Efeu - Die Kulturrundschau

Noch so eine Zumutung

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06.03.2014. Kinder aus künstlicher Befruchtung als "Halbwesen" - die taz schaut entsetzt in den Abgrund von Sibylle Lewitscharoffs Bioethik. Und warum reagiert keiner, fragt Stefan Niggemeier. Der Freitag fragt, warum für den Echo-Musikpreis nur der ästhetische Bodensatz deutscher Popkultur nominiert wurde. Posieren vor der Kamera stiftet noch keinen Frieden, lernt die Welt bei einer Ausstellung des Street-Art-Künstlers JR.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.03.2014 finden Sie hier

Literatur

In der taz ist Dirk Knipphals immer noch geplättet von der Rede, die Sibylle Lewitscharoff am Sonntag im Dresdener Schauspielhaus über "Geburt und Tod" hielt. Sie plädierte für ein Onanieverbot, fand die Samenspende "abscheulich" und "grotesk" und jede Form von künstlicher Befruchtung "derart widerwärtig..., dass ich sogar geneigt bin, Kinder, die auf solch abartigen wegen entstanden sind, als Halbwesen anzusehen. Nicht ganz echt sind sie in meinem Augen, sondern zweifelhafte Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas". Dagegen kämen ihr "die Kopulationsheime, welche die Nationalsozialisten einst eingerichtet haben, um blonde Frauen mit dem Samen von blonden blauäugigen SS-Männern zu versorgen, fast wie harmlose Übungsspiele vor", zitiert Knipphals die Büchner-Preisträgerin und fragt: "Sind solche Abwertungen von Kinderwünschen, von elterliche Liebe und von Kindern eigentlich christlich? Wie religiöser Fundamentalismus ins Menschenfeindliche umschlagen kann, das kann man an dieser Rede jedenfalls gut studieren."

Auch Stefan Niggemeier ist entsetzt, und nicht nur über Lewitscharoffs Rede: "Ungeheuerlich ist auch, was danach passierte: fast nichts. Es gab keinen Aufschrei, keine bestürzten Reaktionen im Literaturbetrieb, der Sibylle Lewitscharoff seit Jahren mit Preis um Preis auszeichnet". Hier finden Sie die Rede zum Nachhören. Das Schauspielhaus hat sich inzwischen in einem Offenen Brief von Lewitscharoff distanziert.

In der FR spricht Ann Cotten im Interview über den Nutzen verschiedener Sprachen und das Schreiben. Sie selbst "beginnt jedenfalls nie mit einem leeren Blatt. Das leere Blatt ist nur ein Mittel, um etwas aufzuschreiben. Es gibt eine charakteristische Trias. Meistens ist es so etwas wie ein Setting oder eine Schönheit, etwas, worüber ich physisch gerne schreiben möchte. Dann ein Gedanke, eine Konstellation von Begriffen. Dann ein Funke: ein erster Satz, eine Geste, irgendetwas, was diese beiden Elemente in Verbindung setzt. Das ist die Eröffnung des Spiels."

In der NZZ stellt Martin Zingg die interaktive literarische Landkarte vor, die für den Auftritt der Schweiz an der Leipziger Buchmesse entworfen wurde.

Besprochen werden Jonathan Lethems neuer Roman "Der Gartten der Dissidenten" (Freitag, mehr hier), Frank Schätzings Doku-Thriller über die Geschichte Israels "Breaking News" (Tagesspiegel, Welt, Zeit, SZ) und Lukas Bärfuss" Roman "Koala" (NZZ). Mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr.
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Bühne

Wolfgang Behrens schreibt in der Berliner Zeitung den Nachruf auf den Theaterregisseur Fritz Marquardt. Einen weiteren Nachruf bringt die FR.

Besprochen werden Mark Andres in Stuttgart aufgeführte Oper "wunderzaichen" (Welt - mehr) und die Wiederaufführung der Philip-Glass-Oper "Einstein on the Beach" in Berlin (FAZ).
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Musik

Im Freitag ärgert sich Jörg Augsburg grün und blau über den Echo, der Ende des Monats wieder verliehen wird: Nominiert wurde dafür "ästhetischer Bodensatz deutscher Popkultur" und der einberufene Ethikrat, der die Nominierung der im vergangenen Jahr bereits skandalisierten Südtiroler Band Frei.Wild in diesem Jahr genehmigt hat, könnte musikferner kaum sein: "Um Menschen zu finden, die weiter weg von den aktuellen Gegebenheiten der Popmusik tätig sind, als buchstäblich alle der Ausgewählten, hätte man sich im - sagen wir mal - Maurerhandwerk oder bei Raketentechnikern bedienen müssen. ... Übertragen wird das alles dann im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Noch so eine Zumutung, für die man den Programmverantwortlichen der ARD gern links und rechts eine hinter die Löffel geben möchte, bis sie zu Verstand kommen."

Außerdem: In der Berliner Zeitung unterhält sich Jens Balzer mit Neneh Cherry. Ebenfalls dort hat Andreas Busche viel Freude am schlitzohrigen Berliner Auftritt von Bonnie "Prince" Billy.

