Efeu - Die Kulturrundschau

Schon wieder lüsterne Nonnen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
21.01.2014. Alle trauern um Claudio Abbado. Die FAZ erinnert an den Revolutionär, der Verdis "Don Carlo" entstaubte. Die Berliner Zeitung lobt seine Arbeit mit Arbeitern. Und die Welt würdigt ihn als den Mann, der die Streicher das Streiten lehrte. Außerdem: der Tagesspiegel stellt die gemeinsame Arbeit der Komponistin Malin Bång und der Architektin Anna Kubelik für das Ultraschall-Festival in Berlin vor. Im Merkur-Blog lesen Holger Schulze und Dominique Silvestri ein weiteres Kapitel aus dem Journal der Brüder Goncourt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.01.2014 finden Sie hier

Musik

Berliner Zeitung - "Nun ist er gestorben, der größte Dirigent unserer Zeit" - so beginnt Peter Uehling seinen Nachruf auf Claudio Abbado, der gestern mit 80 Jahren in Bologna starb: "Abbados Größe beruht auf einem Musikverständnis, dessen historisches Bewusstsein und soziales Verantwortungsgefühl in der von Eitelkeiten strotzenden Geschichte der großen Dirigenten einzigartig sind. Soziales Verantwortungsgefühl ist heute über Education-Programme institutionalisiert und dient am Ende doch nur der Sicherung des zukünftigen Publikums. Das war nie Abbados Perspektive, als er in den Siebzigerjahren als Chef der Mailänder Scala mit seinen kommunistischen Freunden Luigi Nono und Maurizio Pollini in italienischen Fabriken Arbeiterkonzerte veranstaltete."

FAZ - Online beschreibt Gerhard R. Rohde, wie sehr Abbado daran arbeitete, sich vom "lähmenden Traditionalismus" der klassischen Musik in den 50er Jahre abzusetzen. "Dabei hat er es sich nie bequem gemacht. Als Chefdirigent der Mailänder Scala verfolgte er eine Doppelstrategie: die Reinigung und Reaktivierung der Klassiker und die Innovation von Repertoire wie Aufführungsstil. Manche Rossini- und Verdi-Partituren, ob 'Barbiere', 'Cenerentola' oder 'Macbeth' und 'Simon Boccanegra' (übrigens ein erklärtes Lieblingsstück) hat er gründlich entstaubt. Verdis 'Don Carlos' [mit viel Geduld bei Youtube] im fünfaktigen französischen Original begriff und bot er als total neues Stück - und hat damit bis heute die Rezeptionsperspektiven geschärft."

Außerdem:

Tagesspiegel: Abgedruckt ist ein Text von Abbado: "Wie mir mein Vater die Magie der Musik näher brachte"
NZZ - Peter Hagmann zeichnet den Lebensweg Abbados nach.
FR - Stefan Schickhaus würdigt Abbados Sinn für "Transparenz und Struktur"
Welt - Manuel Brug würdigt die Entscheidung der Berliner Philharmoniker 1989 für Abbado: "Man hat seither bei den Berliner Philharmonikern gelernt, zu streiten, zu reden und dann wie neu zu musizieren".
FAZ - Im Print würdigt Eleonore Büning den charismatischen Dirigenten, leider ohne zu erwähnen, wie kritisch sie ihn noch 1997 in einem aufsehenerregenden Artikel in Bilder und Zeiten als selten probenden Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker sah.
Spiegel - Ein Artikel von Klaus Umbach im Spiegel 1998 erinnert daran, wie sehr Abbados Sanftheit deutschen Kritikern auf die Nerven ging: "Abbado indes fehlt das Charisma, das einen leitenden Angestellten erst zur Leitfigur macht und aus Inspiration Faszination."

