Bücherbrief

Elegänse und Intelligänse

10.01.2015. Michel Houellebecq beschreibt die süße Lust der Unterwerfung, Cormack McCarthy die süße Lust am Mord, Rüdiger Esch den Düsseldorfer Quantensprung im Pop und Rana Dasgupta die postkoloniale Welt Delhis. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Januar.
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Weitere Anregungen finden Sie in den Büchern der Saison vom Herbst 2014, unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Herbst 2014, den Leseproben in Vorgeblättert, in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag" und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Michel Houellebecq
Unterwerfung
Roman
Dumont Verlag 2014, 280 Seiten, 22,99 Euro



Das letzte Cover von Charlie Hebdo vor dem Anschlag zeigte Michel Houellebecq als "Mage", also als Zauberer mit seherischen Gaben. Seine Prophezeiung: "2015 werden mir die Zähne ausfallen". Sie sind ihm nicht ausgefallen. Dafür musste er die Promotion für sein Buch absagen. Man hat zwar die Tendenz, den Anschlag auf Charlie Hebdo in einen inhaltlichen Zusammenhang mit "Soumission" zu bringen, aber was Houellebecq eher beschreibt als die Gewalt des Islamismus, ist die Stimmung des von der FAZ-Korrespondentin Michaele Wiegel disgnostizierten "ungemütlichen Defätismus", den bei weitem nicht nur Frankreich angesichts dieser Herausforderung empfindet. Obwohl der Roman in Deutschland erst am 16. Januar erscheint, ist er in den deutschen Zeitungen schon weithin besprochen. Die Provokation des Romans könnte gerade in der von Houellebecq beschriebenen friedlichen Zustimmung liegen, mit der sich Frankreich unter die Regierung eines "gemäßigten" Islamisten bringt, der immerhin Polygamie einführt und das Kopftuch für Frauen verpflichtend macht. Der Roman sei weder Satire noch Utopie noch beides zugleich, meint SZ-Rezensent Thomas Steinfeld und sieht darin durchaus eine Schwäche in der Konstruktion - aber vielleicht hat Houellebecq diese Schwebe auch gemeint. Jürgen Ritte bespricht den Roman in der NZZ und sieht Houellebecq ein weiteres Mal als "Seismograf seiner Epoche". Jens Jessen begreift ihn in der Zeit als ein Gedankenexperiment, Jürg Altwegg sieht in der FAZ Parallelen zur französischen Kollaboration mit den Nazis. Eins ist er allerdings nicht, da sind sich alle Rezensenten einig: Beleidigend für Muslime.

Cormac McCarthy
Ein Kind Gottes
Roman
Rowohlt Verlag 2014, 192 Seiten, 12,99 Euro



In seinem bereits 1974 erschienen, aber erst jetzt auf Deutsch vorliegenden Roman "Ein Kind Gottes" mutet Cormac McCarthy dem Leser mal wieder allerhand zu: der Protagonist ist ein Vergewaltiger, ein Serienmörder, ein Nekrophiler, die Handlung an Düsternis nicht zu überbieten. Das Genie des Autors beweist sich darin, dass daraus kein Splatter wird, sondern große Literatur, schwärmt Christoph Schröder (FR), für den McCarthy ein "begnadeter Stilist, ein virtuoser Maler" und "einer der unfassbarsten Schriftsteller der Welt" ist. Auch Thomas Leuchtenmüller (NZZ) bescheinigt dem Autor "phänomenale Sprachbeherrschung", während Gerrit Bartels im Tagesspiegel hervorhebt, dass dem Buch die seit seiner Entstehung vergangenen 40 Jahre kaum anzumerken sind. In der SZ lobt Christopher Schmidt insbesondere die Entscheidung, die Geschichte nicht in Form einer Fallstudie zu erzählen, sondern seinen Protagonisten als "ausgewildertes Raubtier" darzustellen.

Emmanuelle Bayamack-Tam
Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging
Roman
Secession Verlag 2014, 344 Seiten, 24,95 Euro



Als wütenden Aufschrei einer vernachlässigten Jugendlichen und Beschreibung ihres verzweifelter Versuchs, sich von der Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit ihrer Eltern zu befreien, beschreiben die Rezensenten mitgerissen und fasziniert Emmanuelle Bayamack-Tams Roman "Wenn mit meiner Unschuld nicht alles vor die Hunde ging". Carola Ebeling hebt in der taz besonders die "hochliterarische Sprache" hervor, das gekonnte Verweben von vulgärer und poetischer Sprache, wobei unter der schrillen, obszönen, bisweilen grotesken Oberfläche "pure Trostlosigkeit und gläserne Härte" zum Vorschein kommen, wie Georg Renöckl in der NZZ ergänzt. Für Lena Bopp (FAZ) gehört das Sittenbild der dysfunktionalen Familie Meuriant eindeutig zum Besten, was sie 2014 gelesen hat.

