Bücherbrief

Kühl, doch grob gekörnt

04.01.2016. Auch nach Weihnachten brauchen wir Bücher: Zum Beispiel Giorgio Fontanas Roman "Tod eines glücklichen Menschen" über die "bleierne Zeit" in Italien, oder Anne Enrights scharf gezeichnetes Familienporträt in "Rosaleens Fest". Viel gelobt auch Manfred Mittermayers Thomas-Bernhard-Biografie und Wolfgang Behringers klimahistorische Recherche über den Vulkanausbruch des Tambora und die Folgen im 19. Jahrhundert.
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Literatur

Giorgio Fontana
Tod eines glücklichen Menschen
Roman
Nagel und Kimche Verlag 2015, 256 Seiten, 19,90 Euro



Patric Seibel zitiert in seiner Kritik für den NDR eine Passage aus Giorgio Fontanas Roman, die seine atmosphärische Kraft belegt: "Die Luft draußen war kühl, doch grob gekörnt. Man konnte sie essen. Sie drang durchs offene Autofenster, und Colnaghi verschlang sie auf seiner Fahrt nach Mailand in großen Happen." Mit großem Interesse wurde von der Kritik verzeichnet, dass ein Autor, der in der "bleiernen Zeit" erst geboren wurde, versucht, sich in die dunkle Seele linker Terroristen, aber auch eines ermittelnden Staatsanwalts einzufühlen. Jochen Schimmang würdigt in der FAZ wie die anderen Rezensenten die akribische Recherche des Autors, die den Roman zu einer "mentalitätsgeschichtlichen Mikrostudie" mache.

Anne Enright
Rosaleens Fest
Roman
Deutsche Verlags-Anstalt 2015, 384 Seiten, 19,99 Euro



Der perfekte Roman für alle, bei denen es Weihnachten nicht so gelaufen ist. Das Setting liest sich eigentlich, als sei es fürs Theater gemacht. Die vier Kinder einer irischen Matriarchin versammeln sich zu Weihnachten zum letzten Mal im Familienhaus, bevor es verkauft wird. Spaß macht es nicht, außer allen, die die Katastrophe lesend nachvollziehen. Es sind die Präzision in den Details, die satirische Kraft, die Nüchternheit der Betrachtung, die die Rezensenten in FAZ, SZ und FR verführt haben. Der Guardian brachte im August ein lesenswertes Interview mit Enright über die achtziger Jahre in Irland, die Migration aus einer bedrückenden katholischen Gesellschaft, die Austerität im Lande und die Modernisierung durch EU und Globalisierung, die sogar in der Anerkennung der Homoehe gipfelte.

Horacio Castellanos Moya
Der Traum von Rückkehr
Roman
S. Fischer Verlag 2015, 176 Seiten, 19,99 Euro



Um den Namen Roberto Bolaño kommt offenbar nicht herum, wer sich über den salvadorianischen Schriftsteller Horacio Castellanos Moya äußert, was wohl auch daran liegt, dass Bolaño seinem Kollegen einst einen begeisterten Artikel widmete. In seinem Roman "Der Traum von Rückkehr" geht es um einen psychisch labilen Journalisten im mexikanischen Exil, der Anfang der Neunzigerjahre eine Rückkehr in die Heimat erwägt und sich zuvor noch einem Therapeuten und Hypnotiseur anvertraut. "Großartig berauschende Literatur" ist das für Hans-Jost Weyandt (SpOn), und von Stefanie Gerhold kongenial übersetzt, wie die Rezensenten versichern. Als spannend, amüsant und hinsichtlich des oppositionellen Kampfes in El Salvador ungemein informativ beschreibt Katharina Teutsch den Roman in der FAZ, und Albrecht Buschmann würdigt den Autor in der NZZ in einem ausführlichen Portät samt nachdrücklicher Leseempfehlung. Nur Marko Martin (Welt) vermag in dem Roman statt literarischer Klasse bloß Prätention erkennen und weist den Bolaño-Vergleich von sich. Im Gespräch mit Michi Strausfeld im Fischer-Blog Huntervierzehn spricht Moya über den autobiografischen und politischen Hintergrund seines Romans.


Joachim Meyerhoff
Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke
Roman. Alle Toten fliegen hoch, Teil 3
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2015, 352 Seiten, 21,99 Euro



Nichts als helle Begeisterung ruft der dritte Teil von Joachim Meyerhoffs autobiografischem Romanzyklus "Alle Toten fliegen hoch" bei den Kritikern aus. Nach der Kindheit auf dem Gelände einer riesigen Psychiatrie und dem Austauschjahr in Amerika geht es diesmal um das Schauspielstudium in München und das Leben mit seinen großbürgerlichen Großeltern in Nymphenburg. Als Entwicklungs-, Künstler- und Familienroman beschreibt Christian Schröder (Tagesspiegel) das Buch, vielleicht nicht ganz so präzise wie Knausgård, aber dafür so witzig wie Loriot. Mit untrüglicher Balance zwischen ironischer Distanz und Tragik umschifft Meyerhoff dabei den Kitsch, betont Christoph Schröder in der FR. Wie Meyerhoff Situationen erspüren und Räume beschreiben kann, wie er Vergangheit assoziativ und "erfindend rekonstruiert", ringt Sandra Kegel (FAZ) höchste Bewunderung ab. "Ein wunderbares Buch!", jauchzt auch Knut Cordsen im DradioKultur und bekennt, dass er beim Lesen fast auf jeder Seite lachen musste. Für die Zeit haben sich Charlotte Parnack und Kilian Trotier ausführlich mit Meyerhoff unterhalten.

