Bücherbrief

Maskierte Kolportagen

05.11.2009. Yiyun Li lauscht den Bekenntnissen einer Rotgardistin. Barbara Bongartz mordet für einen Courbet. Herta Müller erzählt von ihrer Kindheit im Banat. Daniel Jonah Goldhagen fordert eine Debatte heraus. Alex Ross eigentlich auch. Carl Gustav Jung enthüllt seine Träume. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats November.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Herbst 2009, den Leseproben in Vorgeblättert und in den Büchern der Saison vom Herbst 2008.


Literatur

Yiyun Li
Die Sterblichen
Roman
Carl Hanser Verlag, München 2009, 378 Seiten, 21,50 Euro



Es ist das Jahr 1979 in China und die ehemalige Rotgardistin Gu Shan soll hingerichtet werden, weil sie nicht mehr dem Kommunismus folgt. Yiyun Lis Debütroman "Die Sterblichen" ist eine Geschichte über das postmaoistische China, über einen "Kosmos des Grauens, dem man sich kaum entziehen kann", wie eine beeindruckte Susanne Kegel in der FAZ festhält. Ulrich Baron in der SZ geht sogar noch einen Schritt weiter: nicht nur hat er eine "sehr chinesische Geschichte" gelesen, er hält sich auch nicht zurück, den Titel "Weltliteratur" diesem Buch zuzusprechen. Und als Dritter stimmt Johannes Groschupf in der Berliner Zeitung in den Lobgesang ein, der Yiyun Li "Mut", "geduldig gebändigten Zorn" und "erzählerische Meisterschaft" bescheinigt. Von der Vielzahl der Besprechungen in den USA und Großbritannien sei auf Pico Iyers Rezension in der New York Times Book Review hingewiesen.


Barbara Bongartz
Perlensamt
Roman
Weissbooks, Frankfurt am Main 2009, 320 Seiten, 19,80 Euro



Kunst und Mord, Courbet und Beutekunst - Barbara Bongartz' Krimi "Perlensamt" wandert durch die Szenerie des Kunstgeschäfts und treibt ein Versteckspiel auf abseitigen Spuren. Martin Zingg in der NZZ jedenfalls hat sich gern unter "Bongartz' kluger Regie zum Narren" halten lassen und zeigt sich beeindruckt von dem Tempo und der spielerischen Unschärfe des Romans. Auch Rose-Maria Gropp in der FAZ lobt den Roman, dessen Geschichte Bongartz "in raffinierter Tektonik und außerordentlich spannend" erzählt, und das mit allerlei Kolportage-Versatzstücken. Im gleichen Ton spricht Brigitte Werneburg in der taz von einer "als Kriminalroman maskierten Kolportage", die "allerdings literarisch raffiniert erzählt" ist. Das Buch stand auf der Hotlist 2009 (man muss weit nach unten scrollen, um die Liste zu finden!), einer Buchpreis-Liste für eine Auswahl von Independent-Verlagen.


A. L. Kennedy
Was wird
Erzählungen
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2009, 224 Seiten, 19,90 Euro

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Auch mit ihren Kurzgeschichten "Was wird" beglückt A.L. Kennedy die Kritiker: Entblößte Seelen, funktioneller Sex, sublimierter Horror - alles, was sie in den Romanen der schottischen Autorin schätzen, haben sie auch hier wiedergefunden, vielleicht sogar noch besser, weil komprimierter. In der FAZ empfiehlt Wolfgang Schneider den Band nachdrücklich: die Form der Kurzgeschichte sei ganz hervorragend geeignet für Kennedys Erzählstil, ihre Formulierungskunst und ihre Komik. In der NZZ bewundert Angela Schader diese "literarische Hexenmeisterin" und ihre Gabe, Liebe, Gewalt und Sexualität immer wieder neu zu verschränken. Die taz mag Kennedy schroffen Stil ebenso wie ihren "menschenfreundliche Pessimismus".


Brigitte Kronauer
"Zwei schwarze Jäger"
Roman
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2009, 286 Seiten, 21,90 Euro



Brigitte Kronauers Roman "Zwei schwarze Jäger" erzählt von einer Schriftstellerin und den Figuren, die sie erfindet: eine ältere Frau im Rollstuhl, eine Mörderin, die Selbstmord begeht, eine abgelegte Mätresse, einen Lektor, der sich in einen Kellner verliebt, eine sich prostituierenden Kassiererin ... Die Konstruktion erinnert NZZ-Kritiker Roman Bucheli an Robert Altmans "Short Cuts". Er findet den Roman nicht nur "wunderlich amüsant", sondern erspürt hinter den einzelnen Geschichten auch eine verbindende Sinnstruktur. Jürgen Verdofsky in der FR und Ingeborg Harms in der FAZ waren von der stilistischen Brillanz Kronauers so hingerissen, dass sie in ihren Kritiken förmlich abhoben. SZ-Kritiker Lothar Müller durchlebt bei der Lektüre eine märchenhafte Verwandlung der Gegenwart.


