalimentiertes Stadttheater zu werden."

Und auch Kritiker Samir H. Köck litt (Presse) an diesem Wochenende - bei der Klangperformance von Vessel in der Minoritenkriche beim Donaufestival in Krems: "Dieses von der sphärischen Anmutung her durchaus mit alten Arbeiten des deutschen Elektronikpioniers Klaus Schulze zu vergleichende Ohrenkino lockte in eine Art bittere Ursuppe. Kreiert vom erst 22-jährigen, aus Bristol stammenden Sebastian Gainsborough, verlangten die konsequent in den tieferen Frequenzen angesiedelten Sounds nach dem devoten Hörer, der geduldig um Einlass in die erratische Ästhetik bittet. Wie im Gottesdienst galt es auszuharren, wollte man in echte Fühlung mit dem Numinosen kommen."

Weitere Artikel: Im Standard berichtet Helmut Ploebst von partizipatorischen Performances beim Donaufestival. Für den Tagesspiegel porträtiert Sandra Luzina Virve Sutinen, die neue Leiterin des Berliner Festivals "Tanz im August". In der Zeit schreibt Peter Kümmel zum 450. Geburtstag von Shakespeare. Jens Malte Fischer verabschiedet sich in der FAZ von Klaus Schultz.

Besprochen werden Martin Wuttkes Inszenierung "Trompe l'amour" nach Balzac an der Volksbühne ("verflatterte Kleinigkeit", knurrt Reinhard Wengierek in der Welt) und Henriette Dushes beim Heidelberger Stückemarkt uraufgeführtes Stück "Lupus in Fabula" (Egbert Tholl von der SZ beobachtet ein "Flirren zwischen Trost, Komik und Trauer").
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Literatur

Im Standard gibt György Dalos den Auftakt zu einer Serie über die Literatur in 0steuropa und wirbt für das im Wieser Verlag erschienene "Europäische Karussell", das in neun Bänden "Streifzüge zu neuen Klängen alter Sprachen" biete: "Wir leben in einer Zeit, die mehr und mehr Anpassung und Uniformiertheit fordert. Sind das nicht alles Vorläufer zukünftiger gewaltsamer Differenzierungen, Diffamierungen und Sprachverachtungen, wie sie in der Geschichte immer dann auftraten, wenn sich gesellschaftliche Eruption andeutet, sich vorbereitet; und ist es nicht Ausdruck einer verzagten Reibung zwischen Zukunft und Vergangenheit, in der auch Kultur zum Spielball machtorientierter Selbstdarsteller verkommt? Nicht alles, was in diesen Büchern vermittelt wird, bietet ein erfreuliches Bild der osteuropäischen Wirklichkeit, aber wahre Literatur konfrontiert mit der Realität, und jede Heilung beginnt mit einer präzisen Diagnose."

In der SZ kann Willi Winkler über die Forderung Jochen Hiebers in der FAZ, die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Siegfried Lenz' "Deutschstunde" neu zu schreiben, nur müde mit den Augen rollen. Auf Hiebers Frage, welche Konsequenzen dies für das Lesepublikum habe, antwortet Winkler: "Ganz einfach: keine. Bereits 1968, im Erscheinungsjahr der "Deutschstunde", hat der Schriftsteller Peter Härtling im Spiegel streng darüber geurteilt: 'Freilich, auch dieses Buch ist ehrenwert, und das ist seine Schwäche.' So erfreulich es ist, wenn Hieber mit einer Verspätung von gut vierzig Jahren die gleichen Bedenken kommen, so wenig sind sie berechtigt. ... Der Literaturwissenschaftler Hieber [sollte] schon mal vom Unterschied zwischen einer realen und einer fiktiven Figur gehört haben."