Heike Geißler
Saisonarbeit
Spector Books 2014, 270 Seiten, 14 Euro



"Kritik an den Verhältnissen mit den Mitteln der Selbstironie" verspricht der Klappentext von Heike Geißlers zwischen Essay und Reportage angesiedeltem Bericht aus dem Warenlager von Amazon. Die Rezensenten zeigen sich durchweg sehr angetan von Geißlers Vermögen, ihre Erfahrung ebenso persönlich wie politisch und sogar bisweilen poetisch zu schildern. Dass das Geschilderte weitgehend unspektakulär ist, erlebt Cornelia Geißler in der FR als wohltuende Entdämonisierung des Internet-Giganten: "Es gibt keine Folter, nur Kontrollen." Deprimierend ist die Arbeit trotzdem, und sie verweist auf das zerstörerische Potenzial, das jeder fremdbestimmten Arbeit innewohnt, wie Florian Kessler in der SZ hervorhebt. Im Freitag fühlt sich Jan Drees an die Tradition deutscher Arbeiterliteratur von Max von der Grün, Hans Dieter Baroth oder Erika Runge erinnert. Ein "großartiges, nachdenkliches Buch", meint Nils Kahlefendt im DLF.

Joachim Sartorius (Hg.)
Niemals eine Atempause
Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2014, 348 Seiten, 22,99 Euro



"Schlechte Zeiten für Lyrik" diagnostizierte Bert Brecht dem NS-Deutschland. Aber bringt nicht umgekehrt gerade die politische Krise bedeutende Lyrik hervor? Diesem Ansatz geht Joachim Sartorius in der Anthologie "Niemals eine Atempause" nach, die die politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts, vom armenischen Genozid über die Weltkriege bis zum Konflikt auf dem Balkan, anhand von Gedichten ins Auge fasst. Dabei erweist sich, dass die Lyrik besser als jede andere Textsorte imstande ist, wahrhaftig über Politik und Geschichte zu reden: So zeige ein Gedicht von Stefán Hördur Grimsson "mehr von den Schrecken des Vietnamkrieges als ganze Bibliotheken mit meinungsstarkem Agitprop", wie Michael Braun im Tagesspiegel feststellt. Zudem taugen viele der Gedichte als "Modelle für richtiges Verhalten", hebt Peter Praschl in der Welt hervor. Dass trotz des stattlichen Umfangs manches vermisst wird, der Feminismus oder überhaupt mehr weibliche Stimmen etwa, liegt in der Natur einer jeden Anthologie, sind sich die Rezensenten einig.


Sachbuch

Rana Dasgupta
Delhi
Im Rausch des Geldes
Suhrkamp Verlag 2014, 462 Seiten, 24,95 Euro



Als der englische Autor Rana Dasgupta Ende 2000 nach Delhi zog, wurde er von der Wucht der nordindischen 11-Millionen-Metropole beinahe überwältigt. In seiner Reportage untersucht der Autor, wie sich die Megastadt nach der wirtschaftlichen Öffnung Indiens im Jahr 1991 entwickelt hat und welche Kräfte sie gegenwärtig beherrschen. Wie es Dasgupta gelingt, mit seiner Mischung aus Interviewmaterial und literarischer Metaphorik dieses dynamische, komplexe System zu fassen zu kriegen, begeistert Michael Radunski (FAZ). Auch Thorsten Glotzmann zeigt sich in der SZ fasziniert, wenn er auch Dasguptas These, Delhi weise in die Zukunft der Welt, nicht recht glauben mag. Eher handele es sich um ein "Versuchslabor für eine postkoloniale Welt im Umbruch", schlägt die ebenfalls sehr eingenommene Sandra Hoffmann im DLF vor. In der FR berichtet Dasgupta im Gespräch mit Michael Hesse von seinen Recherchen.