Atticus Lish
Vorbereitung auf das nächste Leben
Roman
Arche Verlag 2015, 528 Seiten, 24,99 Euro



Was haben eine illegal in die USA eingereiste uigurische Kriegswaise und ein drogensüchtiger amerikanischer Irakveteran gemeinsam? Nicht die Sprache. Sie verstehen einander kaum, aber das macht nichts, weil sie eh beide etwas wortkarg sind. Und doch entwickelt sich etwas zwischen ihnen, das die meisten Kritiker mitgehen ließ. Vielleicht liegt es aber auch an der Sprache des Autors Atticus Lish, Sohn des berühmten Carver-Lektors Gordon Lish. Er hat eine Sprache für den "Zustand der wahrhaften Globalisierung" gefunden, versucht es in der Zeit Burkhard Müller zu fassen, ein chaotisches "Bild ohne Linien und Konturen". In der FR ist Sabine Vogel gebannt von Lishs "messerscharfem" Naturalismus, der Empathie für seine Protagonisten nicht ausschließt. Kurz: eine "Great American Novel", wie der Schriftsteller Peter Henning bei Faust Kultur versichert, die zudem von Michael Kellner exzellent übersetzt wurde.

Sachbuch

Manfred Mittermayer
Thomas Bernhard
Eine Biografie
Residenz Verlag 2015, 456 Seiten, 28 Euro



Gerade durch wohlrecherchierte, faktendicke, manchmal korrigierende Ausführlichkeit weiß diese Biografie zu überzeugen, schreibt Gisela Trahms in der Welt. Wie fast alle Rezensenten (leichte Reserven hat Hannes Hintermeier in der FAZ) gefallen ihr die Nüchternheit und Klarheit von Mittermayers Arbeit, die mit dem "kataraktischen Stil" Bernhards (so Karl-Markus Gauß in der NZZ) wohltuend kontrastiere. Als eine erste fundierte Biografie über den immer noch sehr populären Dramatiker also sehr brauchbar! Zumal sie gegen einige Widerstände der auf dem Erbe sitzenden Nachfahren und Funktionäre zustande kam! Informationen hierzu finden sich bei Glanzundelend.de. Die Bernhard-Stiftung hat sogar die "Wortmarke" Thomas Bernhard schützen lassen! Der Standard brachte einen Auszug aus der Biografie. Passend und gerade erschienen der letzte Band in der 22-bändigen Bernhard-Werkausgabe von Suhrkamp: Journalistisches. Reden. Interviews (), der Karl-Markus Gauß (SZ) zwischen Bewunderung und Entsetzen hin und her schwanken ließ.

Riccardo Chailly
Das Geheimnis liegt in der Stille
Gespräche über Musik
Henschel Verlag 2015, 200 Seiten, 22,95 Euro



Klassische Musiker über Musik reden zu hören, ist zuweilen qualvoll. Da wird über Emotionen und Tiefe und völkerverbindende Kraft salbadert, und alles, was an Musik und der Welt der Musik schroff ist, wird weggeredet. Ganz so scheint es hier nicht zu sein. Wolfgang Schreiber vermerkt in der SZ, dass der Dirigent Riccardo Chailly seine Darlegungen mit vielen Beispielen würzt, was zeigt, dass es ihm wirklich um Analyse geht. Eindringlich bespricht Dirk Hühner den Band im Berliner Kulturradio. Er verschweigt nicht, dass es auch bei Chailly die notorischen gefühligen Ungenauigkeiten im Reden über Musik gibt - aber auch wesentlich mehr: ein starkes (und fälliges!) Plädoyer für Edgar Varèse und eine geradezu pathologische, und darum glaubhafte Ehrfurcht für Bach, "den er fast nicht aufzuführen wagt. Solche Skrupel vermutet man kaum bei einem internationalen Spitzendirigenten."

