Efeu - Die Kulturrundschau

Steinbruch der Assoziationen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.04.2014. Die FAZ ist schockiert über Siegfried Lenz' "Deutschstunde": Hier wird die Biografie des jüngst als Nazisympathisant enttarnten Emil Nolde schöngeschrieben!  Die NZZ würdigt den polnischen Dichter Tadeusz Różewicz, für den nur Ethik, nicht Ästhetik zählte. Martin Wuttkes "Trompe l'Amour" hat nach Meinung fast aller Kritiker einen entscheidenden Fehler: Es ist zu kurz. Die SZ stellt uns das japanische Popphänomen Hatsune Miku vor.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.04.2014 finden Sie hier

Literatur

Nachdem die Öffentlichkeit bis in die neunziger Jahre hinein Emil Noldes Antisemitismus und Sympathie für Nazis ignoriert hatte, fragt sich FAZ-Redakteur Jochen Hieber jetzt besorgt, ob nicht auch Siegfried Lenz' 1968 erschienener Roman "Deutschstunde", dessen Held, der Maler Max Ludwig Nansen, eng an Nolde angelehnt ist, kontaminiert ist. Hieber ist beim nochmaligen Lesen schockiert, schockiert!, wie Lenz "die Wirklichkeit Noldes zugunsten von Nansens fiktiver Biografie schönschreibt". Dass die Literaturkritik den Roman jahrzehntelang ohne nachzufragen als Weltliteratur feierte, ist ihm dagegen keinen Gedanken wert.

In der NZZ würdigt Ulrich M. Schmid den polnischen Widerstandskämpfer und Dichter Tadeusz Różewicz, der 92-jährig in Wroclaw gestorben ist: "Różewicz schloss bewusst jedes Pathos aus seiner knappen Sprache aus. Nur die Ethik, nicht aber die Ästhetik ließ er als Grundlage seiner Dichtung zu. In einem Artikel aus dem Jahr 1945 heißt es programmatisch: 'Viele Dichter sollten anfangen, Schmetterlinge oder Briefmarken zu sammeln, weil sie nur Sammler von schönen Wörtern und seltenen Metaphern sind.' Damit stellte sich Różewicz explizit auf eine Gegenposition zur polnischen Avantgarde der Zwischenkriegszeit, die eine hochfliegend eloquente Poetik zu virtuoser Perfektion ausgearbeitet hatte."

Weitere Artikel: Der portugiesische Autor João Ricardo Pedro spricht im Interview mit dem Standard über seinen Debütroman "Wohin der Wind uns weht" und die komplizierte Lage des Landes. Thomas Leuchtenmüller liest für die NZZ noch einmal Evelyn Waugh in überarbeiteter deutscher Übersetzung. Spanien fahndet nach den Gebeinen von Cervantes, berichtet Martin Dahms in der FR. In der SZ am Wochenende unterhält sich Nadia Pantel mit der Schriftstellerin Cornelia Funke.

Besprochen werden ein Erzählband von Sema Kaygusuz (NZZ), Jean Echenoz' Roman "14" (FR), Larissa Boehnings Roman "Nichts davon stimmt, aber alles ist wahr" (taz) und Ha Jins Essaysammlung "Der ausgewanderte Autor" (FAZ), Walter Kempowskis "Wimmelwerk" (so Michael Rutschky in der Literarischen Welt, hier) "Plankton", Alexander Kluges Geschichtspanorama über den 30. April 1945 (Welt) , Hugh Raffles' große "Insektopädie" (Welt), die Erinnerungen Hélène de Beauvoirs (Schwester Simones, Welt), eine Literaturgeschichte des frankofonen Afrika (Welt), Krimis von Manfred Rebhandl (Welt), der Roman "Rennboot" der wieder zu entdeckenden amerikanischen Autorin Renata Adler (Welt) und eine Biografie über den Klassikerverleger Johann Friedrich Cotta (Welt).
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Bühne



Martin Wuttkes
an der Volksbühne in Berlin aufgeführtes, allerdings von starken Kürzungen in letzter Sekunde betroffenes Stück "Trompe l'Amour" nach Balzac will die Kritiker von Berliner Zeitung und Tagesspiegel nicht recht überzeugen. In der SZ spricht Peter Laudenbach gar von einer "Pleite". Und Dirk Pilz jammert auf nachtkritik.de: "Spagattechnisch ist dieser Abend auf Hochleistungsniveau. Aber die vielen Worte für so wenig Leere." In der taz gibt sich Tom Mustroph deutlich versöhnlicher mit dem dramaturgisch offenbar arg gerupftem Stück: Es handelt sich zwar um "einen Steinbruch der Assoziationen, wenig gefügt, in seinem mortalen Ende aber überraschend vital". In der FAZ attestiert Irene Bazinger einen in Folge der Kürzungen und Streichungen kaum aufwiegbaren "Substanz- wie Reputationsverlust". (Foto: Thomas Aurin)

Außerdem: Für die taz porträtiert Annette Walter den mit dem Berliner Theaterpreis ausgezeichneten Intendant der Münchner Kammerspiele, Johan Simons. Auf einer ganzen Seite bringt die SZ Notizen ihrer Autoren zu Shakespeares Figuren.
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Film