Rüdiger Esch
Electri_City
Elektronische Musik aus Düsseldorf
Suhrkamp Verlag 2014, 459 Seiten, 14,99 Euro



Zwischen 1970 und 1986 war Düsseldorf die Welthauptstadt der elektronischen Musik, Bands wie Kraftwerk, Neu!, Harmonia und DAF bereicherten die Popmusik mit neuen Sounds und Ideen. Rüdiger Esch, als Mitglied der Krupps selbst Teil der Szene, ergründet in "Electri_City", warum diese musikalischen Innovationen ausgerechnet in Düsseldorf erfunden wurden: gingen hier rheinisches Laisser-Faire, Joseph Beuys sowie die ansässigen Werbe- und Modeindustrien in der Musik eine ideale Verbindung ein? Die Rezensenten lassen sich jedenfalls gerne in die Epoche versetzen, deren internationaler Einfluss hierzulande - Kraftwerk ausgenommen - noch sträflich unterschätzt wird, wie Gerrit Bartels im Tagesspiegel hervorhebt. Nur dass das Eschs oral history im Jahr 1986 endet, enttäuscht manche: für Julian Weber (taz) hätten House und Techno noch dazugehört, für Tobias Rapp (SpOn) geht die Popgeschichte Düsseldorfs nahtlos mit den Toten Hosen weiter.

Hazel Rosenstrauch
Congress mit Damen
1814/15: Europa zu Gast in Wien
Czernin Verlag 2014, 192 Seiten, 19,90 Euro

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Alle sind sie dabei auf Jean-Baptiste Isabeys berühmtem Bild von Wiener Kongress: Metternich, Hardenberg, Wellington und Talleyrand. Und wer fehlt? Genau, die Frauen! Hazel Rosenstrauch erinnert mit ihrem Buch an all die gastgebenden Damen der Wiener Hocharistokratie, die mitgereisten Fürstinnen und Mätressen, die mit ihrer Vor-, Hinter- und Schlafzimmerdiplomatie durchaus gewichtigen Anteil am großen Verhandeln hatten. In der SZ lobt Jens Bisky die Leichthändigkeit, die kluge Einschätzung und die schöne Sprache, mit der Rosenstrauch an all die libertären Aristokratinnen erinnert, die vom tugendhaften Bürgertum bald wieder ins Vergessen gedrängt wurden. In der Zeit meint Stephan Speicher, dass die hohen Damen zu jener Zeit eine Atmosphäre der Toleranz schufen, für die sich heute Coaches hoch bezahlen lassen. Im Deutschlandradio Kultur freut sich Stefan May über das Buch, das auch vom Spott über die Frauen berichtet, die eingeteilt wurden in "Elegänse und Intelligänse".

Liao Yiwu
Gott ist rot
Geschichten aus dem Untergrund
S. Fischer Verlag 2014, 352 Seiten, 21,90 Euro

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In seinen Gesprächsbänden porträtiert der Dichter und Schriftsteller Liao Yiwu immer wieder Menschen, die es offiziell in China nicht geben darf und denen er deshalb in großer Zahl im Gefängnis begegnete, während er selbst wegen seiner Gedichte inhaftiert war. In "Gott ist rot" porträtiert er Chinas Christen, erzählt von ihrem Glauben, ihrem Leben, ihrer Unterdrückung und tagtäglichen Schikanierungen. Im BR2 kann Niels Beintker kaum glauben, welche Wucht solch stille, zurückgezogene Menschen entfalten können. In der Welt ist Herbert Wiesner von der Aufrichtigkeit und Ehrerbietung beeindruckt. In der FAZ liest Raphaela Schmid ebenso erschüttert wie fasziniert die stets mit großer Sprachgewalt erzählten Geschichten. In der NZZ erscheint Katharina Borchardt zwar Liao Yiwus Blick auf das Christentum zu allzu positiv, doch lernt sie in diesem Buch tatsächlich viel über seine Stärken. Allerdings hätten sich alle Rezensenten ein gewissenhafteres Lektorat gewünscht.


Mariana Mazzucato
Das Kapital des Staates
Eine andere Geschichte von Innovation und Wachstum
Antje Kunstmann Verlag 2014, 320 Seiten, 22,95 Euro

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Auch liberale Staatsskeptiker werden dieses Buch von Mariana Mazzucato mit Gewinn lesen, versichern die Rezensenten, denn die in Sussex lehrende Ökonomin beschreibt darin, welchen Anteil staatlich geförderte Wissenschaft, Grundlagenforschung und Investitionen an den ökonomisch revolutionären Entwicklungen der Neuzeit hatten: Eisenbahnen, Pharmazie, erneuerbare Energien oder das Internet hätte es ohne staatliche Anstöße nie gegeben. In der SZ findet Caspar Busse Mazzucatos Analysen durchaus überzeugend, auch wenn sie die Leistungen von Unternehmern wie Steve Jobs zu gering einschätze. In der Zeit zeigt sich Mathias Greffrath geradezu begeistert von der "kreative Zerstörungskraft", die er dem Staat gar nicht zugetraut hätte. In der taz gibt es ein Interview mit der Autorin, in dem sie die wirtschaftliche Stärke Deutschlands auf sein "Innovationsökosystem" zurückführt und Fraunhofer-Institute für Griechenland fordert.