Und hier, strahlend jung, Claudio Abbado, Renata Scotto, Marilyn Horne, Luciano Pavarotti und Nikolaj Gjaurow mit Verdis Requiem 1970 in der Basilika Santa Maria sopra Minerva in Rom:



Weitere Artikel:

Tagesspiegel - Carsten Niemann stellt die gemeinsame Arbeit der Komponistin Malin Bång und der Architektin Anna Kubelik vor, die am kommenden Freitag im Rahmen des Ultraschall-Festivals in Berlin zu sehen sein wird. Eine Kostprobe von Bångs Arbeit auf Youtube:



Außerdem werden besprochen

NZZ - Richard Strauss' "Elektra" unter Christian Thielemann in Dresden, inszeniert von Barbara Frey
SZ - Bereits am Samstag im Print, jetzt online nachgereicht: Helmut Maurós Besprechung einer großen Kassette mit fast allen Carnegie-Hall-Konzerten des Pianisten Vladimir Horowitz.
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Literatur

Merkur - Zweite Lieferung eines der derzeit spannendsten Blog-Projekte: Ein Jahr lang lesen Holger Schulze und Dominique Silvestri das gerade in voller Länge veröffentlichte Journal der Brüder Goncourt. Im Mittelpunkt diesmal: Überlegungen zu den ausführlichen Schilderungen der Gepflogenheiten von Prostitution: "Warum übergehen die allermeisten Rezensenten dieses überbordend auffällige Merkmal der Tagebücher? Gab es deshalb noch keine Rezensionen durch Kritikerinnen, weil die Tagebücher eben auch derart verknarzte Altherrenbücher sind? ... Ein bürgerliches Leben, partiarchal-hegemonial natürlich, ist im Paris jener Zeit kaum vorstellbar ohne solche Sexualgeschäfte, die offenbar ganz unbeeindruckt von nebenher bestehenden ehelichen Verträge abgeschlossen werden. Uns beiden ist dieser Lebensstil nicht zueigen." Die erste Lektüre gibt es hier.

FAZ - Niklas Bender rät in seiner Besprechung von Ahmadou Kouroumas Roman "Monnè", den hierzulande kaum bekannten, 2003 gestorbenen ivorischen Schriftsteller zu entdecken: Seine Romane "sind mit Zeitgeschichte gesättigt: Sie erzählen von der Kolonialisierung und ihren Folgen, kommunistischen oder diktatorischen Regime, Hungersnöten, Bürgerkriegen."

Außerdem besprochen werden:

NZZ - Valeria Luisellis Essayband "Falsche Papiere (hier eine Leseprobe im Perlentaucher)

Mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr. Außerdem ein Stöber-Tipp: Unter Handke Online sind seit kurzem die Werkmaterialien Peter Handkes (mehr) einsehbar (via SZ).
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Kunst

Lensculture: Vorgestellt werden Fotografien von David Favrod, einem Japanisch-Schweizerischen Künstler, dessen Serie "Hikari" den ersten Preis der LensCulture Exposure Awards gewann. "Hikari", erklärt Favrod in einem kurzen Begleittext, "ist das japanische Wort für Licht. Diese Arbeit repräsentiert den Druck, mein eigenes Gedächtnis aufzubauen und zu formen. Um einige Fakten zu rekonstruieren, die ich nicht selbst erlebt habe, die mich aber unbewusst beeinflusst haben." Dazu gehört die japanische Kultur, der Favrod, der mit sechs Monaten mit seiner Mutter in die Schweiz zurückkehrte, offiziell nicht angehört. (Bild: Pixel Camouflage. Im Mai 1942 wurde das Himeji Schloss getarnt, um es vor Angriffen zu schützen. Aus der Serie "Hikari", © David Favrod)

Außerdem besprochen:

FAZ - die Ausstellung "Paradetextilien Augusts des Starken 1697 - 1719" im Dresdner Residenzschloss
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Stichwörter: Mutter, Unbewusste

Film

NYRB - Im Blog der NYRB begreift Elaine Blair nicht, warum selbst in einem Film von Spike Jonze ("Her", kommt Ende März in deutsche Kinos) die Frauen aussehen müssen wie überirdische porenlose Erscheinungen, was gerade diesem Film über Menschen, Maschinen und menschenähnliche Maschinen den Stachel nehme.