Besprochen werden ein Konzert von Danny Brown (Berliner Zeitung), das neue Album von Metronomy (Zeit) und Helge Schneiders Rosenmontagskonzert (FR) und das neue Album von Beck (SZ).
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Film



Bereits auf der Berlinale wurde er bejubelt, nun kommt Wes Andersons neuer Film "Grand Budapest Hotel" auch regulär ins Kino. In der taz deutet Bert Rebhandl den Film sehr konzentriert innerhalb des größeren Werkzusammenhangs des Regisseurs und konstatiert: "Mit der Figur Zero lässt Wes Anderson seine Stilbesessenheit politisch werden. Denn er zeigt, dass es ein nacktes Leben auch in Uniform gibt, inmitten einer Gesellschaft, die auf Zeremoniell gebaut ist, im Herzen einer Lebensform, die sich (...) als Weltgesellschaft im Exil begreifen lässt."

Im Freitag meint Elena Meilicke dazu: "Stil, Pose, Dandytum (...) sind eben doch politisch."

Außerdem: Für den Freitag unterhält sich Verena Reygers mit dem Kulturwissenschaftler Patrick Catuz, der zu feministischer Pornografie forscht. Carolin Weidner (taz) stellt das Programm der Berliner feministischen Filmwoche vor, die am 08. März beginnt. Joachim Hentschel trifft sich für die SZ mit dem britischen Schauspieler Benedict Cumberbatch. In der Zeit schreibt Dominik Graf den Nachruf auf Alain Resnais.

Besprochen werden John Wells" neuer Film "Im August in Osage County" (Welt, Tagesspiegel, SZ) mit Julia Roberts und Meryl Streep, John Lee Hancocks "Saving Mr. Banks" mit Emma Thompson (Welt, NZZ, FAZ), Doris Dörries neuer Film "Alles inklusive" (Welt), der Dokumentarfilm über den Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi (taz, Tagesspiegel), die DVD von Johnnie Tos Hongkong-Thriller "Drug War" (Freitag), eine DVD von André Téchinés "Die Zeugen" (taz), Sérgio Andrades Film "A Floresta de Jonathas" (taz, critic.de), der Dokumentarfilm "Verbotene Filme" (critic.de) und der Dokumentarfilm "Alles was wir wollen" (Zeit).
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Kunst

Im Gespräch mit dem Deutschlandradio Kultur erläutert Felix Krämer, Kurator der Nolde-Ausstellung im Städel, warum er die Nazi-Vergangenheit Emil Noldes (der nach dem Krieg mit frommer Legende zum Staatskünstler aufstieg) nicht ins Zentrum stellt - auch wenn er sie keineswegs verleugnet: "Bei Nolde gibt es da natürlich ein Thema, das behandelt werden muss, aber wir haben keine Ausstellung gemacht über Nolde und die Nazis, sondern es ist eine Retrospektive, und in einer Retrospektive, die man 2014 zeigt, ist es selbstverständlich, dass man dieses Thema in aller Klarheit anspricht."



Den politischen Gehalt der in Baden-Baden ausgestellten Fotografien von des Street-Art-Künstlers JR, der unter anderem Palästinenser und Israelis beim Grimassieren für den Schnappschuss zeigt, hält Hans-Joachim Müller in der Welt für sehr überschaubar: "Tatsächlich gab sich das Israeli-Palästinenser-Projekt "Face 2 Face" der steilen Hoffnung hin, die verfeindeten Bevölkerungsgruppen würden hinter ihren Lachmasken nicht mehr zu unterscheiden sein. Was auf schon anrührende Weise naiv erscheint. Dass das Posieren vor der Kamera zur Versöhnung anstiften könnte, glaubt jedenfalls nur der Kameramann." (Bild: JR, "Women are heroes", Rio de Janeiro, Brazil, 2008-2009)

Weiteres: Ai Weiwei, ein Steuersünder? Die vom chinesischen Staat vorgeschobene Begründung dafür, den chinesischen Künstler vor drei Jahren verschleppt zu haben, ist bis heute haltlos, berichtet im Tagesspiegel Christiane Peitz von der Berliner Pressekonferenz vor der Eröffnung der großen Ai-Weiwei-Schau im April: Absurdes Theater: Der Staat ruft das Geld nicht ab, bis heute. Vermutlich, so Raue, um weiter behaupten zu können, es gebe ein schwebendes Verfahren." Siehe dazu auch einen Artikel von Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung. Außerdem berichtet Ingo Arend für die taz von einer Tagung in Karlsruhe, die sich mit Perspektive und Herausforderungen des Konzepts "Biennale" befasste. Und Ulf Meyer schreibt in der NZZ über Dominique Perraults "DC Tower" an der Donau in Wien.

Besprochen werden die Ausstellung "Dix/Beckmann: Mythos Welt" der Kunsthalle Mannheim (NZZ), die Richard-Hamilton-Retrospektive in der Londoner Tate Modern (Welt), Ausstellungen antiker Kunst in Martigny und Genf (NZZ), die Nolde-Retrospektive im Frankfurter Städel (Zeit) und eine Ausstellung zu Robert Musil im Ersten Weltkrieg im Münchner Literaturhaus (FAZ).
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