Elmar Krekeler mokiert sich in der Welt über Kritikerinkollegin Iris Radisch, die in der Zeit die Kritik an Sibylle Lewitscharoffs neuem Roman "Killmousky" niedrig hängte, weil das ja nur ein Krimi sei. Fingerübung also. Die deutsche Hochleistungskritik pflegt halt immer noch einen Qualitätsbegriff aus den Fünfzigern und hat keine Ahnung, wie hoch bei Genreliteratur "die erzählerischen Hürden und inzwischen auch die Ansprüche und das Wettkampfniveau sind. Und dass es ungefähr so unsinnig ist, von der entspannten Genreliteratur zu faseln wie von Halbwesen in der Familienplanung. Die denkt immer noch ziemlich starkdeutsch, diese Hochleistungsliteraturkritik."

Weiteres: In der Presse lässt sich Anne-Catherine Simon von Rüdiger Wischenbart erklären, was das Bestseller-Ranking von Amazon über die absoluten Verkaufszahlen von Büchern aussagt.

Besprochen werden David Fincks "Das Versteck" (FAZ), Elias Canettis "Buch gegen den Tod" (Berliner Zeitung - mehr), Michael Kichkas Graphic Novel "Zweite Generation" (FAZ) und Evelyn Barishs Biografie "The Double Life of Paul de Man" (SZ).
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Film

Michael Kienzl von critic.de übermittelt Sichtungsnotizen vom Filmfestival in Udine, wo ihn der japanische Regisseur Hitoshi One frappant an Klaus Lemke erinnert.
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Stichwörter: Lemke, Klaus

Kunst

In der Presse berichtet Sabine B. Vogel über die Art Brussels. In der NZZ schreibt Ilma Rakusa zum 150. Geburstag der Villa Garbald, einem Begegnungsort für Forscher und Künstler in Castasegna.

Besprochen werden eine Ausstellung im Berliner Haus am Kleistpark von Ute und Bernd Eickemeyers Bildern aus 50 Jahren Berlin-Fotografie (Tagesspiegel), die Ausstellung "Esprit Montmartre" in der Schirn in Frankfurt (Tagesspiegel), die Marianne-Werefkin-Ausstellung der Städtischen Galerie Bietigheim-Bissingen (FAZ), die Ausstellung "Das Konstanzer Konzil" im Konstanzer Konzilgebäude (SZ) und die Ausstellung "Unsere Tiere" im Tieranatomischen Theater in Berlin (taz).
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Musik

Welt-Rezensent Frédéric Schwilden muss ein Pixies-Fan sein. Nur ein Fan kann das neue Album so stinkig in die Tonne treten: "'Indie Cindy' klingt die meiste Zeit wie die langweilige Platte von drei alten Männern, die sich seit dreißig Jahren jeden Sonntag am Nachmittag im Proberaum ihrer Söhne treffen, um sich an die glorreiche Zeit zu erinnern, in der sie noch selber Musik gemacht haben. Eigentlich würden sie inzwischen viel lieber einfach nur grillen oder angeln. Aber so trinken sie Light-Bier, und ab und zu spielen sie einen Song. Und weil einer von ihnen aus Versehen auf den Verzerrer getreten ist, denken sie, es sei Rockmusik. In Wahrheit klingen die Pixies inzwischen wie Truck Stop, diese deutsche Country Band aus dem Landkreis Harburg." Aua. In der Berliner Zeitung ist Johannes von Weizsäcker etwas versöhnlicher: "die Essenz ihres Charmes" immerhin hätten die Pixies nicht verloren.

Weitere Artikel: In der SZ unterhält sich Reinhard J. Brembeck ausführlich mit dem Geiger Gidon Kremer über den Komponisten Mieczysław Weinberg. Tim Caspar Boehme (taz) hört sich bei der Berliner Ausgabe des Denovali Swingfests des gleichnamigen, auf Experimentalmusik spezialisierten Labels "Zwischentöne, Ambivalenzen und Grauschattierungen" an.

Besprochen werden Bruckners Vierte mit Mariss Jansons und dem Concertgebouw-Orchester im Musikverein in Wien (Presse), das neue Album der Retro-Psychedelic-Rocker The Movements (FAZ), das Debütalbum der australischen Rapperin Iggy Azalea (Zeit), David Greilsammers CD "Sonatas" (Tagesspiegel) und ein Konzert der Bluesrock-Band Tedeschi Trucks (Tagesspiegel).
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