In der Zeit wundert sich Caspar Shaller darüber, dass dem Kino die Leichtigkeit des Teeniefilms abhanden gekommen ist: Allenthalben müssen Heranwachsende nun ums blanke Überleben kämpfen. In der NZZ erklärt Daniel Ammann, wie die Synchronisation von Filmen vonstatten geht.
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Kunst

Im Standard berichtet Anne Katrin Feßler über eine Installation von Santiago Sierra beim Donaufestival in Krems. Sierra, der alle Gefängnisse hasst, will eine Lampe in der JVA in Krems-Stein aufhängen, um den Häftlingen einen legalen Rausch zu bescheren: "Der an Neurowissenschaften und Mind-Control interessierte Künstler stieß im Zuge seiner Recherchen auf die Lucia N°03, eine von Tiroler Psychologen entwickelte Lampe, die ein in Geschwindigkeit und Intensität flexibles Flackerlicht produziert. Ähnlich wie bei Nahtoderfahrungen, in denen der Körper eigenes Dimethyltryptamin (DMT) ausschüttet (ein Wirkstoff der auch beim Ayahuasca-Ritual in Südamerika zum Einsatz kommt), sollen so extrem positive Erlebensweisen, etwa das Gefühl von Körperlosigkeit, simuliert werden."

Der Architekt Volker Staab spricht im Interview über seine Museumsbauten, Architekturausschreibungen, Denkmalarchitektur, seine Erfahrungen als Hochschullehrer und die Frage, warum deutsche Großprojekte immer öfter scheitern: "Kaum ein Land ist so in Regeln verliebt wie Deutschland. Alle diese Regeln werden aufgestellt, um Fehler zu vermeiden. Aber genau das Gegenteil wird erreicht."

In der Jungle World liest Jörg Später den mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Essay "Der Schatten des Fotografen" des Kulturwissenschaftlers Helmut Lethen. Der Rezensent verortet das Buch vor der Geschichte kulturwissenschaftlicher Theoriebildung: "Lethen, der alle kulturwissenschaftlichen Turns der letzten 40 Jahre miterlebt hat, begrüßt die Rückkehr der Dinge in die Kulturwissenschaft, ohne das Rad zurückdrehen zu wollen und in naiven Realismus zu verfallen. Des Zirkusses der Zeichendeuter jedoch, der die Physis mit Bedeutung bombardiert und der einen Körper nicht als das sehen kann, was er ist, nämlich als einen Körper, ist er überdrüssig. Lethen bekennt sich zu seiner Sehnsucht nach Wirklichkeit." Mehr zu dem Buch in unseren Rezensionsnotizen.

Weitere Artikel: Robert Kaltenbrunner und Olaf Schnur denken in der NZZ über Wohnquartiere als Lifestyle-Produkte nach. Eva Karcher hat für den Tagesspiegel die zweite Ausgabe der Paris Photo Los Angeles besucht, in der FAZ berichtet Freddy Langer.

Besprochen werden Juliane Rebentischs Buch "Theorien der Gegenwartskunst zur Einführung" (taz), die Marsden-Hartley-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin (Oliver Koerner von Gustorf bewundert in der taz die "Verbindung zwischen Erotik und Spiritualität").
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Musik



Online aus der gestrigen SZ nachgereicht: Niklas Hofmann geht dem Phänomen von Hatsune Miku auf den Grund, dem ersten, rein virtuellen, vor allem aber crowd-gestützten Popstar Japans, der einen beeindruckenden Output vorweisen kann: "Hatsune Miku ist vor allem ein Computerprogramm, ein 'Vocaloid', ein Stimmroboter. Über 100 000 Songs mit Hatsune Mikus Stimme gibt es, mehr als 170 000 Videos mit ihr stehen allein bei Youtube, eine Million Illustrationen kursieren von ihr im Netz - fast alle sind von Fans gemacht."

Bei Electronic Beats erinnert sich Dimitri Hegemann an das erste Konzert von Kraftwerk im Jahr 1970: "Die Idee der Mensch-Maschine zeichnete sich damals noch nicht ab. Deutlicher hervor treten die Wurzeln in der psychedelischen, experimentellen, sequenziellen Musik, die man heute 'Krautrock' nennnt. ... Diese Aufzeichnung zeigt Kraftwerk bevor sie Kraftwerk wurden."

Weitere Artikel: Michelle Ziegler führt Tagebuch auf ihrer Reise mit dem Zürcher Tonhalle-Orchester in Tokio und Seoul. Das für heute geplante Berliner Konzert des mit dem kroatischen Faschismus kokettierenden Sängers Thompson ist abgesagt worden, berichtet Danijel Majic in einem Hintergrundartikel für die Berliner Zeitung. Eric Pfeil schreibt Poptagebuch beim Rolling Stone. In der Spex porträtiert Jacqueline Krause-Blouin die australische Indie-Musikerin Courtney Barnett: Deren "sonderbare Art zu singen und ungewöhnlich zu phrasieren, ist reizvoll und angenehm anders." Auf Vimeo gibt es eine Hörprobe:



Besprochen werden das Berliner Konzert von Justin Timberlake (SZ, Tagesspiegel, Berliner Zeitung), das neue Album von Shakira (sehr brauchbar, meint Thomas Stillbauer in der FR, doch "leider ist der WM-Song Mist") und das erste Soloalbum des einstigen Blur-Sängers Damon Albarn (Jens Uthoff spricht in der taz von "einem melancholischen Feelgood-Album").
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