Hörbuch

Herta Müller
Die Nacht ist aus Tinte gemacht
Herta Müller erzählt ihre Kindheit in Banat
Suppose Verlag, Berlin 2009, 2 CDs, 24,80 Euro



Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller spricht über ihre Kindheit im rumänischen Banat. Das Interview-Hörbuch des Suppose-Verlags gibt dabei Einblick in eine rumänische Nachkriegszeit, die für Herta Müller eine Zeit der Gewalt und einer heftigen Auseinandersetzung mit Sprache ist. Besonders die Stimme Herta Müllers hat die Rezensenten beeindruckt, die hier eine Spiegelung ihres Werks und ihrer Persönlichkeit hören. Wilhelm Trapp in der Zeit etwa bemerkt das "Monument der Fremdheit" in Müllers Stimme, das sie selbst mehrmals in ihren Büchern beschrieben habe. In der FAZ lobt Felicitas von Lovenberg die Eindrücklichkeit von Müllers Beschreibungen, die nicht nur die Persönlichkeit der Schriftstellerin vermittelten, sondern gleichsam der "Persönlichkeit ihrer Sprache". Und im Tagesspiegel hat Susanne Kippenbergerd mit angemessenem Ernst gehört, wie Müller "atemlos und ganz präzise" von ihrer unidyllischen Kindheit erzählt. Einen sehr guten Eindruck von Müllers Sprechen bekommt man bei Lyrikline.


Sachbuch

Daniel Jonah Goldhagen
Schlimmer als Krieg
Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist
Siedler Verlag, München 2009, 685 Seiten, 29,95 Euro

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Daniel Goldhagen ist mit seinen scharfen Thesen immer für eine Debatte gut. Ob die Thesen - wie etwa die seinerzeit heftig diskutierte Behauptung eines quasi "genetischen" Antisemitismus der Deutschen - am Ende richtig sind, ist vielleicht sogar sekundär. Zumindest wenn die Eingangsfragen richtig gestellt sind, tragen solche Debatten schließlich zum Erkenntnisprozess bei. In seinem jüngsten Buch "Schlimmer als Krieg" erkennt Goldhagen hinter Genoziden auch ein rationales politisches Kalkül, und er fordert einen westlichen Interventionismus, auch gegen den den Willen der UNO, die seiner Meinung nach Genozide eher begünstigt als verhindert (so legte er es in einem Interview im Standard und in einem Welt-Interview dar). Jan Süselbeck antwortet in der taz mit dem bekannten Argument der Linken auf Vergleiche "linker" oder "postkolonialer" Genozide mit dem Holocaust: Man müsse differenzieren und dürfe die Einzigartigkeit des Holocaust nicht in Frage stellen. Harald Welzer, selbst Holocaustforscher und düsterer Prophet kommender Klimakriege, legt Goldhagens Buch in der Zeit noch schneller zur Seite. Goldhagen sei uninformiert. Es ärgert Welzer auch, dass Goldhagen einfach selber denkt und darauf verzichtet, der akademischen Forschung die nötigen Reverenzen zu erweisen. Welzer rät darum, das Buch totzuschweigen: "Bitte keine Debatte", lautet die Überschrift seines Artikels.


Charles Taylor
Ein säkulares Zeitalter
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, 1298 Seiten, 68 Euro.

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Einhellig positiv ist das Echo auf Charles Taylors monumentale Studie "Ein säkulares Zeitalter", die als die Summe dieses kanadischen Philosophen, gläubigen Katholiken und Multikulti-Künders gelten darf. Taylor versucht darin, sofern man den Argumenten der Kritiker folgen kann, den Prozess der Säkularisierung aus Impulsen der christlichen Religion selbst zu erklären. Völlig frei von Melancholie scheint er diesen säkularen Prozess der Entzauberung am Ende aber nicht betrachten können. Der linkskatholische Philosoph Otto Kallscheuer hat das Buch in der Zeit begeistert begrüßt. Und gerade die Melancholie der am Schluss entfalteten "existenziellen Dilemmata" und Phantomschmerzen über den Tod Gottes hat es ihm natürlich angetan. In der SZ lobt der Münchner Politologe Dirk Lüddecke den langen Atem und den intellektuellen Horizont des Autors, ferner seine Fähigkeit zur geistigen Zusammenschau. Christian Geyer sieht die mangelnde Systematik des Werks in seiner FAZ-Kritik nicht als Nachteil - dafür hat es ihm zuviel Erkenntnisgewinn gebracht.