Hier dirigiert Chailly Varèses euphorisch dissonantes Manifest für Amerika - "Amériques":



David G. Haskell
Das verborgene Leben des Waldes
Ein Jahr Naturbeobachtung
Antje Kunstmann Verlag 2015, 328 Seiten, 22,95 Euro



Ein Jahr lang hat der amerikanische Biologe David Haskell einen Quadratmeter Wald immer wieder besucht und alles beobachtet, was von den Wurzeln bis zu den Wipfeln wächst oder sich bewegt: Pflanzen, Pilze, Käfer, Moose, Schnecken, Salamander oder Mücken. Jedes Detail "nimmt Haskell zum Anlass, um Herkunft der Tiere und Pflanzen, ihre Lebensweise, Fortpflanzung und Verbreitung, ihre ökologische Bedeutung und ihre Beziehung zum Menschen auszubreiten", schreibt ein begeisterter Jürgen Schicking in der Badischen Zeitung. Er lobt auch die einfache und poetische Sprache, die, wie Johannes Kaiser im DRadio Kultur versichert, auch wissenschaftlichen Analysen nicht im Wege steht. In der FR war Sylvia Staude höchst inspiriert von diesem Einblick in die wundersamen Wirkungsweisen der Natur. Der NDR empfahl es als Sachbuch des Monats. Und Petra Wiemann bittet in ihrem Blog: "Lieber Kunstmann Verlag: Mach doch bitte ein Hörbuch daraus!"

Ursula Prutsch
Eva Perón
Leben und Sterben einer Legende
C. H. Beck Verlag 2015, 251 Seiten, 16,95 Euro



Andrew Lloyd Webber verewigte Eva Perón bereits 1978 in seinem Musical "Evita", jetzt liegt endlich auch eine anspruchsvolle politische Biografie über sie vor. Als "eine Melange aus modernem Märchen und antiker Tragödie" beschreibt Friederike Bauer in der SZ das Leben der ehemaligen First Lady Argentiniens, wie Ursula Prutsch es schildert: als uneheliches Kind und erfolglose Schauspieler lernt sie den damaligen Minister Juán Domingo Perón Sosa kennen und bildet mit ihm ein Power-Paar, das zusammen die Spitze des Staates erklimmt und die Herzen der Landsleute erobert. Ihr märchenhafter Aufstieg und ihre Mildtätigkeit sind sind ebenso fester Bestandteil ihres Mythos wie ihre Schönheit und ihr Krebstod mit nur 33 Jahren. Dass die Autorin über die mythische Stilikone hinaus auch auf die Politikerin Eva Perón blickt und ihr Lebens als "Lehrstück für das Handeln von Populisten" bis in die Gegenwart begreift, macht das Buch für Bauer jedoch erst so richtig einschlägig. "Einmal begonnen, legt man das Buch nicht mehr aus der Hand", versichert auch Eva Karnofsky in ihrer Radiorezension im SWR.

Jakob Hessing, Verena Lenzen
Sebalds Blick
Wallstein Verlag 2015, 264 Seiten, 24,90 Euro



Die Germanisten Jakob Hessing und Verena Lenzen haben für ihre gemeinsame Studie die beiden Wirkungsfelder W.G. Sebalds untereinander aufgeteilt: Hessing nimmt sich die akademischen und essayistischen Werke des 2001 gestorbenen Literaturwissenschaftlers vor, während Lenzen auf das literarische Schaffen des Schriftstellers und dabei insbesondere sein als Meisterwerk gefeiertes letztes Buch "Austerlitz" blickt. Einen besonderen Fokus legen beide dabei auf die Sebaldsche Wahrnehmung des Judentums. Michael Krüger (FAZ) sieht Sebalds Werk danach mit anderen Augen und lernt etwa, welche Motive Sebald zu seiner Kritik an seinem Dissertationsgegenstand Alfred Döblin bewegten, oder auch, akribisch gefasst in Lenzens 541 Fußnoten zum Werk, was es mit Sebalds Quellen und ihren Verknüpfungen auf sich hat. So viel Lust auf ein Primärwerk verspürt der Rezensent nach dem Lesen einer literaturwissenschaftlichen Arbeit nur sehr selten.

Wolfgang Behringer
Tambora und das Jahr ohne Sommer
Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte
C. H. Beck Verlag 2015, 398 Seiten, 24,95 Euro



Rezensent Burkhard Müller wundert sich in der SZ, dass vom größten bisher je gemessenen Vulkanausbruch bisher so wenig bekannt ist. Umso dankbarer ist der Kritiker, dass Wolfgang Behringer nun ein instruktives Buch über den Ausbruch des Tambora auf der Insel Sumbawa im Jahre 1815 geschrieben hat. Interessiert liest der Rezensent nicht nur von den unmittelbaren Folgen des Ausbruchs, bei dem allein sechs Fürstentümer ausgelöscht wurden, sondern auch von den zahlreichen verheerenden Spätfolgen, die auch andere Rezensenten für mögliche Folgen des Klimawandels sensibilisieren - der Ausbruch des Tambora hatte in der Tat politische Auswirkungen auf der ganzen Welt, auch wenn sie ihm nicht unmittelbar zugeordnet werden konnten. Wired brachte in einem sehr interessanten Hintergrundartikel die Fakten zum Ausbruch, der unmittelbar über 70.000 Menschen das Leben kostete und mittelbar Hunderttausende.
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