NZZ - Marion Löhndorf über die 3. Staffel der BBC-Serie "Sherlock" mit Benedict Cumberbatch.
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Bühne

Nachtkritik - Nach ihrem Wechsel vom Deutschen Theater Berlin debütiert Nina Hoss an der Schaubühne in Thomas Ostermeiers Inszenierung von Lillian Hellmans "Kleine Füchse". Für Christian Rakow gehörte dieser Abend ganz den Frauen - und das Stück hält er für Ostermeier wie auf den Leib geschnitten. Recht überzeugt ist er dennoch nicht: "Man spielt gediegen, gebremst, ohne - um im Bild zu bleiben - den letzten Biss. Und eben das erinnert denn doch eher an die Kudamm-Nachbarschaft".

FAZ - Dass Irene Bazinger nur Augen für die Hoss hat, mag auch an Ostermeiers zurückhaltender Inszenierung liegen: "Einerseits eiskalter Racheengel, andererseits ungerührt entsorgtes Frauenopfer, zwingt ihre listig taktierende Regina die versammelte Männerwelt in die Knie. (...) Alle entlarvt sie als muffige Waschlappen." Auch ansonsten viel Lob, für Regisseur und vor allem die Autorin, die Bazinger zu entdecken rät.

SZ - Griesgrämiger dagegen Peter Laudenbach: Der hatte sich im Vorfeld einiges versprochen, fand sich dann aber doch nur in "einer moralisierenden Kapitalismuskritik auf 'Dallas'-Niveau" wieder. Immerhin: Nina Hoss schaut er immer wieder gerne dabei zu, wie sie den "Typ der gelangweilten bis angewiderten Diva" gibt, auf den sie im Theater längst festgelegt sei.

Weitere Besprechungen gab es gestern bereits im Tagesspiegel, in der Berliner Zeitung, in der Welt und in der taz.

FAZ - Selten zu sehen, nun an der Komischen Oper Berlin: Sergej Prokofjews "Der feurige Engel". Jan Brachmann hebt insbesondere die Leistungen der Sängerin Svetlana Sozdateleva hervor, auch wenn er bedauert, dass die Regie "aus ihr von vornherein eine arme Irre" macht. Und wenn am Ende schon wieder lüsterne Nonnen auf der Bühne stehen, wird er auf einmal sehr grundsätzlich: "Nonnen auf der Opernbühne sind auffällig oft Frauen, die ständig die Pfanne heiß und nicht mehr alle Gurken im Glas haben. Man muss hier mal die quellenkritische Frage der Aufklärung stellen: Männer, woher wisst ihr das eigentlich?"

Berliner Zeitung - Peter Uehling wundert sich unterdessen, dass das Stück so rar ist: die "Musik gehört zum Glühendsten und Aufregendsten, was Prokofjew geschrieben hat". Kai Luehrs-Kaiser (Welt) winkt da nur müde ab: Das ist allenfalls ein "ziemlich hochdramatisches Wagner-Derivat" - und auch ansonsten ist er reichlich gelangweilt und genervt.

Außerdem besprochen

Taz - Karin Beiers Saison- und Intendanzauftakt am Hamburger Schauspielhaus mit "Die Rasenden". Zuvor berichteten bereits FAZ, NZZ, Welt, Tagesspiegel, Nachtkritik und Deutschlandradio Kultur.

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Design

NYT - Haute-Couture-Schauen in Paris! Bei Dior zeigte Raf Simons geometrische Formen in Blau und weiß. Suzy Menkes ist mäßig begeistert: "Er benutzt weiß und blau, aber das überwältigendste Gefühl war das Weiß: Kleider in mehreren Schichten mit einer blassen Farbe in den eingestanzten Löchern. Die Oberfläche erinnert an eine Honigwabe, sie verleiht einen dreidimensionalen Effekt. Andere Kleider werden auf einer Seite in die Diagonale geweht. Das Ergebnis? Hübsch und tragbar, wenn auch etwas eindimensional in der Form."

Mehr über die Schauen in der New York Times hier. Bilder zur Dior-Schau hier.
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