Carl Gustav Jung
Das Rote Buch
Patmos Verlag, Düsseldorf 2009, 402 Seiten, 168,00 Euro

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Seltsam: In Deutschland scheint dieses "Rote Buch" des dunkel raunenden Freud-Schülers gar nicht so eine Sensation zu sein, dem New York Times Magazine aber war es einen riesenhaften Hintergrundartikel wert: "The Holy Grail of the Unconscious". In dem ganz privaten, prächtig illuminierten und in altgotischer Schrift verfassten Buch legte der Tiefenpsychologe 16 Jahre lang seine Visionen, Träume und Halluzinationen nieder. Allen, die nicht Tiefenpsychologen sind, mag es verrückt erscheinen: Für die einen ist es das Dokument einer drohenden oder schon ausgebrochenen Schizophrenie, für die "Jung-Gemeinde" eine "Offenbarung", schreibt Andrea Köhler in der NZZ. In ihren Augen aber ist der Faksimileband nicht zuletzt ein überaus beeindruckendes Kunstwerk, zeigen doch die vielen Illustrationen, Mandalas und kalligrafischen Bibelzitate große handwerkliche und erfinderische Meisterschaft, wie sie preist.


Alex Ross
The Rest is Noise
Das 20. Jahrhundert hören
Piper Verlag, München 2009, 703 Seiten, 29,95 Euro

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Ein Gesamtpanorama der klassischen Musik des 20. Jahrhunderts eröffnet Alex Ross, Musikkritiker des New Yorker, in seinem Buch "The Rest is Noise". Von Mahler und Strauss über Debussy, Schönberg und Strawinsky bis zu Stockhausen, Reich und John Coltrane. Volker Hagedorn mochte das Buch überhaupt nicht, wie er in der Zeit sehr deutlich machte, und diagnostizierte bei Ross eine schwere Form von "Teutonenhass", der sich ihm in unqualifizierten Urteilen über Webern oder Lachenmann zeigte und dem Vorwurf, die Deutschen hätten der Musik des 20. Jahrhunderts die Melodie geraubt. In der SZ war Tobias Lehmkuhl dagegen begeistert von diesem schwungvollen und unterhaltsamen Buch, aus dem er sowohl die "tosenden Wasser wie plätschernden Bächlein" der modernen Musik vernahm. Besonders gefällt ihm, dass er sich die angeführten Musikbeispiele auf Ross' Website The Rest is Noise anhören konnte. In der New York Times dankt Geoff Dyer dem Autor dafür, jetzt hörender zuhören zu können. (Komponisten, vor allem den 17-Jährigen sei noch dieser Interviewausschnitt mit Glenn Gould über Schönberg, Webern und Berg ans Herz gelegt.)


Dieter Richter
Der Süden
Geschichte einer Himmelsrichtung
Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2009, 220 Seiten, 24,90 Euro

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Wunderbar geglückt findet Adam Soboczynski in der Zeit diese Kulturgeschichte des Südens, in der sich für ihn "Erzählung und Argument" auf ideale Weise verbinden. Richter erkundet darin den Mythos einer Himmelsrichtung, die lange Zeit eher Schreckensbild denn Sehnsuchtsort war. Und er tut dies, darin sind sich die Rezensenten einige, sehr gelehrt und sehr unterhaltsam, ohne jemals aufdringlich zu werden. Im SZ-Rezensenten Burkhard Müller weckte das Buch den "intensiven Wunsch", es wäre dicker geworden, so gern hat er über den exotischen Süden gelesen, den kolonialisierten, den dekadenten und den polaren Süden. Für die NZZ setzt dieser Band "Maßstäbe für anspruchsvolle kulturwissenschaftliche Essayistik".


Bildband

Stefan Gronert
Die Düsseldorfer Fotoschule
Fotografien 1961-2008
Schirmer und Mosel Verlag, München 2009, 320 Seiten, 68 Euro



Gerhard Richter, Bernd und Hilla Becher, Andreas Gursky und Thomas Demand - was an Namen um die Düsseldorfer Fotoschule kreist, ist international bekannt. Umfassende Ausstellungen gab es in den letzten Jahren gleich mehrere (etwa hier und hier). Mit Stefan Gronerts Fotoband ist allerdings jetzt erst eine gedruckte Gesamtschau erschienen, so der überaus animierte Holger Liebs in der SZ, der Gronert denn auch für diese Pionierleistung dankt. Der Band könne dabei gut auch als Ausgangspunkt für weitere, detailliertere Studien dienen. Ein Gespräch zur Fotosammlung kann man beim wdr3-Magazin "Mosaik" anhören.